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Wald der Monster

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Mariusz Lazar nahm eine weitere Wachskerze aus seinem Juterucksack. Er hatte kurz zuvor ein kleines Lagerfeuer entfacht, um sich daran zu wärmen und den Docht einer neuen Kerze zu entzünden. Eine Messinglaterne stand zu seinen Füßen. Tief einatmend und voll Zuversicht schaute er sich in der Dunkelheit um.

Vor gut einer Stunde war er aus seinem Heimatort Râznovi aufgebrochen, mit diesem Wald als Ziel; diesem verwunschenen Wald, von dem schon etliche Generationen vor Ende des 16. Jahrhunderts bloß schaudernd als Wald der Monster zu sprechen wussten. Am Fuße Râznovis, eine viele Kilometer messende Senke durchziehend, lag jener angeblich vom Bösen heimgesuchte Bereich. Keine Geschichte war haarsträubend genug, als dass sie nicht im Wald der Monster geschehen wäre. Reisenden riet man von jeher die längere Route an der Senke vorbei zu nehmen, und auch unter den Händlergilden verzichtete man auf die Durchquerung des übel beleumdeten Gebietes, selbst wenn dies zeitaufwendiger und kostspieliger war. Jene Wenigen, die kühn genug gewesen waren, den Wald bei Tag zu betreten, berichteten stets wie verhext von seiner sowohl faszinierenden wie auch ehrfurchtgebietenden Flora. Während niemals jemand etwas von Tieren erwähnte, so wusste man doch Geschichten von reißenden Wildbächen, hochaufragenden Felsformationen und glitschigen, moosbedeckten Steinhängen in den Schatten uralter Bäume zu erzählen.

Es sollte bemerkt werden, dass von jenen, die den Wald, sei es aus Unglauben oder aufgrund einer Mutprobe, betreten hatten, viele nicht zurückkehrten und fortan zu den Verschollenen gezählt wurden. Diejenigen, die meist schon nach kurzer Zeit den Weg zurück nach Râznovi fanden, waren ihren eigenen Aussagen nach stets durch eine unsichtbare Kraft, ein schwer zu beschreibendes Monstrum oder eine große Furcht dazu gezwungen worden. Niemand hielt es lange in diesem Wald aus, und schlimmer noch, Menschen verschwanden nach wie vor spurlos in ihm. Was war der Grund für jene anhaltenden Ereignisse, die das ohnehin abergläubische Gerede in höchstem Maße anfeuerten? Wie schnell konnte man sich in einem solch tiefen, zugleich schlecht erforschten Waldgebiet wohl verlaufen? Man stimmte in jedem Fall darin überein, dass der Wechsel der Jahreszeiten sich auf den Wald der Monster nicht sonderlich auswirkte und das an jeder Stelle des weiten Gebietes eine feuchte Kühle zu spüren war, die in Form eines feinen Dunstes vom Erdboden aufstieg. Bemerkenswert mutige Gesellen hatten es gewagt, für kurze Zeit die alten improvisierten Wege zu verlassen, die den Monsterhort in alle Himmelsrichtungen durchzogen. Auf jenen waren bereits Römer und Osmanen einher gezogen, und auch sie hatten die Aura des Unheimlichen gekannt, die das sagenhafte Areal mit seinen hochaufragenden, ebenso knochigen wie massiven Baumriesen umgab. Die Kronen mancher Bäume waren derart dicht und gewaltig, dass sie dem Tageslicht den Einlass verwehrten, während abseits der Wege angeblich zahlreiche Wunder und Merkwürdigkeiten auf mutige Entdecker warteten. Ein junger Hufschmied berichtete einst aufgeregt davon, in der bereits einsetzenden Dämmerung auf eine unnatürliche Fülle von Fuchskraut gestoßen zu sein. Diese giftigen Pflanzen seien von nie zuvor gesehener Größe und Schönheit sowie säuberlich entlang winziger Trampelpfade, einer Plantage gleich, aufgereiht gewesen. Als er jenem merkwürdigen Stillleben ansichtig wurde, habe er natürlich sofort die Beine in die Hand genommen, kannte er doch bereits genug Sagen über das kleine Volk und seine gärtnerischen wie auch magischen Fertigkeiten.

Es waren solche Geschichten, die Mariusz und seine vier jüngeren Brüder von jeher zum Schmunzeln brachten. Es war immer wieder verblüffend und ernüchternd zugleich, wie eine offenbar banale Angelegenheit nur aufgrund ihrer Umgebung und der damit verbundenen Erwartung des Beobachters allerlei unheimliche Befindlichkeiten und irrationalen Verhaltensweisen hervorrufen konnte. Gerne beobachteten die Wohlsituierten mittels moderner optischer Instrumente das vermeintlich verfluchte Areal. Sie versuchten dann von den Balkonen der Fachwerkhäuser aus, die am Rand der sich darunter erstreckenden Senke errichtet standen, einem der ominösen Zauberwesen ansichtig zu werden, welche sich im Inneren des Waldes herumtreiben und diesen sogar im großen Stil bewohnen sollten. Mit diesem Verfahren kam man jedoch nicht weit, und die Dinge, die man zuweilen zu sehen glaubte, besaßen zu sehr die Qualität einer Fata Morgana, als dass sie handfeste Aussagen über die Natur des Waldgebiets und seiner mutmaßlichen Bewohner zugelassen hätten. Es waren nämlich nicht bloß die titanische Vegetation, die düsteren Abgründe, Moore und kalte, von Moos überwucherte Felsformationen, welche die Furcht vor dem Wald der Monster begründeten, nein, wie der Name bereits vermuten ließ, wussten die Legenden das wunderliche Gebiet mit allerlei sagenhaften Geschöpfen zu bevölkern. Unter einer alten Eiche sollte angeblich eine ganze Schar blasser, übelgelaunter Dryaden hausen und Vorbeiziehenden auf das Übelste mitspielen. Minotauren, Satyrn, Kobolde sowie ganze Legionen von Teufeln und Dämonen sollten die unzählbaren Verstecke innerhalb des Waldes ihr Eigen nennen, besetzt halten und von ebendort aus zuschlagen.

Das Gebiet bei Tag zu durchqueren war bereits nicht frei eines Risikos, doch bei Nacht war ein derartiges Unterfangen gewiss lebensgefährlich! Dann rauschte die wilde Jagd durch die dichten Baumkronen und Harpyien scheuchten von Hexen gezeugte Wechselbälger über den von altersknochigen Wurzeln und vielerlei Gestrüpp überwucherten Waldboden, während am Rande eines unauslotbaren Sees ein einsamer Wassermann seine Traurigkeit mit dem kalten Griff nach den Waden eines armen Handelsreisenden zu überkommen suchte. Wollte man die Seelen derer zählen, die auf eine solche oder ähnliche Weise unfreiwillig aus dem Leben geschieden waren, es wäre ein aussichtloses Unterfangen gewesen. Zumindest dann, wenn man der offiziellen Lesart des Phänomens Glauben schenken mochte.

Mariusz war heute Nacht jedoch aufgebrochen, diesem Spuk ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Diese Schauergeschichten lähmten seine Mitbürger schon seit Ewigkeiten, und er konnte es kaum ertragen, wie derartige Einfältigkeiten trotz des immer stärker aufflammenden Lichtes der Aufklärung nicht aus der Welt zu schaffen waren; er musste es also selbst in die Hand nehmen. Wie so oft würde auch jetzt die Tat eines Einzelnen eine große Masse von Schlafenden wecken und befreien. Nicht umsonst zierte das von einer prachtvollen Eule geschmückte Wappen seiner altehrwürdigen Sippe von Medizinern, Notaren und Erfindern die glorreiche Devise:

»Kein Fortschritt ohne Opfer.«

Schon als Kind faszinierte ihn der Wald der vermeintlichen Monster mehr, als er ihn fürchtete, und auf eine subtile Weise wusste er sein zukünftiges Schicksal untrennbar mit ihm verwoben. Mariusz kannte so gut wie jede Legende zu dem Thema und er hatte sogar Schriften aus alter Zeit studiert, um darin Verweise auf das verwunschene Gebiet zu finden. Doch für all das musste es natürlich eine logische Erklärung geben. Für sein Volk und die Menschheit im Allgemeinen wünschte sich Mariusz ein Zeitalter des Lichtes, frei von dem dunklen, kindischen Aberglauben aus den muffigen Katakomben der Vergangenheit und den ererbten Denkmustern frühster Vorfahren. Er plante also, die Nacht im Wald wandernd zu verbringen und am nächsten Morgen erneut am Tor von Râznovi aufzutauchen. Dort musste er dann, bevor man ihm Einlass gewähren würde, dreimal auf ein von Vater Dumitrescu gesegnetes Stück Silber klopfen und das Zeichen des Kreuzes schlagen. Andernfalls konnte man nicht sicher sein, ob nicht eine der Nachtkreaturen seinen Leib geschändet und eine Art Wiedergänger den Weg zurück in den Ort gefunden hatte; dies war natürlich seine geringste Sorge. Mariusz wollte gar nicht erst über die anderen unsinnigen Theorien nachdenken, die sich auf sein prophezeites Schicksal bezogen. Er musste laut lachen und in seinem Inneren machte sich eine freudige Erwartung breit, dachte er an die erstaunten Gesichter der naiven Dörfler, sollte er seine Aufgabe erfolgreich zu Ende bringen. Von hier aus zurückblickend konnte er in einiger Entfernung schwache Lichter am Hang über der Senke erkennen, und er spürte, dass ihn in dieser kühlen Nacht mehr als messbare Distanzen von seinem Heimatort, von seiner Familie trennten. Nachdem er also die brennende Kerze im Inneren seiner Laterne fixiert hatte, befestigte er die Feuerstelle mit einigen Steinen und machte sich auf den Weg. Er ließ das Feuer brennen, denn so würde er das Risiko sich zu verlaufen zumindest etwas minimieren können. Nur von Zeit zu Zeit schien der abnehmende Halbmond durch eine dichte Wolkendecke, das Laternenlicht musste vorerst genügen.

Gehüllt in einen fellgefütterten, ledernen Kutschermantel mit einem bis über die Ohren stehenden Kragen, trug Mariusz auf dem Kopf ein Dreispitz. Ein Paar beschlagene Reitstiefel mit breitem Wulst sollten seinen Füßen derweil Halt auf dem unebenen Grund verleihen, während altersgegerbte Fingerhandschuhe ein wenig gegen die Kälte halfen. Sicher, beweglich war er in dieser Montur nicht, aber er nahm auch nicht für einen Moment an, dass von ihm Eile verlangt werden könnte. Für unwahrscheinliche Notfälle führte er heimlich, ohne dass es einer der Dörfler hätte bemerken können, eine Steinschlosspistole und Zubehör in einem unter dem Mantel verborgenen Holster mit. Für einen Herrn seines Standes war dies gewiss keine alltägliche Bekleidung, doch handelte es sich hier immerhin um eine Notwendigkeit, und Mariusz war stets Pragmatiker gewesen. Gemächlich trottete er also den Waldweg entlang. Trotz des hohen Kragens drang kalte Luft spürbar in seine Lungen. Das Gefühl verstärkte sich, als er zur Rechten einen kleinen Wasserfall passierte. Ein Wildbach war zu hören, und wenn der Notar seine Laterne in Richtung des Geräusches hob, spiegelte sich ein Teil des Lichtes auf der sich kräuselnden Oberfläche vermutlich eiskalten Wassers, wie es seinen Weg auf ungezähmten Bahnen durch die Dunkelheit nahm. Doch er musste seine Laterne auf den unebenen Pfad gerichtet halten, wollte er nicht stürzen. Dieser war breit genug, dass zwei Personen bequem nebeneinander hätten gehen können, jedoch dermaßen uneben, dass eine Kutsche ihre wahre Not gehabt hätte.

Einige Zeit war vergangen, und Mariusz schlenderte nach wie vor unbeeindruckt vorwärts. In diesem Moment dachte er an den vermeintlichen Umstand, dass angeblich keine Tiere im Inneren des dichten Waldgebiets existierten. Diesen fand er nun bestätigt, ja, in all der Zeit war kein einziges animalisches Geräusch zu vernehmen gewesen; weder das Flattern einer aufgescheuchten Eule zwischen den Bäumen noch das Brechen von Stock und Stein unter der rasanten Flucht eines Rehs. Die Stille wirkte beruhigend, und auf eine magnetische Weise brachte sie Mariusz dazu, so tief in sie hinein zu lauschen wie er nur konnte. Strengte er sich an, so konnte er das schwache Plätschern des mittlerweile fernen Baches hören, aber auch den ein oder anderen Wassertropfen, wie er leise von einem knochigen Baum auf einen von kaltem Nebel umspielten Stein schlug. Ebendiese Situation negierte doch alle potentiellen Unheimlichkeiten. Würde hier irgendwo ein ziegenbeiniges Ungetüm harfespielend durch die Gegend hüpfen, oder ein vergessener Zyklop seine mächtigen Pranken recken, man würde solch eine Unwahrscheinlichkeit doch meilenweit hören und wäre somit gewarnt. Ein flüchtiger Gedanke an die tatsächliche Schrecklichkeit des imaginären Harfenspiels in der Nachtlandschaft wurde von Mariusz rasch in unbewusste Teile seines Verstandes verbannt. So fuhr er für einige Zeit fort, die Stille umgarnend und den Schein seiner Laterne auf den Weg richtend. Zu seiner Rechten kamen nun einige hohe Basaltsteine ins Blickfeld; teils ragten sie aus einem See, teils standen sie an Land und wurden von kaltem Nebel umspielt. Mariusz Atem verband sich auf spielerische Weise mit diesem und löste sich geschwind an der glatten Oberfläche der Basaltsäulen auf. Der Weiher vor ihm lag ebenso still wie majestätisch dar und der Wanderer stellte seine Laterne auf einem der Steine ab.

Er wollte etwas essen, denn er merkte, wie ihm die Kälte zu schaffen machte. Eine in Tuch verpackte Schweinshaxe sollte vor dieser schönen Kulisse sein Mahl sein, und er brachte sie begierig aus dem Rucksack hervor. Während der Abenteurer genüsslich in das gebratene Fleisch biss und die Gegend um sich herum zufrieden musterte, mit den Augen dabei immer wieder auf den beinahe figürlich wirkenden Baumstämmen und moosbewachsenen Steinformationen verweilte, hörte er plötzlich ein lautes Platschen. Es unterschied sich von den Geräuschen des Wassers, die er bereits um sich herum wahrgenommen hatte und die, wenn man sich ihnen hingab, beinahe wie eine sphärisch prasselnde Symphonie klangen. Dieses neuerliche Geräusch war indes um einiges lauter gewesen, schwerer, so als habe sich ein Fisch in dem ansonsten stillen See ungestüm geregt. Mariusz behielt einen Bissen im Mund und griff mit seiner behandschuhten Rechten nach der Laterne. Die Schweinshaxe steckte er instinktiv in eine der tiefen Taschen des Kutschermantels und hielt den Keulenknauf der mitgeführten Waffe fest umgriffen. Als er sein Licht vorsichtig in Richtung des Geräusches hielt, weiteten sich seine Augen vor Schreck. Auf der eben noch ruhigen Wasseroberfläche erkannte er die schwindenden Umrisse eines großen Kreises sowie unzählige kleine Luftblasen, die sich rasant zu sammeln begannen. Mariusz wich entschlossen zurück. Warum reagierte er auf diese Weise, konnte denn nicht ein Fisch in diesem vermutlich tiefen Teich hausen? Aber solch ein großer? Egal, er vollzog ein paar hektische Schritte rückwärts und wäre dabei fast über die Ausläufer einer knochigen Wurzel gestolpert. Der Wanderer besann sich, drehte sich geschwind um und ging unbeirrt auf dem Weg weiter, fort von jenem gespenstischen Teich und den merkwürdigen Basaltsäulen. Die nächsten Minuten verbrachte er angestrengt lauschend und zügigen Schrittes. Als er in weiter Entfernung das Platschen erneut hörte, wusste er, dass er einige Distanz zwischen sich und den Weiher gebracht haben musste.

War er ehrlich, so musste er sich eingestehen, dass seine Gedanken kurzfristig von ebenjenen dunklen Phantomen durchstreift worden waren, über deren vermeintliche Existenz er bisher nur lachen konnte. Was, wenn die Tentakel eines vorsintflutlichen Seeungeheuers plötzlich aus dem See hervorgeschnellt wären und ihn, den furchtlosen Notar aus Râznovi, ergriffen und in lichtlose Abgründe hinabgezogen hätten? Was, wenn die unzähligen Blasen an der Wasseroberfläche auf den aufsteigenden Leib eines übelgelaunten Nöck hindeuteten, der seiner Spur folgend nun auf der Jagd nach ihm war, begierig auf warmes Menschenfleisch? Er hatte doch in einem alten Kräuter- und Sagenbuch mal von einem Abwehrzauber gelesen, der in solchen Fällen aufgesagt … Nein, in all der Stille begann Mariusz zuerst leise in sich hinein und dann enthemmt laut aufzulachen. Es war alles in bester Ordnung, welch unsinnige Gedanken wollten ihn verwirren? Kurzzeitig war er der beste Beweis dafür gewesen, dass das Ambiente und Umstände wie Nebel, Dunkelheit und Kälte einen großen Einfluss auf die Beurteilung einer Situation haben konnten. In diesem Fall auf das harmlose Springen eines Fisches vor einer gespenstischen Kulisse im Wald der Monster. Mariusz erinnerte sich der soeben hastig verstauten Schweinskeule und brachte selbige hervor. Während er sie endlich verspeiste und ihre Knochen sodann einen tiefen tannenbestandenen Abhang hinunterwarf, der sich zu seiner Rechten auftat, entschied er sich, ein weiteres Lagerfeuer zu entfachen. Er hatte von dieser Möglichkeit bisher selten Gebrauch gemacht, doch musste er ohnehin die Laternenkerze ersetzen. Während er mithilfe des trockenen Holzes und einem Feuerstein aus seinem Rucksack einen kleinen Brand entfachte und eine neue Kerze daran entzündete, dachte er an die historischen Studien, die er mit Bezug auf diesen Wald angestellt hatte. Einen Teil der benötigten Unterlagen hatte er von einem hilfsbereiten Geistlichen bezogen, der Zugriff auf ein großes Archiv historischer Kirchenunterlagen und Chroniken besaß. Darunter befanden sich Aufzeichnungen aus der Zeit, als die Römer jene Lande durchzogen und sie in ihr stetig wachsendes Imperium Romanum eingegliedert hatten.

Mariusz musste die Berichte unzählige Male gelesen haben, so sehr faszinierten ihn die merkwürdigen Erzählungen. Er warf die Reste der aufgebrauchten Kerze in das improvisierte Lagerfeuer und passte die neue in die Laternenfassung ein. Schon nahm das warme Licht um ihn zu, und er tat einen Schritt in Richtung des tannengesäumten Abgrundes. Die Tiefe des Schlundes war von seinem geringen Kerzenschein nicht ansatzweise zu erhellen, und während ein kühler Windhauch aus der Dunkelheit aufstieg, beobachtete der Abenteurer seine Gedanken, wie sie zurück zu einer jener alten Schriften aus dem Skriptorium wanderten. Was wäre, wenn ihm nun ein heller Schein aus der Tiefe entgegenstrahlen würde? Ein Licht wie aus dieser merkwürdigen Geschichte, die er beinahe auswendig kannte:

»Mein Name ist Gaius Flavius Sempinus, Soldat unter Marcus Ulpius Traianus, und zur Zeit jener Ereignisse, deren Niederschrift hier erfolgt, Primus Pilus einer Einheit in den östlichen Gebieten des Reiches. Es war kurz vor meinem Dienstende in der Legion, als ich ein Manipel junger Rekruten auf einem Kontrollgang durch ein verwunschenes Stück Land anführte. Die Segnungen des Kaisers hatte hier noch nicht lange gewirkt, und der primitive Aberglaube der bäuerlichen Bevölkerung sprach von jener bewaldeten Senke, dem Ziel unsere Patrouille, nur unter Anrufung unbekannter Götzen. Nachdem einige römische Händler in diesem Wald verschwunden waren, gingen wir davon aus, dass eine Gruppe von Räubern sich in dem schwer zugänglichen Gebiet versteckt halten musste. Meine Berufserfahrung sollte helfen, den Rückzugsort der Barbaren schleunigst ausfindig zu machen und ihn mit Eisen und Feuer auszumerzen.

Wir brachen in den frühen Morgenstunden unter den Nonen des Quinctilis auf, und waren uns sicher, würden die unwahrscheinlichen Behauptungen der Einheimischen zutreffen und wir uns bald einem mythischen Ungeheuer gegenübersehen, Mars würde über uns wachen und unsere Kampfeslust auch im Angesicht der schrecklichsten Bestie bloß noch weiter anfachen. Bis zum Mittag trafen wir weder Mensch noch Tier an, lediglich eine allesumfassende Stille war zu bemerken, so dass ein jedes Rüstzeug meiner Schar sich mit einem klappernden Ton bemerkbar machte. Trotz des warmen Tages, waren wir von einer unentwegt vom Erdboden aufsteigenden Kühle umgeben. Die Vegetation war grob und ungezähmt, nicht vergleichbar mit der lieblichen Landschaft der Heimat. Gegen Abend, wir hatten soeben ein weitläufiges, von großen Findlingen flankiertes Moor passiert und befanden uns dabei, eine Rast einzulegen, ereignete sich jenes Mirakel. Der Signifer hatte das Feldzeichen an eine moosbewachsene Felswand gelehnt; er selbst verspeiste soeben seine Ration, als hinter ihm ein aufgeregtes Gemaule und Scheppern hörbar wurde. Urplötzlich drang ein grell weißes Licht aus einer zuvor unscheinbaren Felsspalte, gefolgt von einer Gestalt. Der Signifer brachte das Feldzeichen geistesgegenwärtig in Sicherheit und meine Männer formierten sich zügig, Scuta und Pila in Richtung der merkwürdigen Erscheinung gerichtet, von deren Stirn ein grelles Feuer wie ein Zyklopenauge gleißte. Die Gestalt plapperte, gestikulierte unbeherrscht. Sie schien uns noch nicht bemerkt zu haben, doch als sie es tat, fasste sie sich an den Kopf und der blendende Lichtstrahl verschwand.

Nun konnten wir klarer sehen. Offenbar handelte es sich um einen Mann. Er überragte die meisten Legionäre um einen Kopf, doch war er nicht von herkulischer Erscheinung; eher dicklich und bloß geringe Körperkraft ausstrahlend. Den Mittelpunkt seiner Macht schien das lidlose Auge in der Stirnmitte zu bilden. In der Linken trug er eine schwarze Schachtel, mit der er zuvor einen Monolog geführt hatte. Gewiss war er kein Räuber, und ja, solch einem Mensch war ich noch nie ansichtig geworden, obschon mein Dienst mich in die entferntesten Provinzen des Reiches geführt hatte. Seine Kleidung bestand aus mehreren dünnen Lagen, zudem war sie bunt, viel zu bunt, um im in der Wildnis unbemerkt zu bleiben. Vielleicht war er von irgendwo unter der Erde heraufgestiegen? Mittlerweile hatte er sich gefasst und seine Überraschung über die ihm entgegen gestreckten Waffen überwunden. Er schnaubte, stütze seine Hände auf die Knie, begann daraufhin unverschämt zu lachen und mit der Rechten abzuwinken. Er ahnte nicht, dass sich bereits ein paar meiner Legionäre von oberhalb, entlang der Felsklippe, vorsichtig in seinen Rücken bewegten. Der Fremde trat vor, wild gestikulierend schwadronierte er in einer unverständlichen groben Sprache und deutete dabei nervös auf die schwarze Kiste in seiner Hand. Während er so herumfuchtelte konnte ich einen Blick auf seinen Rücken werfen. Mit welchen Kräften auch immer dieser Zauberer in Verbindung stand, sie oder die Götter hatten ihn mit einem Makel geschlagen. Vielleicht war dies das Opfer, das er für die Macht über das Feuer bringen musste. Seine Rückseite wies einen besonders hässlichen Fortsatz auf, der ebenfalls mit grellem Stoff bekleidet war. Sein unverschämtes Lachen, das undiszipliniertes Gehabe und jener groteske Buckel erregten meinen Zorn. Fragend blickte ich zu meinem Optio Julianus hinüber. Ich wusste, dass er nicht nur ein fleißiger Verehrer der Gottheiten war, sondern auch von Kulten und Dingen Kenntnis besaß, die zu Zeiten vor dem ehrwürdigen Jupiter und seinen Kindern Anbetung genossen; damals hatten die Götter noch nicht die Form von Menschen angenommen. Doch Julianus zuckte nur nervös mit den Schultern. Langsam aber sicher wurde mir die Situation unangenehm, die ersten Legionäre blickten unstet drein, ihre Waffen weiterhin aggressiv in Richtung des Fremden gerichtet. Soeben wollte ich auf den buckligen Dreiäugigen zugehen, als er mit einem Griff zum Kopf das Gorgonenlicht erneut entfachte. Geblendet wich ich zurück, während der Zauberer das rauchlose Feuer durch die Reihen der aufgebrachten Männer fahren ließ. Die vorbildliche Reaktion eines aufmerksamen Auxiliars auf dem Felsen über ihm beendete den Spuk so schnell wie er begonnen hatte. Ohne zu zögern warf dieser sein Pilum in Richtung des Geisterlichtes und durchbohrte den ungepanzerten, buckligen Hexer von der Schulter bis zur Hüfte. Lautlos brach er in sich zusammen, doch sein Licht erstickte nicht.

Um den Zauber abzuschütteln, rieb ich mir durch das Gesicht und befahl daraufhin meinen Männern, zurückzubleiben. Vorsichtig ging ich auf den Niedergestreckten zu. Sollte sich noch Leben in ihm rühren, der Wurfspieß würde ihn gewiss am Boden halten. Ich packte das Haupt des Toten rasch, trennte es mit dem Gladius sauber ab. Sein Blut war so rot wie das eines jeden Sterblichen, und unter den Triumphrufen der Legionäre hielt ich die Trophäe in die Höhe, wodurch der geheimnisvolle Lichtstrahl die dichten Baumkronen erhellte. Ich zitierte den Optio herbei. Die Angelegenheit war ihm sichtlich unangenehm, er sprach von einem bösen Omen! Möglicherweise würde ein Gott nun eines seiner Kinder vermissen, und Götter sind bekannt dafür, an den Sterblichen bereits für geringere Frevel hemmungslos Rache zu üben. Ich gebot dem Furchtsamen Einhalt und tadelte seinen Unglauben, demnach er so bedenkenlos jenen enthaupteten, unheroischen Toten in die Reihen der Halbgötter aufzunehmen bereit war. Wir untersuchten den Leichnam, wobei sich herausstellte, dass der Buckel eine Art Vorratsbehälter war, gefüllt mit eigentümlichen Speisen. Einen Apfel erkannten wir, der Rest gab uns Rätsel auf. Der Optio riet genervt vom Verzehr der vermeintlichen Opfergaben ab, derweil ich mir sicher war: die Strafe der Götter hatte den dunklen Zauberer in unsere Richtung geführt. Hier traf er auf römischen Stahl, der seinem lästerlichen Leben ein gerechtes Ende bereitete. Auch die merkwürdige schwarze Kiste, möglicherweise die Behausung eines ihm hörigen Lares, war durch den Aufprall zerstört worden. Während all der Zeit strahlte das Licht aus dem Stirnauge des abgeschlagenen Kopfes und einige meiner Untergebenen traten näher, um in seinem geisterhaften Schein zu posieren und ihren Mut zu beweisen. Offensichtlich konnte es uns kein Leid zufügen, darüber hinaus war es von großer Hilfe auf dem Weg zurück zum Kastell, hatte die Dunkelheit doch bereits eingesetzt. Unter den wiederholten Siegesrufen der Krieger hielt ich die Kopftrophäe in die Höhe, gab dem Cornicen das Zeichen, und zum Laut des Hornes marschierten wir in geordneter Formation, mit dem magischen Relikt an der Spitze, hinaus aus jenem verwunschenen Wald.

Zurück im Feldlager mussten wir jedoch enttäuscht feststellen, dass die Geisterkraft gewichen war, derweil mich die mittlerweile hysterische Angst des Optio amüsierte. Gemeinsam hatten wir auf vielen Schlachtfeldern gedient, doch so besorgt hatte ich ihn noch nie erlebt. Für ihn bestand kein Zweifel, die Götter oder Schlimmeres würden nun auf dem Weg sein, um den Tod und die Schändung ihres Abkömmlings zu rächen. Es half auch nichts, als wir erstaunt jenes elastische Band entfernten, das als Zierrat den Hexerkopf umgab, und feststellten, dass es sich bei dem daran befestigten Auge lediglich um eine Art Zaubertalisman handelte. Im Namen von Honos gebot ich Julianus nun endgültig Einhalt. Niemand würde uns irgendwelche Probleme bereiten, hatten wir den Leichnam doch unauffindbar im Moor versenkt. Jenes magische Kleinod ist bis heute in meinem Besitz, ich betrachte es gerne, erinnert es mich doch an eines der letzten Abenteuer im Dienste der Legion. Roma invicta!«

Mariusz atmete ein, als er den Blick von der Tiefe des Abgrunds löste. Auch in dieser antiken Geschichte war es die Tat eines mutigen Mannes, welche die Macht abergläubischen Unsinns brach und ermöglichte, jenseits der ignoranten Furcht auf etwas zu blicken, das diese zuvor auf so heimtückische Weise zu verbergen gesucht hatte. Was jener Römer und seine Gefolgschaft vor langer Zeit in diesem Wald tatsächlich gesehen hatten, konnte sich auch Mariusz nicht recht erklären, doch trat er nun vom Abgrund zurück, umfasste das soeben errichtete Lagerfeuer mit ein paar Steinen, zurrte die Gurte seines Rucksacks fest und marschierte guten Mutes den holprigen Weg entlang, weiter in die Dunkelheit. Wo auch immer er ging, wohin auch immer er trat, in welche dunkle Ecke oder zwischen welchen dunklen Felsvorsprung er seine Laterne auch hielt, nichts war zu finden, dass auch nur ansatzweise den fantastischen Erzählungen der Dörfler entsprach. Das Verschwinden so vieler Menschen im düsteren Wald der Monster war Grund genug, die Anwesenheit personifizierter Kräfte des Unheimlichen und gar vollends Bösen am Werk zu vermuten. In den etwas aufgeklärteren Gesellschaftskreisen hielt sich jedoch die Annahme, dass die vermissten Wanderer, Händler und Abenteurer in eines der uralten unterirdischen Tunnelsysteme eingebrochen sein mussten, die unter Râznovi und, wie manche meinten, überall in der Gegend und somit auch im Wald der Monster existierten. Diese Sonderbarkeiten konnten durchaus für manch einen der tragischen Vermisstenfälle verantwortlich sein, doch niemals war irgendeine um sie gesponnene Theorie in der Lage gewesen, die enorme Anzahl an Verschollenen plausibel zu erklären. Während Mariusz auf einem mit Geröll und trockenen Kiefernästen übersäten Serpentinenweg eine Anhöhe hinaufstieg, dachte er über die Bemühungen einiger Mönche und Ordensleute nach, viele der Eingänge in den Untergrund zu versiegeln oder in irgendeiner Weise unpassierbar zu machen. Stets verdammte die Kirche den heidnischen Aberglauben, der überall anzutreffen war, sie wusste ihn zugleich aber auch klug für ihre eigenen Absichten einzusetzen. Offiziell nahm sie die Sorgen der Bevölkerung, den Wald der Monster und seine möglichen Bewohner betreffend, nicht ernst, dennoch unterhielt sie eine kleine Gruppe von Zeloten, die bei Bedarf ausschwärmte und sich sodann damit befasste, einen jüngst entdeckten Zugang zur Unterwelt zu untersuchen, um ihn anschließend zu versperren. Zu diesem Zweck wurden eigens große Mengen an Steinen, Mörtel und Brettern herangeschafft, und in einem Fall, den Mariusz selbst in Augenschein genommen hatte, war der kaum ein bis eineinhalb Meter hohe Durchgang dermaßen verbarrikadiert worden, dass man ihn auf keine konventionelle Weise hätte durchbrechen können. Der Notar sah in diesen Winkelzügen der Kirche aber nicht mehr als einen Versuch, sichtbare Spuren einer vorchristlichen Kultur zu beseitigen. Wobei man es auch anders betrachten konnte …

Hatte man vielleicht berechtigte Sorge, dass etwas durch die Tunnelsysteme unbemerkt nach Râznovi oder in einen beliebigen anderen Ort hineingelangen könnte? Während sich der Wanderer fragte, wie weit der gewundene steinige Waldweg wohl noch nach oben führen würde, hörte er das sanfte Rauschen sich biegender Tannen. Von seiner aktuellen Position aus konnte er in einiger Entfernung das immer schwächer werdende Licht der zuletzt entzündeten Feuerstelle erkennen. Triumphierend blickte er auf ein dunkles Meer geschlossener Baumkronen, das er in den letzten Stunden auf mehr oder minder gespenstischen Pfaden erfolgreich durchquert hatte. Der abnehmende Halbmond blickte von Zeit zu Zeit hinter einer sich auflockernden Wolkendecke hervor, und Mariusz war sich sicher, die sogenannte Geisterstunde bereits hinter sich zu haben; in wenigen Stunden sollte zudem die Dämmerung einsetzen. Er wollte unbedingt diese Anhöhe besteigen und, oben angelangt, ein weiteres Lagerfeuer entzünden. Natürlich war ihm bewusst, dass ein Licht in solch einer exponierten Lage nicht lange verborgen bleiben konnte, doch diese Sorge nahm er bloß als das ordnungsgemäße Funktionieren seines wachen Verstandes wahr. Es gab keinen ernsthaften Grund zur Beunruhigung, und mit Ausnahme des Rauschens der hohen, sich wie Klauen über ihm und dem Serpentinenweg im Wind biegenden Tannen war nichts zu hören. Vorsichtig nahm der Nachtpilger den unebenen Weg weiter in Angriff. Von Zeit zu Zeit schnaufte er hörbar, die schwere Kleidung, der Rucksack und die fortgeschrittene Stunde machten ihm langsam zu schaffen, unterdessen sich seine Gedanken zu den Studien in den kirchlichen Schreibstuben und Archiven wandten. Er erinnerte sich an eine weitere sonderbare Begebenheit, von der diesmal ein osmanischer Geschichtsschreiber zu berichten wusste. Nur eine kurze Passage in einem längeren Text, aber wie Mariusz glaubte, zweifellos mit Bezug auf den Wald der Monster verfasst. Dieser Bericht gab Kunde von einem Offizier, der mit einer kleinen Gruppe Janitscharen von seiner Hauptstreitmacht getrennt und in die düstere Landschaft verschlagen worden war. Noch vor dem Scharfrichter beteuerte er unter Eid seine Aussage, dass die ihm Unterstellten allesamt innerhalb eines Wimpernschlags verschwunden seien. Im ersten Moment habe er ihre Schritte noch wahrgenommen, dann umgab ihn plötzlich eine gespenstische Stille, und als er sich verwirrt umdrehte, waren alle seine Krieger mitsamt Ausrüstung verschwunden. Er schwor, dass missgünstige Dschinn die verfluchten Wälder der Ungläubigen heimsuchten, seinen Kopf konnte diese Behauptung jedoch nicht retten. Für Mariusz war diese Geschichte ein klarer Hinweis darauf, wie unterschiedliche Kulturen unerklärliche Ereignisse stets mit den Geschöpfen ihrer eigenen Sagenwelt auszuschmücken wussten.

Eine letzte Wegbiegung und der mutige Abenteurer wurde für die Anstrengungen belohnt – der Wald der Monster lag ihm zu Füßen! Irgendwo dort hinten musste sich Râznovi befinden, sein Heimatort, in den er schon bald als Held und Bezwinger der Dunkelheit zurückkehren würde. Das Licht, das er trug, schien ihm nicht nur auf sichtbare Weise, nein er erkannte darin auch einen prometheischen Anklang. Die Anhöhe, die er soeben bestiegen hatte, war ein kleiner Berg mit hohen Tannen an seinem unteren Teil und einem felsigen Kamm in der Mitte. Die Wolken hatten den sternenüberzogenen Himmel nun endgültig dem Mond überlassen und so konnte dieser sein Licht ungehindert auf ein bis zum Horizont reichendes Meer aus dunklen Baumkronen, schroffen Felsen und plätschernden Wasserfällen werfen. Mariusz Lazars Nerven wurden von einem heiligen Schauder durchfahren, und während er dort stand, die vagen Landschaftsformen rings um die Anhöhe betrachtend, war er vollumfänglich zufrieden. Hätte er die Ängstlichkeit seiner Landsleute in sein Herz, in seinen Verstand gelassen, ihm wäre dieser erhebende Moment auf ewig verwehrt geblieben. Um seine von Kälte und feuchtem Nebel durchdrungenen Knochen zu wärmen, machte sich Mariusz daran, das geplante Lagerfeuer zu entzünden. Als er es angefacht hatte, bemerkte er, dass er es direkt vor einem zuvor im Dunkeln verborgenen Höhleneingang platziert hatte, der niedrig in das Innere des Felsenkamms führte. Der Nachtpilger leuchte die Höhlung vorsichtshalber aus; sie war glücklicherweise viel zu klein, um als Versteck für einen Bären zu dienen, und schien vielmehr eine Laune der Natur darzustellen. Immer wieder umkreiste er das Plateau der Anhöhe, um einen weiteren, neuen Blickwinkel auf den majestätischen Wald einzunehmen und zu genießen. In der Ferne erhoben sich andere bewaldete Hügel, während Unterbrechungen in der dichten Baumdecke auf felsige Schluchten oder weitläufige Wassergebiete hindeuteten.

Als er an das Lagerfeuer zurückkehrte und niederkniete, starrte er für einige Zeit in die Weite. Er musste es längst bemerkt, aber irgendwie nicht vollständig realisierte haben. Er war sich seiner Sache wohl zu sicher, und jene Seltsamkeit hatte gegenwärtig offenbar nicht in seine Vorstellung von Realität gepasst; aber als er zwischen den dunklen Bäumen in der Ebene unter sich fünf leuchtende Punkte erkannte, durchfuhr ihn ein beißender Schreck! Mariusz spürte diesen bis in die Zehen, und für einen Moment verkrampfte er sich. Er blinzelte, strich mit der rechten Hand ungläubig durch sein Gesicht und reckte sich nach vorn, als nehme er einem wilden Tier verwandt Witterung auf. Tatsächlich, dort sah er fünf leuchtende Punkte von gelborangener Farbe, vermutlich Laternen … Angestrengt versuchte er deutlicher zu sehen. Sie verharrten ganz offenbar an einer Stelle, und Mariusz überlegte, ob es sich nicht um stationäre Lichter handeln konnte, Fackeln vielleicht, die von anderen Wanderern zur Orientierung dort angebracht worden waren. Diese Überlegung wurde ein paar Sekunden später jedoch nichtig, und erneut durchfuhr den Notar ein Schreck, als die Erscheinungen auf einmal damit begannen, sich in Bewegung zu setzen. Bloß kurzzeitig gelähmt und in einem Strudel von Ideen gefangen, kam er rasch zu sich, erstickte das Lagerfeuer mit Erdreich und Geröll, schlug die Funken am Boden hektisch aus und verbarg seine brennende Laterne hinter einem hüfthohen Dornenbusch. Es war ihm natürlich klar, dass seine Position nicht unbemerkt geblieben sein konnte. Wer also auch immer dort unten unterwegs und nun dabei war, sich auf seine Position zuzubewegen, er wusste bereits von seiner Anwesenheit. Irgendetwas an der Art, wie sich jene Lichter verhielten, gefiel Mariusz überhaupt nicht. Vier von ihnen wackelten wild, hüpften grotesk, während die vorderste Lampe scheinbar von einem sehr großen Menschen getragen wurde, überragte sie die anderen doch bei weitem. Wie Lazar dastand und jene gespenstische Prozession beobachtete, nahm die Angst zu. Ob dies von der Eigenart der Bewegungen, oder von der bemerkenswerten Schnelligkeit, die jene Gruppe an den Tag legte, herrührte, spielte für ihn keine Rolle, und es schien zu gewagt, den Weg fortzusetzen, dessen Verlauf er ohnehin nicht kannte; zu hoch war das Risiko, dass die Fremden ihm übel mitspielen würden. Er war hier im Wald der Monster, da musste man mit allem rechnen, selbst wenn man nicht dazu bereit war, an übernatürliche Umtriebe zu glauben.

Da fiel Mariusz der Felsspalt ein, den er kurz zuvor inspiziert hatte. Ja, dieser sollte ihm Schutz bieten. Es durfte bloß niemand bemerken, wie er hineinging, und so nahm er die Kerze aus der Laterne, löschte sie und vergrub sie zügig unter Moos und Erdreich. Langsam tastete er sich mit der Rechten am Felsen entlang, bis die Hand ins Leere griff. Dann zog er seinen Kopf ein und schob sich geduckt in den Schutz der Felsöffnung; diese Position war schon besser. Er wollte es nicht auf eine Konfrontation mit den fünf Unbekannten ankommen lassen, da würde ihm auch die Steinschlosspistole nicht viel nutzen. Minuten vergingen und Mariusz’ Sinne waren damit beschäftigt, die Umgebung zu durchdringen. In diesen Augenblicken war die Stille abermals das vorherrschende Element, doch endete sie abrupt, als er Schritte den Berghang heraufkommen hörte. Der Umstand, dass die Fremden nicht die Serpentinenstraße nutzten, sondern scheinbar breit gefächert den Hang direkt in seine Richtung zu besteigen suchten, alarmierte Mariusz aufs Höchste; man rückte definitiv auf seine Position vor. Die Art der Schritte war sonderbar, es musste sich definitiv um mehrere Personen handeln, doch Stimmen blieben aus. Die Geräusche rutschenden Erdreichs und brechenden Unterholzes nahmen zu, und unter dem Ansteigen des Lärmpegels, wuchs Mariusz’ Furcht. Schaudernd drückte er sich tiefer in die Dunkelheit. Zu seinem Glück bemerkte er nun, dass das Versteck nicht bloß nach ein paar Metern im kalten Fels endete. Während er mit der freien Hand am feuchten Gestein der Höhle entlangtastete, gewann er das Gefühl für eine Art Gang, der in die Tiefe des Berges zu führen schien – das musste seine Rettung sein! Draußen wurde es lauter, jene Nachtphantome mussten jeden Moment seinen Lagerplatz erreicht haben. Mariusz stürzte im Dunkeln voran, das Laternengehäuse schlug gegen die schroffen Felswände, er selbst stolperte mehr als einmal über seine eigenen Beine, und dabei bemühte er sich angestrengt, den Dreispitz auf dem Kopf zu behalten. Der schwere Mantel dämpfte manchen Aufprall, und der Verzweiflung nahe taumelte der Gejagte unbeholfen vorwärts.

Mariusz’ Martyrium dauerte an, und er wusste nicht, ob ihn dieser felsige Gang retten, oder in eine hoffnungslose Sackgasse führen würde; seinen vermeintlichen Verfolgern sodann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Kurzzeitig hielt er Inne und lauschte, dabei fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Einen folgenden Lichtschein konnte er zwar nicht ausmachen, aber kurzzeitig peinigte ihn sein Verstand mit der Idee, seine Verfolger benötigten in der Dunkelheit sowieso keinerlei Hilfsmittel, denn sie sei ihr natürliches Zuhause.

Der nun panische Abenteurer preschte voran, die eine oder andere Blessur unter den nicht genau abzuschätzenden Gesteinsvorsprüngen einsteckend. Plötzlich und mit einem lauten Platschen trat er in eine Ansammlung kalten Wassers, eine knöcheltiefe Pfütze, und glaubte, am Grund des unterirdischen Weges angekommen zu sein. Voraus schien der stockfinstere Höhlengang wieder nach oben zu führen. Mariusz atmete auf. Vielleicht ein alter Bergwerkstollen? Er fasste neuen Mut und kletterte auf allen vieren vorwärts, sich mehr nach oben ziehend, als laufend, und um ein Haar wäre er in der Lichtlosigkeit Irre geworden. Wie eine blind rasende Bestie der Unterwelt wand er sich durch den dunklen Gang zurück an die Oberfläche, deren frische Luft er jetzt ungläubig und voller Freude auf seinem Gesicht spüren konnte. Ein sanfter Hauch, nicht mehr, doch in dieser Lage das größtmögliche Geschenk. Als sich ein kleines Rund in einiger Entfernung auf minimalste Weise von der restlichen Dunkelheit abhob, konnte ihn keine Macht mehr halten, und er stürmte unter dem Scheppern seiner Laterne gebückt vorwärts, bis er sich keuchend und unter großer Kraftanstrengung aus jener Felsöffnung hinausrollte. Feuchtkaltes Moos und unebener Waldgrund hießen ihn sofort zwischen stattlichen Tannen willkommen.

Hätte er diese schmale Ausbuchtung im Gestein zuvor bemerkt, er hätte niemals angenommen, dass sie in solch eine finstere Unterwelt führt. Wie lange er dort unten war, konnte er nicht einmal schätzen, vermutlich viel kürzer als er anzunehmen bereit war, dennoch hatte jene beengende Atmosphäre unter Tage seine Nerven bis zum Zerreißen beansprucht. Mariusz blieb kurz auf dem Rucksack liegen, der ihm in sein geschundenes Kreuz drückte. Er rang nach Luft und blickte nach oben, eine dichte Wolkendecke schien die Herrschaft über den Nachthimmel zurückgewonnen zu haben und verbarg das Licht des Mondes. Nach ein paar weiteren Atemzügen raffte sich der schockierte Notar auf, alles schmerzte, doch er war am Leben! Die Umrisse seiner Laterne ließen sie als stark demoliert erscheinen und auch ihr Glas war zerbrochen. Vorerst wollte er kein Feuer entzünden, zuerst musste er sich seiner Lage versichern. Mariusz glaubte an einer anderen Seite der zuvor bestiegenen Anhöhe herausgekommen zu sein. Er durfte keine Zeit verlieren, konnte er doch nicht sicher sein, inwieweit sich seine Verfolger von dem Tunnel und dessen Durchquerung hatten abwimmeln lassen. Somit durchstreifte er das Dickicht wie ein scheues Tier, verharrte einige Zeit an einer Stelle und huschte anschließend rasch weiter, stets lauschend und stets wachend, aufmerksam nach einem gespenstischen Leuchten oder möglichen Stimmen in der Dunkelheit forschend.

Mariusz’ Augen hatten sich bereits an die finstere Umgebung gewöhnt, doch wäre ihm das Mondlicht gewiss ein willkommener Verbündeter gewesen. Er hoffte auf die bald einsetzende Morgendämmerung, schlich weiterhin durch das Dickicht und duckte sich unter tentakelartigen Baumwurzeln und wilden Verästelungen, um schließlich die Umrisse der Tannen wiederzuerkennen, die er zuvor passiert hatte. Vorsichtig kämpfte er sich weiter, bis er schließlich den bereits bekannten Serpentinenweg erreicht hatte. Er lauschte … Alles schien so ruhig wie während seines vorangegangenen Aufstiegs. Nun plante er, rasch den Heimweg anzutreten und somit etwas Abstand zwischen sich, die unheimliche Anhöhe und seine potentiellen Verfolger zu bringen. Dank einer gehörigen Portion Adrenalin im Blut, wurden seine schmerzenden Glieder mit genug Kraft befeuert, um zügig voranzukommen. So schnell wie irgend möglich, durchschritt er auf bekannten Pfaden die Nacht, bis er an dem Abgrund angelangte, vor dem er zuvor eines der Lagerfeuer errichtet hatte. Zu seiner großen Überraschung konnte er die Stelle jedoch nicht wiederfinden. Nicht nur das Feuer schien erloschen, nein, es war nicht einmal möglich, die mit Steinen befestigte Umrandung auszumachen. Ärgerlich wirbelte Mariusz herum. Schnell hatte er eine neue Feuerstelle errichtet und einen kleinen Brand entfacht. Nachdem er eine Kerze entzündet und in der demolierten Laterne platziert hatte, kamen seine Gedanken etwas zur Ruhe. Während er sich aufwärmte und sein Verstand sich sammelte, beruhigte, meldete sich die Körperlichkeit, der die zurückliegende Hast durch den unterirdischen Felsengang arg zugesetzt hatte. Wie auch immer, ein Held musste Opfer für den Fortschritt bringen, und nun war er ja dort, wo er sowieso hinwollte – auf dem Rückweg nach Râznovi. Der Erschöpfte kramte einen Apfel und eine bauchige Flasche Met aus dem Rucksack hervor. Mit zittrigen Händen trank er das kraftspendende Honiggetränk aus und steckte sich den Apfel zwischen die Zähne.

Die Laterne entschlossen vor sich haltend und alsbald losmarschierend, begann Mariusz Lazar das letzte Kapitel der abenteuerlichen Reise. Er kannte den Weg und er glaubte schon bald, eine angenehme Leichtigkeit in seinen müden Knochen und Muskeln zu verspüren, die er ganz klar auf den Met zurückführte. Zügig durchstreifte er die kalte Nacht, bis die Umrisse mehrerer dunkler Basaltsäulen langsam im Licht seiner flackernden Kerze sichtbar wurden. Er war an dem merkwürdigen See angekommen, dessen unruhige Oberfläche ihn zuvor so erschreckt hatte. Die Zuversicht in Mariusz stieg beinahe zur Euphorie an, er zurrte seinen Rucksack fester, justierte den Holster seiner Waffe unter dem Mantel und richtete den Dreispitz. Von hier aus würde er Râznovi schon bald erreichen, in ungefähr zwei Stunden sollte er zuhause sein, und spätestens dann würde die Morgendämmerung begonnen haben.

Auf diesem letzten Abschnitt gingen dem Wanderer die sich grotesk bewegenden Lichtpunkte nicht aus dem Kopf. Schrecklich, wie er auf jener Anhöhe vielleicht bloß knapp einer Katastrophe entgangen war! Was hatten jene Fremden von ihm gewollt? Kein Normalsterblicher würde sich des Nachts in den Wald der Monster begeben, es sei denn? Ja, es sei denn, man war wie er auf einer wichtigen Mission! Aber wieso hüpften vier der fünf so seltsam? In seiner Fantasie nahmen jene Unbekannten schon bald die Formen gnomenhafter Wechselbälger an, die im Auftrag einer alten Vettel Kröten und Kräuter sammelten. Wieso befand sich die vorderste Lichtquelle so hoch über dem Waldboden? Für den Hauch einer Sekunde sah Mariusz das Trugbild eines vielbeinigen, aus dem Inneren heraus gelborange leuchtenden Lindwurms mit scheußlich triefendem Maul und einer Unzahl eklig glotzender, augenbesetzer Fühler auf dem drachenartigen Kopf. Er erschauderte.

Unsinn, sicher war es eine Händlerkolonne gewesen, und am Ende wollten sie ihn bloß aufsuchen, um gemeinsam einen sicheren Weg durch das Labyrinth des Waldes zu beratschlagen. Aber wieso hatten sie dann auf so eigenartige Weise den Berg erklommen, ohne ein Wort von sich zu geben? Sein Vorgehen war sicher berechtigt gewesen, und mit jener Felsspalte und ihrem dunklen Durchgang hatte er gewiss mehr als nur Glück gehabt. Diese Gedanken beschäftigten Lazar noch eine Weile, aber nach einiger Zeit, vorbei an einem kleinen Wasserfall und einem wilden Bach, kam die Position seiner allerersten Feuerstelle in Reichweite. Doch zu seiner großen Verwunderung waren auch hier die abgebrannten Überreste des Lagerfeuers verschwunden. Nichts wies auf die vergangene Rast hin, nicht einmal Ruß war zu erkennen. Mariusz nahm dies zur Kenntnis, ja, aber es gefiel ihm überhaupt nicht. Kurz dachte er über eine mögliche Verschwörung nach. Vielleicht waren es die Dörfler, die ihn zur Strecke bringen und in einem der vielen Moore versenken wollten! Möglicherweise hatten sie ihre Dämonen derart liebgewonnen, dass sie nicht zulassen wollten, dass ein Aufgeklärter sie ihnen austrieb. Seine Waffe saß fest im Holster, letztlich doch ein gutes Gefühl. Es würde alles gerade so aufgehen, lange hätte er es nicht mehr in dieser Landschaft ausgehalten, dafür war die hinter ihm liegende Flucht viel zu kraftraubend gewesen. Der wolkenverhangene Himmel erwies sich derweil als ungnädig, und auch die Morgendämmerung ließ nach wie vor auf sich warten, als der abgekämpfte Notar den Wald der Monster schließlich hinter sich ließ – bloß kurz blickte er zurück.

Die letzten paar hundert Meter Steigung würde er auf einem breiten Weg nehmen, bis er schließlich vollends die Senke hinter sich wusste. Das Licht seiner Kerze ging zur Neige und er bemühte sich nicht um eine Neue, vielmehr warf er sie von sich und verstaute die demolierte Laterne mit etwas Mühe im Rucksack. Er wollte beide Hände frei haben, da er nun feierlich nach Hause zurückkehrte. Vermutlich erwartete ihn seine Familie bereits am Ortseingang; hatte sie ihn doch in seinem Ansinnen, den alten Aberglauben aus ihrem geliebten Heimartort zu vertreiben, stets unterstützt. In Râznovi schien jedoch noch alles zu schlafen, denn aus keinem einzigen der Fachwerkhäuser am Rande der Senke leuchtete ein Kerzenschein. Er durfte auf keinen Fall vergessen, das vorgeschriebene Ritual in Gegenwart von Zeugen abzuhalten, bevor er den Ort betrat. Gedankenversunken hatte er den Anstieg genommen und stand zu guter Letzt vor dem Tor.

Zumindest war dieses hier gewesen, als er vor ein paar Stunden verabschiedet worden war. Seine Hände tasteten in der Dunkelheit ziellos umher; das hölzerne Tor war dahin, die Umzäunung ebenso. Zudem war es ihm nicht möglich, die Umrisse der von hier aus für gewöhnlich sichtbaren Häuser auszumachen. Der Grund dafür war ein simpler, sie waren nicht vorhanden, sie waren verschwunden! Mariusz wurde schlecht und ein peinigendes Gefühl in der Magengrube gesellte sich zu einem verwirrten Verstand. Lauthals begann er zu rufen: »Hallo!? Obacht, ich bin es! Mariusz Lazar, ich bin wieder da, ich …«

Keine Antwort, kein Geräusch, bloß Dunkelheit. Taumelnd tat er ein paar Schritte, die Stelle passierend, die eigentlich von einem hölzernen Torbogen definiert sein sollte, und wurde voraus eines weiten Plateaus gewahr, das sich unter seinen Füßen merkwürdig glatt anfühlte und von kalten Windböen gestreift wurde. Er stand einsam und verlassen, seine eigene geistige Gesundheit hinterfragend, in einer düsteren Weite, nicht ansatzweise begreifend, was ebenda vor sich ging. Wie konnte er auch? Doch von seiner Unwissenheit sollte er schon bald erlöst werden. Als der verunsicherte Abenteurer suchend in alle Himmelsrichtungen spähte und soeben dabei war, den starken Winden trotzend, anhand des letzten Holzes und Flintstein aus seinem Rucksack ein Feuer auf dem seltsamen Boden zu entzünden, brach die dichte Wolkendecke hoch über ihm urplötzlich auf. Das blendend helle Licht eines vollen Mondes ergoss sich in die Ebene und Mariusz’ Augen weiteten sich, nicht nur aufgrund des überwältigenden Himmelskörpers am Firmament. Nein, als er den Mond zuletzt gesehen hatte, war dieser nicht voll und auch nicht umringt von gigantischen artifiziellen Konstruktionen gewesen, die sich wie eiserne Schlangen von unrealistischen Ausmaßen über dessen gesamte Oberfläche wanden und an denen grelle Strahlen regelmäßig auf und ab zogen. Der sternenklare Nachthimmel war erfüllt von Bewegungen, Geräuschen und schnell dahinziehenden blinkenden Irrlichtern. Tränen traten in Mariusz’ geweitete Augen. Ob aus Ehrfurcht oder blankem Entsetzen, das spielte keine Rolle – was er dort sah, war ihm unbegreiflich. Er taumelte rückwärts, fiel fast über seinen Rucksack und hielt dabei den entrückten Blick auf den grell leuchtenden Erdtrabanten gerichtet. Es war lediglich der Bruchteil einer Sekunde, als er über seine linke Schulter blickte, um zwei schnell heraneilenden silbernen Lichtern gewahr zu werden, die die Dunkelheit wie lautlose Blitze durchzogen und ihn schmerzlich geblendet zurückließen. Man konnte bloß den Knall des Aufpralls vernehmen, als sein Körper im hohen Bogen durch die Luft geschleudert wurde. Am Boden aufgekommen, war der Mann, der sich einst Mariusz Lazar, Notar von Râznovi nannte, nicht mehr unter den Lebenden. Sein Schicksal ereilte ihn ebenso schnell wie ohne Vorwarnung.

In den darauffolgenden Tagen sollte einzig eine kurze Mitteilung in der Digitalausgabe einer Lokalzeitung von einem offenbar verwirrten Obdachlosen zu berichten wissen, dem der kaum hörbare Antrieb einer hochmodernen, eigens für die Mondkolonie konzipierten Reihe von Elektrofahrzeugen zum Verhängnis geworden war.

Wie jene Person auf das Testgelände des ortsansässigen Technologiebetriebes Lazar-Prime gelangen konnte, gab den ermittelnden Behörden zu Beginn Rätsel auf. Mittlerweile ging man jedoch davon aus, dass der Tote eine behelfsmäßige Unterkunft in dem an das Testgelände grenzenden Naturschutzgebiet aufgeschlagen und sich schon bald in der Dunkelheit des einst im Volksglauben übelbeleumdeten Waldes verirrt haben musste.

Ein tragischer Unfall, gewiss. Angesichts Lazar-Primes Firmenmotto: »Kein Fortschritt ohne Opfer«, wie es unterhalb einer stilisierten Eule auf jeder Fahrertür der neuen Baureihe prangte, kam so manch ein Leser nicht umhin, dem Universum, dem Zufall, oder unbekannten Mächten einen gewissen Sinn für Humor zu unterstellen.

Abyssarion

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