Читать книгу Abyssarion - Robert Grains - Страница 9
Morgenspaziergang
Оглавление»Es muss am Quartalsmeeting liegen«, dachte sich Herr Schönfeld. Er war kurz nach 03:00 Uhr aufgewacht und sah sich nun außerstande, erneut einzuschlafen. Wozu auch, in knapp drei Stunden würde er sowieso aufstehen müssen. Sein bürokratisches Gemüt erkannte in diesem Umstand zuerst ein enormes Ärgernis, doch nachdem er sich frisch gemacht und seinen von einer kurzen Nacht vernebelten Verstand geklärt hatte, gelang es ihm, die Angelegenheit von ihrer positiven Seite zu betrachten.
Positive Seite, positives Denken – ganz so wie im letzten Seminar unzählige Male an Fallbeispielen besprochen. Ja, er hatte ausreichend Zeit, um die Zahlen und Tabellen für das Meeting noch einmal durchzugehen. Diese Quartalstreffen sorgten stets für einigen Trubel quer durch die Abteilungen, und auch wenn sich Herr Schönfeld durchaus als Controlling-Veteran bezeichnen konnte: Fehler durften nicht passieren – nicht bei dem direkten Bericht an den Vorstand.
Die Zahlen stimmten, dessen war er sich nun sicher. Für den ersten Kaffee des Tages war es jedoch noch viel zu früh und im Fernsehen triumphierte wieder einmal die Dekadenz – also, was tun? Ein Blick nach draußen verhieß frische Luft und einen unheimlich beeindruckenden Sternenhimmel. Der volle Mond schien bemerkenswert groß und irgendwie… anders. Da erinnerte sich Herr Schönfeld, das musste der sogenannte Hunter’s Moon sein. Er hatte davon gelesen, von jenem besonderen Erscheinen des Erdtrabanten, das bereits die amerikanischen Ureinwohner schätzten, da die Jagd in einem solch seltenen Licht als besonders vielversprechend galt. Frische Luft noch vor der Arbeit, und somit einen kleinen Vorteil verzeichnen? Dazu dieses einmalige Himmelsschauspiel, dieser mondreiche Sternenbaldachin. Wieso eigentlich nicht? Kaffee dann nach der Rückkehr! Schönfeld wartete aber noch etwas ab. Um kurz vor 05:00 Uhr würde er losmarschieren, alles andere war ihm dann doch etwas zu normwidrig.
Als es endlich soweit war, griff er sich einen gefütterten Armeeparka und ein Paar eingestaubte Wanderstiefel. Für letztere fand er viel zu selten Verwendung, die meiste Zeit saß er an seinem Schreibtisch im Büro und brütete über Statistiken. Er atmete genervt aus, als er begriff, dass ihm ganz offenbar nur derlei unübliche Zeiträume die vage Möglichkeit eröffnen konnten, etwas jenseits von Aktenstapeln, Pivot-Tabellen und völlig sinnentleerten Konferenzen zu erleben. Eine handliche Taschenlampe wurde im Parka verstaut, und der Aktendiener trat hinaus in den sternenklaren frühen Novembermorgen.
Alles lag still, noch rührte sich nichts, nah und fern war keine Betriebsamkeit zu bemerken und eine dünne Schicht kristallin-weißen Frostes reflektierte kraftvolle Mondstrahlen auf Schieferdächern, Straßen und Vorgärten. Bereits nach den ersten Metern überkam Herrn Schönfeld eine kindliche Begeisterung. Als er sich durch verwinkelte Gassen vorwärtsbewegte, konnte er an den spitzen Giebeln alter Fachwerkhäuser vorbei immer wieder auf ein wolkenloses Himmelsgewölbe blicken, während die lunare Pracht sporadisch aufsteigenden Kaminrauch in irisierende Säulen verwandelte. So etwas würde er öfters unternehmen, da war er sich bereits sicher. Was stand dagegen, zukünftig etwas früher aufzustehen, um im Gegenzug derart entlohnt zu werden? Vor allem war er hier völlig ungestört, weit und breit nichts und niemand auf den er achten musste. Ein willkommenes Kontrastprogramm zum aufreibenden Büroalltag mit seinen Intrigen und zwischenmenschlichen Heucheleien. Nicht zuletzt stellte diese Landpartie eine gute Gelegenheit dar, um den Kopf frei und den Kreislauf richtig in Schwung zu bekommen.
Nach fünfzehn Minuten passierte er den in Dunkelheit und Stille gehüllten Marktplatz in der Ortsmitte. Bloß sporadisch drang aus angrenzenden Häusern Licht, hie und da glomm zumeist aus dem Dachgeschoss ein Zeichen von Aktivität und wies auf einen soeben erwachten Träumer hin, der im Gegensatz zu Herrn S. vermutlich genug Erholung genossen hatte. Der Wanderer schaute auf die Armbanduhr, lag gut in der Zeit, und sah nun die Hauptstraße, die an den weiten Wäldern und Feldfluren der Gegend vorbeiführte. Dieser würde er noch etwas folgen, um dann aber bald umzukehren.
Gesagt, getan.
Er schlenderte die unbefahrene Straße ungefähr einhundert Meter im Schein ihrer Laternen entlang, als er linker Hand einen alten Wanderwegweiser bemerkte. Bei Tage war er schon oft an dem verwitterten Pfahl mit seinen beiden moosbedeckten Wegzeichen vorbeigekommen, und erinnerte sich, dass man von ebenda zu einer langen Tour in Richtung der umliegenden Dörfer aufbrechen konnte. Dem unscheinbaren Waldweg folgend war es aber ebenso möglich, zuvor abzubiegen und somit etwas entfernt von seiner aktuellen Position wieder ins Dorf zurückzukehren. Er würde somit einer langen, sichelförmigen Kurve durch den Forst folgen; einem Umweg, der aber bestimmt die Krönung dieses harmlos anmutenden Vergnügens darstellen würde. Für besagte Strecke kalkulierte er bei strammem Gang fünfzehn Minuten ein. Darum fackelte er nicht lange, verließ die Straße und folgte dem unebenen Pfad.
Schon bald sichtete er zu beiden Seiten ein pittoreskes Meer aus Büschen und flacher Vegetation, Sträuchern sowie knochigen Baumstümpfen, und dank des hoch thronenden Gestirns fand er sich ohne Handleuchte zurecht; nichtsdestotrotz brachte er sie nun aus der Jackentasche hervor. »Nicht, dass ein Jäger gut betankt auf der Lauer liegt!«, dachte er. Gewiss, Schönfeld befand sich in weidgerechter Entfernung …
Des vorsichtigen Morgenpilgers Weg führte beinahe einen Kilometer geradeaus. Viele Stellen entlang seiner Route bestanden aus einer dichten, sich dem Herbst beugenden Vegetation, deren feines Frostgewand es ihm erscheinen ließ, als durchstreife er eine silbrige Wüste kunstvoll arrangierter Glasgebilde. Hier war die Luft noch reiner, und während sich sein Atem sichtbar mit der Kälte vereinte, scharrte es bisweilen im Unterholz, brach hin und wieder eine morsche Wurzel unter der Flucht eines aufgescheuchten Tieres.
Ein Blick zurück … Stille, wohltuende Einsamkeit – weiter.
Schönfeld ließ den Schein seiner Taschenlampe über das weite Gelände schweifen. Immer wieder spähte er himmelwärts, und je länger er seinen Blick auf die vernarbte Oberfläche des eisig strahlenden Jägermondes gerichtet hielt, umso überzeugter wurde er, in solch astraler Präsenz Zeit und Raum gänzlich vergessen zu können. Gebannt betrachtete der Wandersmann die funkelnden Sterne; zuletzt hatte er das wohl als Kind getan. Es war einfach faszinierend, zu sehen, in welchen Konstellationen sie zueinander ausgerichtet schienen, wenngleich ihre Bereiche stummer Herrschaft doch unvorstellbare Weiten voneinander entfernt lagen. »Etwas eigenartig ist das Ganze schon!«, dachte er sich. Verständlich, immerhin war er vor Ort noch ungestörter als während des Anmarschs durch das Dorf der Schlummernden, und wer kam in solch unchristlichen Stunden schon auf ähnliche Ideen? Er hätte auch einfach zuhause bleiben, abwarten und Kaffee trinken können. Vielleicht war diese Aktion aber auch bloß ein psychosomatischer Reflex, um dem schauerlichen Quartalsmeeting zu entrinnen. Ein unbewusster Fluchtimpuls und Schlafstörungen als Vorboten eines bevorstehenden Burnouts? Jeder Schreibtischkämpfer kannte Strategien, um mit Stress umzugehen, und womöglich sollte der regelmäßige Besuch dieses Waldweges fortan ein integraler Bestandteil der seinigen werden.
Wie auch immer, dieses frühmorgendliche Manöver war ohnehin so gut wie abgeschlossen, denn voraus kam jene in das Dorf zurückführende Kurve langsam in Sicht. Sie wies linksseitig eine geringe Erhebung auf, die von Tannen dicht bestanden war. Diese schoben sich nun markant in Schönfelds Blickfeld und verdeckten mit ihren Ästen und Kronen den unteren Teil des grimm glimmenden Erdtrabanten. Beabsichtigte man nicht, der Biegung nach rechts zu folgen, sondern auf dem Weg zu bleiben und hinter dem bewaldeten Streifen vorbeizuwandern, so konnte man auf ebendiese Weise die umliegenden Dörfer nacheinander erreichen; eine zukünftige Route war also bestimmt. Der Ausflügler bog soeben auf den Heimweg ein, sinnierte dabei über die Bedeutsamkeit von Kontemplation, als ein intensiver Krach zu seiner Linken die Stille jäh durchbrach; ein kurzer, spürbarer Schreck packte ihn! Es schien gar so, als sei etwas Schweres aus einer der Tannen gefallen, einen großen Ast am Waldboden zertrümmernd. Im Eiltempo versuchte Schönfelds analytischer Verstand die möglichen Zusammenhänge zu erfassen. Für nichts in der Welt wollte er in Richtung des Geräuschs blicken, hielt vielmehr kurz Inne und horchte angestrengt – nichts.
Er ging schneller, hielt die Taschenlampe dabei stoisch auf den Boden gerichtet. Ein Trappeln im Unterholz zwischen den Bäumen war nun deutlich hörbar. Er blieb stehen, seine Nieren meldeten sich, seine Schläfen pochten – dann nichts mehr, silencium. Seiner Intuition folgend, beleuchtete er den bewaldeten Abschnitt nicht. Wovor fürchtete er sich? Etwa vor dem Anblick eines Rehkitzes, das ob des unerwarteten Eindringlings Landpartie flink auf der Flucht war? Linker Hand: ein Düsternis-Wall aus alten hohen Tannen, zur Rechten: die flache, raue Vegetation, und voraus: der Ortseingang fast in Sichtweite. Fürwahr, momentan war es still, und Schönfeld wollte keine weitere Sekunde verlieren. Er machte sich auf, wenn auch etwas ruhiger, den Gang mäßigend, ebenso seinen enthemmten Atem, denn das Geräusch … Ja, das Geräusch war wieder da. Wann immer er einen Schritt tat, krachte es mal lauter, mal leiser aus Richtung der Nadelbäume. Womöglich ein Wildschwein, das wäre nicht gut … Aber nein, dafür waren die Tritte zu vorsichtig, zu abgewogen – zu menschlich; und was das Grausigste war, sie bewegten sich fürchterlich synchron!
Halt! Stille …
Der Wanderer stand erneut, sein Atem stockend, seine Nerven zum Zerreißen gespannt. Diese Angelegenheit war bizarr, vielleicht sogar gefährlich. Natürlich kannte er das Gefühl der Angst, zugleich wissend, dass es einen instinktiven Teil des Verstandes gibt, der durchaus bestimmen kann, ob Anlass zu mehr als substanzloser Sorge besteht; dieser meldete sich nun langsam aber spürbar. Ein merkwürdiges Dämmerungstier lauerte vermutlich zwischen den Tannen und beobachtete ihn durch die Schleier ihrer Schatten. Er hielt die Augen starr auf den Weg gerichtet und setzte, seine Atmung zwingend, zu einem äußerst zügigen Gang an. Das Trappeln nahm zu, dessen Urheber befand sich definitiv parallel zu ihm – versteckt, seine Schritte erschreckend genau nachahmend. Schönfelds Brust begann zu stechen, jene wahrhaftige Furcht, ihr Anhauch namenlosen Unheils, war nun allenthalben spürbar – dies hier war kein Spiel! Aber wie konnte sich dort überhaupt etwas Gefahrvolles herumtreiben, in solch unmittelbarer Nähe zur Zivilisation? Nein, er würde auf keinen Fall hinsehen.
In Blickrichtung erkannte er vielmehr ein schwaches orangefarbenes Licht; ein Rollladen wurde hochgezogen, Erleichterung machte sich breit. Sein Heimatdorf, in dem nun immer mehr Menschen erwachten, war nicht mehr fern. In Anbetracht dieser vertrauten Szenerie konnte doch wirklich nichts Furchteinflößendes seinen Platz behaupten. Das Rascheln und Krachen hing jedoch beständig an des Büroveterans Schritten, völlig unbeeinflusst von seiner Sicht der Dinge. War das grotesk? Egal! Er begann zu keuchen, stolperte fast. Das Ziel, der sichere Ortseingang, kam näher, und für wenige Wimpernschläge hatte er die Angst vergessen, doch sie kannte seinen Namen.
Schönfelds Marsch war nach wie vor zügig, hörbar – so wie das geisterhafte Rascheln; in gleichem Schritt und Tritt, hie und da brach ein Ast oder sprang ein Stein. Am liebsten wäre er nach rechts ausgewichen, doch da warteten nur Dickichte und dorniges Gestrüpp. Kurz darauf war ihm derlei ohnehin nicht mehr möglich …
Blitzartig, und begleitet von einem alle Nerven malträtierenden Schreck, schien es ihm als laufe er gegen eine unsichtbare Wand – nichts ging mehr.
Mutterseelenallein stand er auf dem Waldweg, der ehrfurchtgebietende Mond hoch über ihm. Das Rascheln war verstummt, doch er konnte sich nicht rühren. Einzig seine Augen folgten noch der Richtungslosigkeit seiner panischen Gedanken. Die Taschenlampe fiel aus seiner starren Hand auf den kühlen Grund, die Schattenschleier zwischen den Tannen augenblicklich lüftend.
Herr Schönfeld wird niemandem von diesem Ausflug berichten können, und auch uns ist es nicht länger gestattet, ihm Gesellschaft zu leisten. Keine Seele wird von dem schwefelartigen Geruch erfahren, der die klare Waldluft verdrängte, just in dem Moment, da die Starre einsetzte. Niemandem wird der Wanderer von dem schwer zu beschreibenden Schandgötzen erzählen – älter und eigentümlicher als die Sphinx –, dessen Antlitz sich hinter einem reifbedeckten Baumstamm hervorschob, um in einem ersterbenden Kegel künstlichen Lichts beutegierig zu grinsen.
Unter dem Perlmuttglanz eines langsam sinkenden Jägermondes wischten an diesem Morgen viele brave Dörfler eine hartnäckige Müdigkeit aus ihren Augen. Sie taten dies gar arglos, ohne Kenntnis der wundersamen Schrecknisse, welche die Stunden der Stille zu ganz bestimmten Zeiten zu genießen pflegen, und die auf ihren Jagdausflügen unter einer nächtlichen Sonne auch vor so manch einem kleinbürgerlichen Vorgarten nicht Halt machen. Ja, die Profanen taten dies frei des Wissens um jene gottgleichen Phantome, welche einer unbewussten Einladung in eine menschliche Behausung von Zeit zu Zeit tatsächlich nachkommen, bloß um im Nachhinein für den lähmenden Hauch eines sonderbaren Albtraums gehalten zu werden. Der Verlust kostbarer Zeit und ein ruheloses Wachen sind von jeher der bedauernswerten Seele Lohn, die zwischen Nacht und Morgen, das mitleidlose Starren der Plejaden erwidernd, einen flüchtigen Blick auf einen deltaförmigen Schemen wirft, wie er das sternenklare Firmament lautlos durchstreift. Einen flüchtigen Blick der Neugierde – zu einer Zeit, da es den Sklaven nicht gestattet ist, zu wachen, geschweige denn, außerhalb ihrer Ställe zu lustwandeln.
Auf dem Weg zur Arbeit beobachteten die wenigen Aufmerksamen an jenem Herbstmorgen den raschen Überflug seltsamer Formationen gen Mitternacht, und für so gut wie jedermann sollte es ein ganz gewöhnlicher Tag auf bereits ausgetretenen Pfaden werden – nur nicht für Herrn Schönfeld.