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Leistung und Innovation

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Vorüberlegungen

Vorbild Natur Ein Eichhörnchen, das mehr Nüsse findet, sie besser versteckt oder später besser wiederfindet, lebt besser als ein anderes ohne diese Vorzüge. Für einen Bären ist es notwendig, erfolgreich Beute zu machen, diese ggf. gegen andere zu verteidigen oder auch selber anderen Tieren die Beute abzunehmen, z. B. einem Wolf. Je besser ihm das gelingt, desto besser lebt er. Man kann das so sehen: Je mehr diese Tiere leisten, desto besser geht es ihnen. Das gilt auch für den Wolf, der lebt aber meistens in Rudeln, wo es insbesondere auch um das erfolgreiche Zusammenspiel bei der Jagd geht. Neben der Einzelleistung, wie etwa bei den Rangkämpfen innerhalb des Rudels, ist die gemeinsame Leistung des Rudels von Bedeutung und von dieser profitieren auch die schwächeren Rudel-Mitglieder. Löwen leben auch in Rudeln, aber hier verschaffen sich die Männchen häufig einen Vorteil, indem sie neugeborene Männchen gleich töten und sich so potenzieller späterer Konkurrenten entledigen. Kannibalismus gibt es auch. Haie etwa zögern nicht, einen Artgenossen zu vertilgen, wenn dieser sich nicht wehren kann, wenn er etwa an einem Angelhaken festhängt. Auch irgendwie eine Leistung. Ganz allgemein gilt das reale Leistungsprinzip: Je besser ein Individuum die Umstände, in denen es sich befindet, nutzt, desto besser geht es ihm. Von Vorteil kann es dabei sein, ein Sozialgefüge aufzubauen und Regeln zu etablieren. Gemeinsam auf die Jagd zu gehen und dann nach einer Rangfolge zu teilen, bringt für alle mehr, als wenn jeder für sich jagt und sich dann die Beute gegenseitig streitig gemacht wird. Konkurrenten in den Kinderschuhen töten, Kannibalismus oder einem anderen seinen Teil der Beute sind dann keine Optionen mehr.

Menschen und Unternehmen Eine menschliche Gesellschaft ist nun genauso ein Sozialgefüge mit Regeln. In einer zivilisierten Gesellschaft kann man nicht einfach jemand anderem etwas wegnehmen, weil man der Stärkere ist. Tut man es doch, zählt das nicht als Leistung, sondern als Regelverstoß. Man muss also selber jagen oder sammeln oder allgemein und modern etwas produzieren. Allerdings nicht unbedingt genau den Eigenbedarf, denn es gibt ja Tauschhandel und Geld. Demnach kann man ein ideales Leistungsprinzip formulieren:

Entsprechend dem, was man selber zur Deckung der Bedürfnisse der Gesellschaft beiträgt, kann man auch konsumieren bzw. erhält Geld.

Jetzt produziert ja nicht jeder selber für sich alleine, sondern es gibt Unternehmen und auch für diese sollte das Leistungsprinzip als Anspruch stehen. Wenn ein Unternehmen dementsprechend seine Einnahmen steigern will, muss es also mehr produzieren und verkaufen. Wenn die Nachfrage schon gesättigt ist, hilft es nicht, einfach die Produktion auszuweiten, sondern das Unternehmen muss sein Produkt verbessern oder rationeller, d. h. billiger, herstellen, unter Einbeziehung von Nebenwirkungen der Produktion. Kurz: Das Unternehmen muss innovativ sein. Gelingt ihm das, steigen die Einnahmen und das Unternehmen kann wachsen. Andere aus der Branche werden auch auf diese oder eine ähnliche Idee kommen oder verdrängt, am Ende wird das bessere oder billigere Produkt angeboten, wovon die Gesellschaft insgesamt profitiert. Außer denjenigen, die wenig oder gar nichts zur Produktion beitragen können. Diesen hilft die Gesellschaft, indem sie ihnen das Notwendige ohne Gegenleistung zukommen lässt, dafür geben alle anderen etwas ab. Damit sind wir bei der sozialen Marktwirtschaft. Der Markt ist in gewisser Weise ein Abbild der Natur. Geht es in der Natur darum, Nischen im Ökosystem zu finden und auszunutzen, so geht es im Markt um das Auffinden und Ausfüllen von Marktlücken. Aus Fressen und Gefressen Werden wird Kaufen und Verkaufen.

Bei dem Ziel, das ideale Leistungsprinzip zu verwirklichen, stellt sich schnell eine Frage: Welche Leistung ist denn wie viel wert? Es mag sich die Antwort anbieten, dass gerade das eben der Markt regelt. Aber ganz so einfach ist es nicht. Das wird deutlich bei der Frage nach Gerechtigkeit und dem Sinn von Managergehältern, die einige hundert Male so hoch sein können, wie die von einfachen Angestellten des Unternehmens. Kann ein Mensch eine mehrere hundertmal so große Leistung bringen wie andere, durchschnittliche Menschen? Mit Blick auf einen Arzt und Wissenschaftler, der einen Impfstoff entwickelt, durch den Tausende andere gerettet werden, lässt sich diese Frage bestimmt mit Ja beantworten. Mit Blick auf Top-Manager, die ihre Unternehmen gegen die Wand fahren und dabei noch Top-Gehälter beziehen, wird aber auch klar, dass die Belohnung von Leistungen im realen Markt häufig nicht mit dem idealen Leistungsprinzip vereinbar ist. Konkrete Beispiele findet man im Kapitel Banken. Der Wert von Leistungen lässt sich kaum allgemein objektiv genau angeben, sondern ist häufig Ermessens- bzw. Verhandlungssache, wie Tarifverhandlungen zeigen. Die Belohnung von Leistungen hängt letztendlich auch davon ab, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, also vom Zufall. Sinnvoll für eine demokratische Gesellschaft ist es, Regeln aufzustellen, um das ideale Leistungsprinzip unter Berücksichtigung des Gerechtigkeitsempfindens des Volkes möglichst weitgehend zu gewährleisten. Problematisch wird es nun, wenn Menschen und insbesondere Unternehmen irgendwelche Lücken in diesen Regeln oder auch bei ihrer Durchsetzung finden. Dann können die Unternehmen ihren Profit statt zum Nutzen zum Schaden der Gesellschaft steigern. Das ist häufig einfacher als echte Innovation. Dazu ein paar Beispiele:


Aus der Praxis

Clean Diesel Ein Paradebeispiel liefert die Manipulation von Abgaswerten durch VW. Während die Fahrzeuge auf der Straße, wie für Dieselmotoren üblich, hohe Mengen an gesundheitsschädlichen Stickoxiden in die Luft bliesen, waren die Werte bei den offiziellen Tests auf dem Rollenprüfstand viel niedriger. Berichtet wurde von bis zu 35-fach erhöhten Werten auf der Straße67. Möglich wurde dies durch die Programmierung der Bordcomputer, die die Testsituation auf der Rolle erkannten und dann die Abgasnachbehandlung einschalteten. Auf der Straße arbeitete diese kaum oder gar nicht. VW beließ es nicht dabei, so die offiziellen Grenzwerte zu erreichen und damit die Zulassungen für seine Dieselautos zu bekommen, sondern bewarb diese auch noch offensiv als jetzt saubere Dieselfahrzeuge. Ungewöhnlich war dann das zwar späte, aber dann doch deutliche Schuldeingeständnis der bewussten Manipulation durch VW. Gerne leugnen Unternehmen ja jede auch noch so offensichtliche Verantwortung, wenn irgendwo Schäden auftreten. Sehr gut zu beobachten war dies z. B. im Falle der Verseuchung des Rio Doce in Brasilien durch giftige Abwässer aufgrund eines Dammbruches einer Eisenerzmine im November 201568. Zunächst suchte der Minenbetreiber Samarco die Gründe für den Dammbruch überall, nur nicht bei sich selber, dann erklärte ein Sprecher des Konzerns BHP, einer der Eigner von Samarco, der Schlamm sei nicht giftig für Menschen und schließlich ließ Vale, der andere Eigner-Konzern, verlauten, die mittlerweile in hohen Konzentrationen gefundenen Schwermetalle stammen von dem Fluss und seien von dem Schlamm nur mitgerissen worden69. Aber kommen wir zurück zum Diesel. Tatsächlich erwiesen sich nicht nur Autos von VW auf der Straße als Dreckschleudern. Frontal 21 hat dazu Ende 2015 mit Wagen verschiedener Hersteller, alles Diesel-PKW der Norm Euro 5, Tests durchgeführt, bei denen die Abgase zunächst auf der Rolle und dann auf der Straße jeweils dem genau gleichen Fahrzyklus NEFZ unterzogen wurden70. Der VW erzeugte auf der Rolle 127 mg Stickoxide pro km und blieb damit unter der Norm von 180 mg/km, auf der Straße waren es nach Abzug von großzügigen Toleranzen immer noch 471 mg/km und damit 3,7-mal so viel wie auf der Rolle und somit weit über der Norm. Auch die anderen, unter den gleichen Bedingungen getesteten Fahrzeuge hielten auf der Rolle alle die Norm ein, auf der Straße verfehlten sie sie deutlich. Beim Mercedes betrug der Faktor dabei 2,7, beim BMW 2,8 und beim Renault 6,6, auf der Straße wurden dabei 1067 mg/km gemessen. Mit diesen Ergebnissen konfrontiert, gaben die anderen Hersteller nicht etwa auch bewusste Manipulation zu, sondern verwiesen auf die auf der Straße anderen Bedingungen, wie andere Luftdruckverhältnisse usw., was nach Meinung von Automobilexperten aber bei Weitem nicht ausreicht, die Unterschiede technisch zu erklären. Es ist, als würde man die zusätzlichen Kilos, die die Waage nach Weihnachten anzeigt, auf die vielleicht seit einer Weile nicht mehr geschnittenen Haare zurückführen. Und nicht genug damit, dass die Manipulation nicht zugegeben wird, Hersteller drohten z. T. sogar mit einstweiligen Verfügungen, um die Veröffentlichung von unangenehmen Messwerten zu unterbinden, wie im Falle der Deutschen Umwelthilfe. Diese hatte bei weiteren Marken gezeigt, dass inoffiziell viel zu viele Stickoxide ausgeblasen wurden. Auch Fahrzeuge der neuesten Norm Euro 6 schließlich wiesen auf der Straße 7-fach erhöhte Werte auf71. Daimler ist mittlerweile auch in den USA aufgefallen, weil dort auf der Straße bis zu 30-fach erhöhte Stickoxid-Werte gemessen wurden72. Die hohen Faktoren 30 und 35 oben erklären sich wohl über das von dem unrealistischen Testzyklus abweichende Fahrverhalten auf der Straße. Wie sinnvoll ist übrigens ein und derselbe Test für ganz verschiedene Fahrzeugklassen, die in der Realität ganz unterschiedlich gefahren werden?

Etwas geschickter als VW scheint sich Opel angestellt zu haben. Dort wurde nicht die schlechte Kontrolle, sondern eine Lücke in der EU-Verordnung ausgenutzt, nämlich die Ausnahme vom Abschaltverbot der Abgasreinigung, um den Motor zu schützen. Die Bedingungen, unter denen die untersuchten Opel-Fahrzeuge demnach sauber fuhren, machten nur einen kleinen Bruchteil der Fahrstrecke unter realistischen Nutzungsbedingen aus73. Es stellen sich hier zwei Fragen. Zum einen: Warum die Manipulationen? Ein in der Motorenentwicklung Beschäftigter sagte dazu anonym, dass technisch die Einhaltung der geforderten Stickoxid-Werte möglich sei, was aber mit höheren Kosten verbunden sei, was man vermeiden wollte. Tatsächlich gab es genau das gleiche Problem schon vor gut einem Dutzend Jahren mit Lkw’s. Die stoßen mittlerweile, wenn nicht geschummelt wird, viel weniger Stickoxide aus und sind jetzt sogar sauberer als Diesel-PKW. Dafür müssen LKW neben Diesel regelmäßig einen AdBlue genannten Zusatz, der i. W. Harnstoff enthält, tanken, der Verbrauch davon beträgt rund 5 bis 7 Prozent des Dieselverbrauches. Bei PKW liegt der AdBlue-Verbrauch bei nur etwa 1 %. Das senkt die Kosten und der Kunde bekommt davon gar nichts mit, wenn der Zusatz nur in den Wartungsintervallen nachgefüllt werden muss74. Die zweite Frage ist, wie bzw. ob derartige Diskrepanzen so lange von den Volksvertretern, die mit den Grenzwerten die Gesundheit der Menschen schützen wollten, unbemerkt bleiben konnten. Wir kommen dazu im nächsten Kapitel. Bleiben wir zunächst bei VW, hier zeigen sich noch einige weitere Lücken im System: VW stellte rund 16 Milliarden Euro für Schadenersatz zurück und stand mit dem Rücken zur Wand. Ein beträchtlicher Teil des Schadens ist auch auf das eben sehr späte Schuldeingeständnis zurückzuführen75, weswegen jetzt sogar Anklagen gegen ehemalige Führungskräfte drohen76. Und auch früher muss es ja Verantwortliche in der Führungsebene gegeben haben, allen voran der ehemalig VW-Chef Martin Winterkorn. Sei es, dass diese wussten, was passierte oder sei es, dass diese die Manipulationen durch einen Führungsstil, der kein Versagen auch bei unrealistisch hohen Anforderungen duldete, indirekt heraufbeschworen. Aber davon, dass jemand von seinen Millionen-Gehältern etwas wieder zurückgeben soll, ist nicht die Rede, selbst 2016 wurden noch nicht einmal die Boni gestrichen, sondern nur Teile davon zurückgestellt77. Das Problem scheint das gleiche zu sein, wie bei den Banken. Mittlerweile klagen Staatsfonds gegen VW, um die durch die fehlerhafte Informationspolitik der Führung von VW erlittenen Aktienkursverluste wieder zu bekommen78. Wirklich sinnvoll könnte so eine Klage bei konsequenten Gesetzen eigentlich nicht sein, denn Aktienhalter von VW klagen auf diese Weise gegen sich selber, von den Kursverlusten sind ja alle Aktionäre betroffen. Sinnvoll wäre dagegen eine Klage gegen die Verantwortlichen, aber tatsächlich wurde der Vorstand auch 2016 wieder entlastet. Wobei dieses allerdings nichts anderes bedeutet, als dass dem Vorstand das Vertrauen ausgesprochen wird. Eine etwaige Haftung leitet sich aus einer Nicht-Entlastung nicht ab79.

Noch einmal zu den LKW’s. Auch unter diesen gibt es noch Dreckschleudern auf deutschen Straßen. Möglich wird das durch Emulatoren, die dem Motor nur vortäuschen, dass AdBlue zugeführt wird. Entwickelt wurden sie für den Einsatz da, wo AdBlue nicht erhältlich ist, aber der Einsatz in Ländern wie Deutschland kann sich durchaus auszahlen: Bei einem Jahresgewinn von ca. 6 000 Euro pro Fahrzeug liefern Einsparungen von 2 000 Euro jährlich einen wirksamen Wettbewerbsvorteil. Der Einsatz solcher Emulatoren ist in Deutschland zwar verboten, aber eingeschränkte Kontrollbefugnisse der Behörden lassen dieses Verbot schwer durchsetzen, anders als etwa in Polen. Bei einer Stichprobe mit mobilen Abgasmessgeräten zeigten 20 % aller LKW aus Osteuropa auffällige Werte, die für Manipulation sprachen. Hochgerechnet ergeben sich damit 14 000 Tonnen zusätzlicher Stickoxide jährlich in Deutschland, was dem Doppelten der zusätzlichen Emissionen in den USA aufgrund der VW-Manipulationen entspricht80.

Wenden wir uns anderen Beispielen für eine Umgehung des Leistungsprinzips zu.

Versicherungen In Moskau hatten wir deutsches Fernsehen und ich sah mir häufig die Polit-Magazine in den Öffentlich-rechtlichen an. Da häuften sich Berichte über die schlechte Zahlungsmoral von Versicherungen in großen Schadensfällen. Eigentlich ja genau die Fälle, wofür Unfall-, Berufsunfähigkeits-, Haftpflicht- und z. T. auch Krankenversicherung da sind, denn kleine Schäden könnte man in der Regel wirtschaftlicher selber tragen. Es wird irgendein Grund gefunden, warum die Versicherung angeblich nicht zahlen muss, gerne etwa, dass der entstandene Schaden nicht auf das versicherte Ereignis, etwa ein Unfall, zurückzuführen sei. Kommt ein Gutachten zu dem gegenteiligen Schluss zugunsten des Geschädigten, holt die Versicherung eben ein Gegengutachten ein. Der Fall wandert durch die Instanzen, die Jahre ziehen in das Land und anstatt sich an die durch die Krankheit oder Verletzung schwieriger gewordenen Lebensumstände gewöhnen zu können, müssen die Betroffenen um ihr Recht kämpfen, was nicht jeder durchhält. Auch wurde berichtet, dass Versicherungen speziell bei wenig Vermögenden die Leistungen kürzen oder einbehalten, weil diese sich nicht so gut wehren können81. Neben den direkten zusätzlichen Schäden für die Betroffenen wird auch Preisdruck auf seriöse Versicherungen ausgeübt, weil durch die Nichtübernahme der geschuldeten Leistungen die unseriösen Anbieter mit niedrigeren Beiträgen werben können. Diese Berichte waren einer der Gründe, warum ich mich politisch engagieren wollte. Es scheint sich in der Folge nicht viel getan zu haben82, im Juli 2015 machte der Spiegel das Problem zu einem Titelthema.

Ein weiteres Thema: Der Bund fördert über die Riester-Rente private Altersvorsorge. Das ist für die Versicherungsgesellschaften ein lukratives Geschäft83, ein nicht unerheblicher Teil der eingezahlten bzw. erwirtschafteten Beträge wandert zum Versicherer. Wie viel genau, ist üblicherweise im Detail gar nicht nachzuvollziehen, da die Versicherer ihre Berechnungen nicht offenlegen müssen, was der Bundesgerichtshof 2015 bestätigt hat84.

Wasser In London ist die Wasserversorgung komplett privatisiert worden und in der Folge wurde die Wartung der Rohre vernachlässigt. In Deutschland ist eine mögliche Privatisierung der Wasserversorgung seit Jahren ein Streitthema aufgrund ähnlicher Befürchtungen. In Berlin wurde die Teilprivatisierung der Wasserversorgung wieder rückgängig gemacht, weil seit Einführung dieser ein Anstieg der Wasserrechnungen und ein Rückgang der Qualität des Service und der Pflege beobachtet wurden85. Noch wesentlich schlimmer aber ist, wenn Unternehmen in manchen Gegenden irgendwo in der Welt das Grundwasser aus dem Boden holen, es in Flaschen füllen und verkaufen, unter anderem an die örtliche Bevölkerung, deren Brunnen infolge der Unternehmenstätigkeit versiegt sind. Das vorher kostenlose Wasser müssen die Menschen dann für einen im Verhältnis zu ihrem meist sehr kleinen Einkommen sehr hohen Preis kaufen, die nächste kostenlose Wasserversorgungsstelle ist ggf. unrealistisch weit entfernt. Nestle etwa wurde in Südafrika entsprechend tätig und später sogar in der Schweiz verurteilt für die Bespitzelung von Aktivisten, die gegen diese Praxis vorgingen86.

Flughäfen Die Sicherheitskontrollen an deutschen Flughäfen übernehmen seit etlichen Jahren zumeist private Betreiber. Und gegen deren Arbeit hat es wiederholt Vorwürfe gegeben. Die EU hat mehrfach die Kontrollen an deutschen Flughäfen bemängelt und sieht dadurch die Sicherheit der Gemeinschaft gefährdet. Testern gelang es bei jedem 2. Versuch, Waffen oder Bauteile von Bomben durch die Kontrollen zu bringen. Insider werfen den privaten Betreibern vor, gering qualifiziertes Personal zu geringen Löhnen einzusetzen und so den eigenen Profit auf Kosten der Sicherheit zu erhöhen. Keine Beanstandungen seitens der EU gab es an bayerischen Flughäfen. Dort werden die Kontrollen von Gesellschaften des Landes durchgeführt87. Flugsicherheit wird natürlich nicht nur am Boden verkauft. Mehr dazu weiter unten unter Lohndumping.

Wirtschaftsauskunfteien Vielleicht benötigen Sie einmal einen Kredit, dann hat der Kreditgeber ein legitimes Interesse an Informationen über Ihre Bonität. Aber auch, wenn Sie überhaupt keinen Kredit wollen, kann die Bonität wichtig sein, etwa wenn Sie eine Wohnung mieten wollen. Auskunfteien, bekannt ist besonders die Schufa, bieten gegen Entgelt dazu Informationen, häufig in Form einer Einstufung der Kreditwürdigkeit. Es kann dann bei einigen Unternehmen durchaus vorkommen, dass man Sie mit einem schlechten Scoring führt, obwohl sie sich nie etwas zu Schulden kommen lassen haben. Der Grund liegt häufig darin, dass die Auskunftei keine relevanten Informationen über Sie hat und die Einstufung einfach aufgrund von Daten wie z. B. Adresse oder Alter vornimmt. Ein solches Vorgehen verstößt bei Einbeziehung des Alters gegen das Anti-Diskriminierungsgesetz und müsste auch bei einer Einstufung aufgrund von anderen nicht nachweislich relevanten Informationen so etwas wie üble Nachrede darstellen. Sie dürfen ja auch nicht über ihren Nachbarn verbreiten, er sei nicht kreditwürdig, weil Ihnen seine Gardinen nicht gefallen. Der BGH schützt dieses Geschäftsmodell aber88.

Krankenhäuser Früher hatten Krankenhäuser ihre eigenen Reinigungskräfte beschäftigt, seit einiger Zeit greift auch hier der Trend der Auslagerung (Outsourcing). Jetzt ist Reinigung in Krankenhäusern eine heikle Angelegenheit, weil es auch um Desinfektion geht. Und eine Maßnahme von Reinigungsunternehmen, um ihren Preis zu senken, besteht darin, bei der Schulung des Personals und bei den Desinfektionsmitteln zu sparen. Damit wird z. B. Krankenhauskeimen Vorschub geleistet89.

Patente Wer eine gute Idee hat, möchte auch etwas davon haben und nicht, dass die anderen diese einfach kopieren. In letzter Zeit gehen Konzerne aber verstärkt dazu über, triviale Patente anzumelden und bekommen dies teilweise auch anerkannt, in jedem Fall aber bleibt bis zur Entscheidung eine Phase der Unsicherheit, die für einen betroffenen Konkurrenten auch schon mal das Aus bedeuten kann90. Gut, dass es vor 20 000 Jahren noch kein Patentamt gab, sonst hätte sich wohl jemand die Idee, Pilze und Beeren im Wald zu suchen, patentieren lassen.

Recycling Um die Jahrtausendwende herum kam die Firma WOOL.REC aus dem hessischen Tiefenbach mit einem genialen Verfahren auf den Markt, so schien es: Aus Dämmstoffabfällen, Glas- und Steinwolle aus künstlichen Mineralfasern, wie sie beim Abriss alter Gebäude anfallen, stellte sie durch Vermahlen und Einbindung in eine Tonmatrix einen neuen Grundstoff für Ziegel her, Woolit genannt. Diese Mineralfasern sind krebserregend, ähnlich wie Asbest, die Dämmstoffe stellen damit einen gefährlichen Sondermüll dar, der sonst aufwendig entsorgt werden musste. Die Ungefährlichkeit von Woolit wurde durch Gutachten eines Professors für Agrarwissenschaft bestätigt, der selber an der Entwicklung des Recycling-Verfahrens beteiligt war. Leider stellte sich Woolit als ganz und gar nicht ungefährlich heraus, auch hielt sich WOOL.REC in der Regel nicht an die Auflagen der Kontrollbehörde bei der Verarbeitung der alten Dämmstoffe, was z. B. durch vorherige Ankündigung der Kontrollbesuche ermöglicht wurde. Leidtragende sind besonders die Einwohner von Tiefenbach aufgrund von Belastungen im Ort durch Mineralfasern und Dioxine, die auch anfielen, aber auch die Eigentümer der Häuser, in denen über die Jahre Ziegel aus Woolit verbaut wurden. Gefährdungspotenzial besteht bei Arbeiten wie Bohren oder Flexen an den Ziegeln und die Häuser sind ggf. schwer verkäuflich. Mittlerweile ist die Firma dicht und es wurde Anklage erhoben, auch gegen Mitarbeiter der Kontrollbehörde91.

Illegale Sondermüll-Entsorgung WOOL.REC war noch ein kleiner Fisch. In Italien wurden in der Gegend um Neapel in Kampanien von Mafia-Clans Jahrzehnte lang gewaltige Mengen Giftmüll diverser Industrien, insbesondere aus Norditalien, illegal abgekippt, verbrannt und vergraben92. Man geht davon aus, dass diese Praxis auch durch Deckung von Behörden und Politikern ermöglicht wurde. Wegen der vielen Müllbrände erhielt die Gegend auch den Beinamen Feuerland. Es wird von enorm erhöhten Raten von Krebs, Asthma, Missbildungen, Unfruchtbarkeit und Fehlgeburten berichtet. Die US Navy hat ihren in einem Stützpunkt dort tätigen Soldaten strikte Auflagen erteilt, z. B. darf Leitungswasser nicht mehr zum Zähne-Putzen benutzt werden. Landwirte aus Kampanien, eine der fruchtbarsten Regionen Europas, haben Probleme, ihre Produkte zu verkaufen, der Großhandel will sie nicht mehr. Nach der billigen Entsorgung bietet sich damit wohl als neues Geschäftsmodell für Mafiosi eine Umdeklaration von Lebensmitteln an, um sie abzusetzen93.

Von der Anlieferung deutschen Sondermülls wurde auch berichtet, aber der gewichtigere Beitrag Deutschland zum Geschäftsmodell der Mafia insgesamt ist die Funktion als Geldwäscheparadies94. In Deutschland kann mit beliebig hohen Summen an Bargeld bezahlt werden, anders als in den meisten anderen Ländern, insbesondere auch Italien. Ein Unternehmen soll lediglich Bericht erstatten, wenn es meint, Auffälligkeiten bemerkt zu haben, nach eigenem Ermessen. Natürlich kommt das extrem selten vor, da ein Unternehmen sich selber schadet, wenn es zu häufig Meldung macht, wer will schon seine Kunden vergraulen95.

Ölwechsel Je nach Fahrzeugtyp steht bei einem Auto nach bestimmten Strecken oder Zeitintervallen ein Ölwechsel an. Stattdessen besteht aber im Prinzip auch die Möglichkeit, das Öl nur zu reinigen, statt es aufwendig zu entsorgen und durch neues zu ersetzen. Die sogenannte Öldialyse bietet damit ökologische Vorteile sowie Ersparnis für den Verbraucher. Eine Win-win-Situation? Nicht ganz, denn der Verkauf neuen Öls ist lukrativer und so konnte sich die Öldialyse bislang kaum durchsetzen. Interessenten wurden dazu allerlei Horrorgeschichten über den nahen Tod ihres Autos durch die neue Technik aufgetischt, die sich später als Märchen erwiesen96, aber wer kann das schon in Echtzeit beurteilen?

Lohndumping Minijobber haben weniger Rechte, z. B. beim Krankengeld oder Anspruch auf Urlaub, so sagt es der Volksmund. Der Jurist und Professor Ralf Höcker hat eigens ein Werk verfasst, um derartigen Irrtümern entgegenzutreten97. Geringfügig Beschäftigte haben genau den gleichen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Urlaub wie Festangestellte, heißt es da. Er muss es ja wissen. Was er aber nicht sagt: Verweigert ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer z. B. den Lohn bei Krankheit, so wird das nicht etwa von Amts wegen durch die Behörden verfolgt, sondern der Arbeitnehmer muss die Leistung vor Gericht einklagen, wenn er nicht verzichten will. Und da hat ein Festangestellter natürlich viel bessere Karten, denn er kann in der Folge nicht einfach so entlassen werden wie die Aushilfskraft. Eine Form von Lohndumping. Auch anderweitig haben die Unternehmen Kreativität gezeigt, um die Löhne zu drücken, so bei der Verlagerung von festen Arbeitsverhältnissen hin zu Zeitarbeit, Werksverträgen und Subunternehmern. Mit der Folge, dass die Beschäftigten von einstmals vernünftig bezahlten Tätigkeiten kaum noch leben können. Exzesse sind z. B. bei Paketzustellern bekannt geworden. Auch die Generation Praktikum lässt grüßen. Schon diese lässt erahnen, dass eine hohe Qualifikation nicht unbedingt vor Ausbeutung schützt. Sehr deutlich führen das die Arbeitsverhältnisse von Piloten bei Billigfliegern vor Augen: Teilweise zweifelhafte Ausbildungen bzw. Prüfungen der Piloten, prekäre Arbeitsverhältnisse mit schwachem bis nicht nicht vorhandenen Kündigungsschutz als (Schein-)Selbstständige, Druck, unter (fast) allen Umständen zu arbeiten, also auch im Krankheitsfall, und unzureichende Ruhezeiten führen zu billigen Tickets, vermindern die Flugsicherheit und lassen am Beruf Pilot nicht mehr viel Traumhaftes. Großer Vorreiter dieses Geschäftsmodells ist Ryan Air. Andere Fluggesellschaften folgen mal mehr, mal weniger freiwillig, während Ryan Air es so zum Branchenprimus in Europa geschafft hat98.

Fairer Handel Angefangen hat es klein mit Eine-Welt-Läden in Deutschland und Frankreich und funktionierte. Mittlerweile gibt es ein kommerzielles Siegel aus Holland für fairen Handel, die Menge der demnach fair gehandelten Produkte ist in die Höhe geschossen, aber „unten“ kommt weniger an, dafür wächst der Profit auf anderen Ebenen99.


Folgerungen

Die obige Aufzählung kann natürlich keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit haben, insofern sollte sich keine Firma oder Branche übervorteilt fühlen, die jetzt nicht genannt wurde. Die genannten Beispiele legen aber einige Schlüsse nahe:

1 Eine Lücke im System liegt u. a. immer dann vor, wenn externe Kosten nicht nach dem Verursacherprinzip ausgeglichen werden (vgl. Grenzen des Wachstums?). Da externe Kosten auf sehr vielfältige Arten entstehen können, liegt schon damit nahe, dass es eine Lücke zwischen idealem und realem Leistungsprinzip wohl immer geben wird. Das Ziel einer Gesellschaft muss sein, diese möglichst klein zu machen und zu halten.

2 Innerhalb von bestehenden Gesetzen am Leistungsprinzip vorbei zu profitieren, ist legal, aber nicht (moralisch) legitim. Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Außerhalb der Gesetze fehlende Kontrollen zu nutzen, ist kriminell. Hier ist zunächst die Exekutive gefordert. Die Nicht-Eindeutigkeit bzw. Auslegbarkeit von Gesetzen führt zu einer Grauzone zwischen legalem und kriminellem Handeln. Die Judikative, die für die Auslegung der Gesetze zuständig ist, nutzt ihren Spielraum offensichtlich nicht immer im Sinne des Leistungsprinzips und damit im Sinne des Volkes.

3 Legislative und Exekutive auf der einen Seite und Lücken suchende Unternehmen auf der anderen Seite führen einen ständigen Wettlauf miteinander. Manchmal strengen sich Teile der Legislative und Exekutive dabei anscheinend nicht sehr an. Dazu kann besonders Korruption beitragen. Aber auch ohne Korruptionsprobleme werden in einer komplexer werdenden Welt Kontrollen schwieriger. So konnte vor 200 Jahren wohl jeder Mensch die Qualität von Lebensmitteln sofort beurteilen, heute kann das ein Lebensmittelchemiker mit einem vollausgerüsteten Labor und genügend Zeit. Mehr mit Hinweisgebern zu arbeiten wäre ein möglicher Ansatz. Zu Zeiten der Wehrpflicht sollten ja auch die Bürger in Uniform das Militär in Deutschland kontrollieren. Bürger in Arbeit sollten somit auch ihre Unternehmen kontrollieren. Mehr Kontrolle von außen ist zudem eine Notwendigkeit in einer komplexer werdenden Welt, die zusätzliche Arbeitsplätze erfordert. Damit ist eine teilweise Kompensation der zukünftig wegfallenden Arbeit durch Automatisierung bzw. Digitalisierung denkbar.

4 Unternehmen, die eine Lücke im System gefunden haben und diese ausnutzen, üben über den Markt Druck auf die anderen aus, diese Lücke auch zu nutzen. Die Situation lässt sich mit Doping im Sport vergleichen.

5 Der Wettbewerb um Wachstum übt Druck auf Staaten aus, Lücken im System zu erhalten oder sogar neu zu schaffen, wenn es diese Lücken in anderen Staaten schon gibt.

6 Die öffentliche Hand führt Aufgaben nicht unbedingt schlechter oder ineffizienter aus als private. Ein Vorteil von Markt und Privatunternehmen ist, dass jemand eine gute Idee über ein (ggf. neues) Unternehmen auch umsetzen kann. Ideen kommen aber in der Regel nicht auf Anforderung. Damit provoziert ein Druck zur Privatisierung eher Nachteile. Denkbar wäre umgekehrt eine Konkurrenz öffentlicher, demokratisch kontrollierter Unternehmen mit Privaten, um echte Innovationen und Leistungssteigerungen aus Sicht der gesamten Gesellschaft zu fördern.

7 Die Macht des Verbrauchers wird durch Intransparenz effektiv eingeschränkt. Man kann eben schlecht mal kurz nach Mittelamerika, um sich selber ein Bild von den Arbeitsbedingungen rund um die Banane zu machen, die im Supermarkt vor einem liegt. Instanzen, die Transparenz schaffen sollen, können Abhilfe schaffen, aber nicht, wenn sie von denen, die beurteilt werden sollen, bezahlt werden oder sonst wie abhängig sind.

Der letzte Punkt ist ein Faktor von Marktversagen. Ein weiteres Beispiel dafür, ohne an dieser Stelle auf die Angemessenheit der Benzinpreise grundsätzlich einzugehen: Bekannt ist, dass die Mineralölunternehmen nicht immer einen möglichst günstigen Preis anbieten. Man beobachtet den Konkurrenten und wenn der eigene Preis etwas höher liegen sollte, kann man ja mal schauen. Sollte der Absatz nicht deutlich sinken, hat es sich ausgezahlt. Und umgekehrt zieht der Konkurrent in die andere Richtung nach. Hierher passt auch der eingebaute Verschleiß von Produkten.

Zum Ende dieses Kapitels noch mal zum Vergleich mit der Natur. Den Markt, auch mit unvollkommenen Regeln, kann man ja als Abbild der Natur ansehen. Da diese sich doch prächtig entwickelt hat, kann man das doch als weiteres Argument für die Überlegenheit der Marktwirtschaft sehen, die sich ja immerhin als deutlich effektiver als Planwirtschaft gezeigt hat, oder? Politische Strömungen, die den Markt als das optimale System sehen, in dem sich alles zum Besten regelt, wenn ihm nur keine überflüssigen Schranken auferlegt werden, gibt es ja durchaus. Aber der Vergleich birgt auch eine Warnung: Tatsächlich ging es in der Natur nicht immer nur bergauf. Mittlerweile haben Forscher herausgefunden, dass es mehrere Massenaussterben auf der Erde gab, die Mehrheit wurde vom Leben dort selber verursacht100. Damit stellt sich die Frage, ob es in einer Marktwirtschaft auch Mechanismen geben kann, die auf Dauer zur Instabilität und vielleicht sogar zum Zusammenbruch der Gesellschaft führen können. Behalten wir diesen Gedanken im Hinterkopf und wenden uns zunächst wieder zunächst wieder dem unmittelbaren Geschehen zu:

Durch Ausnutzung von Lücken im System können Unternehmen also auch ohne Leistungsverbesserung ihren Profit steigern. Die ständige Suche im System kann aber auf Dauer mühsam sein und wird eher schwieriger, wenn das System reagiert. Daher geht es nicht nur um die Suche von Lücken, sondern auch um ihren Erhalt und Ausbau.

Wohlstand, Demokratie und weiter?

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