Читать книгу hArmlos - Robert Klotz - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеWährend er hinabstieg, erkannte er, warum man diesen Ort den ‚Kanal‘ nannte.
Er befand sich an einem Ort, der wie eine Mischung aus einem Bunker und einem alten Abwasserkanal aussah. Offensichtlich hatten die Erbauer hier unten Häuser in den Stein gebaut, die die Wände des lange Ganges schmückten, während sie aber in der Mitte eine Art Straße freigelassen hatten.
Von Decke zu Boden maß der Raum vor ihm an seinen höchsten Punkt an die zwanzig Meter und die Häuser, die hier standen, wirkten bei genauerem Hinsehen alt und baufällig, aber Menschen hatten sich hier ihr eigenes Paradies unter der so klinisch reinen Stadt errichtet.
Vitali fühlte sich von der ersten Sekunde an wohl an diesem Ort, an dem das einzige Licht aus kleinen Röhren in veralteten Straßenlampen zu kommen schien.
Als er am Fuß der Treppe ankam und ein Betrunkener an ihm vorbei stolperte, hielt er ihn eine Sekunde fest:
„Hey du, kennst du eine Bar namens Charlies?“, fragte er ihn und der Ungewaschene fing an zu grinsen. Er zeigte mit einem Finger die Straße hinab und als die Augen des Wanderers ihm folgten, sah er das gleiche Neonschild, das er bei seinem letzten Aufenthalt noch in der Abendsonne schimmern gesehen hatte.
Er ließ den Mann los, der ohne ein weiteres Wort in einem der kleinen Häuser verschwand, und ging auf den Laden zu.
Die Musik, die man bereits oben, an der Treppe hören konnte, wurde hier laut und dröhnend. Vereinzelte Männer und Frauen standen und saßen unter dem Schild am Randstein und ließen eine Flasche mit undefinierbarem Inhalt in ihrer Runde herumgehen, während sie fröhlich miteinander lachten. Vitali gab sich Mühe, keinen von ihnen anzurempeln und drückte sich vorbei, durch die Türe.
Die Bar war voll mit Menschen aller Uniformen und Schichten. Er sah vereinzelte Rothemden mit den Weißhemden reden und tanzen und Menschen in Anzügen mit ungewaschenen Gestalten singen. Zu guter Letzt erblickte er hinter der Bar ein Gesicht, das er kannte.
Jennifer, die Bardame, wirkte so wie eh und je, auch wenn ihre Augenringe tiefer waren und ihre Haut in dem bunten Licht blass wirkte.
Er drängte sich durch die Menge, bis er endlich vor dem Tresen ankam und ein lauter Schrei zu ihm drang. Bevor er sich versehen konnte, fiel sie ihm um den Hals und drückte ihn fest genug, dass er glaubte, seine eigenen Knochen knirschen hören zu können.
„Was machst du denn hier?“, schrie sie in sein Ohr, um die Musik zu übertönen.
„Arbeiten“, antwortete er und sie löste die Umarmung.
Jetzt, da er sie genauer ansehen konnte, fielen ihm die vielen kleinen Dinge auf, die sich an ihr verändert hatten.
Ihr Haar war nun rot gefärbt und zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden, die Fingernägel erschienen ihm unpraktisch lange und ihre Lippen funkelten förmlich neonfarben im Stroboskoplicht.
Ihre Augen blickten aber noch immer mit der gleichen Freude zu ihm auf, wie an dem Abend, damals, weit außerhalb jeglicher Stadtgrenzen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie zog ihn näher an den Tresen und kletterte mit einem kurzen Satz darüber.
„Was darf ich dir bringen?“, schrie sie, die anderen Gäste, die um ihre Aufmerksamkeit haschten, ignorierend.
„Was auch immer gerade da ist!“, rief er zurück und sie stellte eine Flasche vor ihm hin.
„Wie viel?“, fragte er, um zu bezahlen, aber sie winkte ab.
„Bleib hier, wenn ich den Laden schließe, können wir reden!“, rief sie ihm nochmals zu und kümmerte sich dann wieder um ihre andere Kundschaft.
Vitali schnappte sich, sobald einer frei wurde, einen alten, rostigen Barhocker und ließ sich von dem Schauspiel um ihn einnehmen.
Viele der männlichen Gäste versuchten mit ihr zu flirten, was Jennifer auch gekonnt erwiderte, aber es gab nur einen, der dumm genug war, es zu weit zu treiben.
Einer der schwer betrunkenen Griff über die Bar und wollte sie zu sich ziehen aber bevor Vitali von seinem Hocker kam, schrie der Mann bereits vor Schmerzen auf.
Das Messer mit einem Hirschhorngriff nagelte seine Handfläche an den Tresen während Jennifer wie eine Lehrerin mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor ihm hin und her wackelte.
Sie zog die Klinge erst wieder aus seiner Hand, als er sie lauthals um Verzeihung anflehte und wie ein Windstoß ging ein Schrei durch das Lokal:
„Raus mit ihm!“
Die Leute schrien und johlten, als zwei Männer hinter dem Unglückseligen auftauchten, ihn durch eine Schneise, die sich in der Menge bildete, zogen und ihn dann unsanft bei der Türe hinausschmissen.
Allgemeines Gelächter folgte dem Rausschmiss und die Leute griffen wieder ihre normale Unterhaltung auf. Vitali konnte nicht einmal mitzählen, wie viele Scheine und Münzen in diesem Laden die Hand wechselten, aber er war sich sicher, dass Jennifer hier unten das Beste aus einer schlimmen Situation gemacht hatte.
Der Trubel ging bis spät in die Nacht weiter, bevor sich die Bar langsam leerte und Jennifer, verschwitzt aber noch immer lächelnd auch den letzten Gast aus ihren Türen schob.
Der Wanderer half ihr beim halbherzigen Abwischen der Tische und hochstellen der Hocker, bevor sie sich mit ihm an einen Tisch setzte und beiden noch ein Getränk öffnete.
Das Neonlicht, das zuvor geblinkt hatte war nun einer künstlichen, weißen Beleuchtung gewichen und Vitali blickte sich noch einmal verdutzt um.
„Wow. Sowas habe ich ja noch nie erlebt“, begann er die Unterhaltung verblüfft.
„Das mit dem Messer? So geht’s jedem, der so etwas bei mir versucht. Keine Sorge, der Mann kann sich die Behandlung, die er braucht leisten und in zwei Tagen ist er wieder hier drinnen.“
Vitali schüttelte seinen Kopf und versuchte es erneut: „Ich meine den ganzen Trubel. So viele Leute waren das letzte Mal nie und nimmer in deiner Bar.“
Sie lächelte müde und erklärte: „Als die Leute von Medic Inc. in die Stadt gezogen sind, haben sie ordentlich aufgeräumt. All die alten Gebäude sind verschwunden, zusammen mit allem, was die Herren da oben als ‚Schmutz‘ bezeichnet haben. Es gibt noch zwei Bars an der Oberfläche, aber jeder der Spaß haben will, muss sich hier herunter schleichen.
Du warst doch sicher zuerst oben die Stadt erkunden. Ist dir nichts aufgefallen?“
Er dachte einen Moment nach, bevor er nickte, aber sie weiterreden ließ.
„Die Menschen dort oben werden wie die Kühe zusammengepfercht. Jeder, der nicht arbeitet wird automatisch verbannt. Viele Leute sind, als die Stadt aufgeräumt wurde, in die Wüste geschickt worden. Ich und einige andere, haben uns hier runter zurückgezogen. Wir werden geduldet, weil die Menschen sonst durchdrehen würden. Man kann Leuten nicht den ganzen Spaß verbieten“, dabei zwinkerte sie ihn an und nahm einen Schluck aus ihrem Getränk.
„Nun, zurück zu dir. Was suchst du hier, Vitali? Oder heißt du mittlerweile anders?“
Er nahm selbst einen kleinen Schluck, bevor er antwortete: „Im Moment nenne ich mich Amon, aber die Wachen haben mich anscheinend durchschaut. Ich bin nur deswegen nicht rausgeschmissen worden, weil man mich für eine Aufgabe braucht.“
Bei diesen Worten zog Jennifer ihre Augenbrauen hoch und starrte ihn verblüfft an, bis er fortfuhr:
„Jemand stiehlt Prototypen aus dem Hauptgebäude des Konzerns. Laut einem der Männer verdächtigen sie die Wachen oder direkte Mitarbeiter, also brauchen sie jemand von außen.“
Die junge Frau schüttelte ihren Kopf und warf ihn dann lachend zurück.
„Der Diebstahl passiert doch mit vollstem Wissen der Leute dort oben. Die alte Rosie poliert ihnen so die Gehälter auf. Sei nicht blöd, da stimmt irgendetwas nicht und du lässt dich dort auch noch hineinziehen!“
„Wie dem auch sei, ich habe schon meine Bezahlung erhalten, also kann ich schlecht einfach so abhauen. Weißt du ob diese Rosie mit Prototypen handelt?“
Jennifer bekam einen besorgten Gesichtsausdruck, als sie seine Worte hörte und schüttelte dann den Kopf, bevor sie sprach:
„Rosie handelt nur in Kleinkram. Reinigungsalkohol, Bandagen, Skalpelle und ähnliches. Etwas wie einen Prototyp würde sie nie im Leben anfassen, das ist viel zu gefährlich für sie. Wenn du ein paar Tage hier bleibst, kann ich mich aber gerne für dich umhören.“
Dabei strich ihre Hand seine Schulter hinunter.
„Danke, aber ich glaube nicht, dass ich dich hier mit hineinziehen will. Wenn du mir sagst, wo diese Rosie ist, dann werde ich sie selbst aufsuchen.“
Die junge Frau zog ihre Hand zurück und kratzte sich kurz am Kopf.
„Untertags ist sie normalerweise bei der Stiege ganz am Ende des Kanals zu finden. Wenn du mit ihr reden willst, kannst du dort auf sie warten. Jetzt ist es aber zu spät dafür, sie schläft in einem der Gebäude hier unten, in welchem weiß ich aber auch nicht.
Bleib hier, ich habe mir eine Wohnung unter der Bar eingerichtet und ein Zimmer für dich frei.“
„Danke. Diesmal lässt du mich aber dafür bezahlen“, gab Vitali lächelnd zurück und zog die drei Geldscheine aus der Tasche.
Jennifers Augen wurden groß, als sie die Scheine sah und sie riss sie an sich.
„Was zur Hölle hast du dort oben gemacht?“, fragte sie ängstlich und der Wanderer zuckte mit den Schultern.
„Das ist mehr, als ich in einer Woche einnehme!“
Das Blut stieg dem Wanderer in die Ohren als er sie weiter verdutzt anstarrte.
„Das ist die Hälfte. Den zweiten Teil bekomme ich nachdem ich die Prototypen gefunden habe …“
Jennifer schob ihm das Geld wieder zurück und schüttelte erneut den Kopf.
„Vitali. Denk doch einmal nach! Irgendetwas stimmt hier nicht, wenn dir jemand freiwillig so viel Geld nachwirft!“, flehte sie ihn beinahe an und er konnte nichts weiter tun, als mit den Schultern zu zucken.
„Ich weiß“, wiederholte er, „aber ich habe das Geld schon angenommen. Während ich unterwegs bin, möchte ich, dass du es für mich aufbewahrst“, dabei schob er ihr die zwei größeren Scheine über den Tisch.
„Und wenn ich nicht wiederkomme, dann weiß ich zumindest, dass das Geld jemandem hilft, der es verdient hat“, sprach er und versuchte dabei zu lächeln.
Jennifer holte aus und gab ihm eine Ohrfeige, dass seine Ohren rauschten. Ihre Augen blickten traurig drein, als sie sich erhob und ihn aus nächster Nähe anbrüllte:
„Geld bringt mir nichts, wenn du auch noch tot bist! Denk an Joe, Emma, Mike! Alle sind sie tot, weil sie genau den gleichen Blödsinn gemacht haben! Wir sind die letzten Zwei, die noch übrig sind!“
Erschüttert rieb sich Vitali die Wange und fragte: „Emma ist tot?“
Er hatte sie vor ein paar Monaten in einer der Randstädte getroffen und sie hatte absolut gesund gewirkt.
„Sie war bei einer der Expeditionen ins Zentrum dabei! Wollte genug Geld machen, um sich zur Ruhe setzen zu können …
Sie hat mich davor noch einmal besucht, um sich zu verabschieden. Genau wie du …
Ich habe sie angefleht, hier zu bleiben, aber sie wollte sich nicht von diesem Blödsinn abhalten lassen!
Geld bringt uns nichts, wenn wir nicht leben, Vitali! Ich hab’s dir damals gesagt und anscheinend bist du noch immer nicht erwachsen geworden!“
Dabei drehte sie sich um und er konnte ihre Schultern beben sehen. Etwas in ihm schrie ihn an, jetzt zu ihr zu gehen, aber seine Beine wollten ihm nicht gehorchen.
Mike, Joe, Judy, Sebastian, Boris, Stefan, Beatrice und jetzt auch Emma.
Die einzigen Menschen, die er je als Familie bezeichnet hatte, waren jetzt tot. Bis auf Jennifer.
Sie drehte sich in dem Moment um, als er hinter ihr stand und sie umarmten sich.
„Wir sind trotzdem eine Familie!“, schluchzte sie an seiner Schultern und er war froh, dass sie seine geröteten Augen nicht sehen konnte.
Emma war wie eine Mutter für ihn gewesen. Wenn er vor den paar Monaten nur bei ihr geblieben wäre, hätte er sie vielleicht retten können.
Die beiden standen lange so da, bis sie sich endlich voneinander lösten.
Jennifer zeigte ihm den versteckten Eingang zu ihrem Zuhause und Vitali staunte nicht schlecht, als er die Ausstattung der kleinen Wohnung sah. Sie hatte jeglichen Luxus, den man an der Oberfläche erwarten würde, inklusive eines der alten Fernsehgeräte.
Als er sich auf die gemütliche Couch setzte, spürte er die Müdigkeit in sich aufsteigen.
Er wagte einen kurzen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk und stellte fest, dass es bereits halb sechs Uhr morgens war.
Das letzte Mal, dass er geschlafen hatte lag nun schon über zwei Tage zurück, dachte er verblüfft und versank augenblicklich in einen tiefen Schlaf.