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Das Theorem der komparativen Vorteile
ОглавлениеNatürlich hat das herrschende akademische, politische und ideologische Denken nicht das geringste Interesse daran, die zu beobachtenden Erscheinungen der kapitalistischen Globalisierung auf ihren Krisenbegriff zu bringen. Stattdessen greift man theoretisch auf die ältesten Hüte zurück, um eine Verträglichkeit von Globalisierung und nationalökonomischer bzw. sozialökonomischer Struktur zu suggerieren, also die reale Zuspitzung des Selbstwiderspruchs wegzuleugnen und die Weltkrise in lauter »Chancen« umzudefinieren.
Das theoretische Konstrukt, mit dem die wirtschaftswissenschaftliche Zunft dabei unverdrossen hausieren geht, ist das sogenannte »Gesetz der komparativen Kosten« oder der »komparativen Vorteile«. Dieses angebliche Gesetz, aufgestellt von David Ricardo (1772-1823), dem neben Adam Smith bedeutendsten Klassiker der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre, soll die Vorteile der »internationalen Arbeitsteilung« zwischen kapitalistischen Volkswirtschaften beweisen. Es ist daher zugleich ein freihändlerisches Credo gegen nationalökonomische Abschottung, Schutzzollpolitik und staatliche Reglementierung des Außenhandels. Kein Wunder, dass dieses Theorem heute wieder eifrig bemüht wird, scheint es doch nicht nur argumentative Gehhilfen für die selber gedankenlos gewordene theoretische Analyse der kapitalistischen Entwicklung durch die offizielle bürgerliche Wissenschaft zu bieten, sondern auch wunderbar zum neoliberalen ideologischen Weltkonsens zu passen.
Natürlich wird niemand etwas dagegen einzuwenden haben, dass durch die Teilung von Funktionen der Reproduktion Mühe und Aufwand gespart werden, was zur Erleichterung und Verbesserung des Lebens beiträgt. Und bei entwickelten Produktivkräften, also auch Kommunikations- und Verkehrsmitteln, ist ein derartiges Zusammenwirken in der Tat nicht allein auf lokaler und regionaler oder nationaler, sondern auch auf weltgesellschaftlicher Ebene praktisch möglich.
Die liberale Ideologie des Kapitalismus beginnt immer mit zunächst einleuchtend scheinenden, einfachen und durchsichtigen Erwägungen in Bezug auf Bedürfnisse, materielle Güter, menschliche Potentiale usw., in denen sie aber wie ein Trickbetrüger regelmäßig die irrationalen kapitalistischen Voraussetzungen entweder verschweigt oder sie klammheimlich hintenherum einschmuggelt, sodass das wirkliche Resultat ein ganz anderes ist, als es das Räsonnement versprochen hat. Auch Ricardo bemüht in seinem Hauptwerk »Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung« zunächst den gesunden Menschenverstand, um sein Theorem zu begründen:
»Es ist für das Wohl der Menschheit ... wichtig, dass unsere Genüsse durch bessere Arbeitsverteilung erhöht werden sollten, d.h. dadurch, dass ein jedes Land solche Güter erzeugt, für welche es sich infolge seiner Lage, seines Klimas und seiner anderen natürlichen oder künstlichen Vorteile eignet, und dass man sie für die Güter anderer Länder austauscht ... Unter einem System von vollständig freiem Handel widmet natürlicherweise jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Verwendungen, die für es am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Nutzens ist wunderbar mit der allgemeinen Wohlfahrt der Gesamtheit verbunden. Indem es den Fleiß anregt, die Erfindungsgabe belohnt und am erfolgreichsten die besonderen Kräfte, die von der Natur verliehen sind, ausnutzt, verteilt es die Arbeit am wirksamsten und wirtschaftlichsten; während es durch die Vermehrung der allgemeinen Masse der Produktionen allgemeinen Nutzen verbreitet und die Universalgesellschaft der Nationen der zivilisierten Welt durch ein gemeinsames Band des Interesses und Verkehrs miteinander verbindet. Dieser Grundsatz ist es, welcher bestimmt, dass Wein in Frankreich und Portugal, Getreide in Amerika und Polen angebaut und Metall und andere Waren in England verfertigt werden sollen« (Ricardo 1980/1817, 110 f.).
Das klingt alles nur deswegen gut, weil Ricardo hier gänzlich von kapitalistischen Kategorien und Kriterien abstrahiert und so tut, als hätten wir es gewissermaßen nur mit naturalen Faktoren zu tun. Wäre es so, dann würden allerdings die Menschen in verschiedenen Weltregionen nach gemeinschaftlicher Absprache über die wechselseitigen Bedürfnisse und Möglichkeiten direkt füreinander produzieren, und es gäbe wohl einen weltumspannenden Gütertransport, aber keinen Weltmarkt, keine Konkurrenz und übrigens auch keine Nationalökonomien und Nationalstaaten; ebenso wenig ein geschlechtliches Abspaltungsverhältnis. Unter den Bedingungen von Markt, Konkurrenz und Nationalökonomie als Sphären und Bedingungen der Kapitalverwertung sieht die Sache aber ganz anders aus – und Ricardo selbst argumentiert in Wahrheit unter der Fragestellung, wie die Profitrate zu erhöhen sei!
Profit ist aber nichts anderes als Plusmacherei in der reinen Geldform; eben der kapitalistische Selbstzweck, aus Wert mehr Wert und damit aus Geld mehr Geld zu machen, was auf der Ebene bloß naturaler Produkte ein völliger Widersinn wäre. Bei seiner Erörterung der internationalen ökonomischen Beziehungen tut Ricardo nun plötzlich so, als ginge es gar nicht um den Profit in der Geldform, sondern allein um die naturale, technische Arbeitsteilung. Zwar muss er zugeben, dass sich die Transaktionen vermittelt durch Geld (damals noch in Gestalt von Edelmetall) abspielen; dies Faktum soll jedoch angeblich keinerlei eigenständige Bedeutung haben:
»Da man das Gold und Silber nun einmal zum allgemeinen Maßgut der Zirkulation gewählt hat, werden beide durch den Wettbewerb im Handel in solchen Mengen unter die verschiedenen Länder der Erde verteilt, dass sie sich dem natürlichen Verkehr, welcher eintreten würde, wenn keine derartigen Metalle existierten und der Handel zwischen den Ländern ein bloßer Tauschhandel wäre, von selbst anpassen« (Ricardo 1980/1817, 113).
Ricardo vertritt hier die Auffassung vom »Geldschleier«, wonach das Geld ein bloßer »Schleier« über naturalen Austauschbeziehungen und als bloß vermittelndes Medium bei der ökonomischen Analyse quasi zu vernachlässigen sei. Indem so vom kapitalistischen Charakter der Austauschverhältnisse abgesehen und klammheimlich auf die Ebene einer bloß naturalen Beziehung übergegangen wird, kann die vermeintliche gegenseitige »komparative« Vorteilhaftigkeit selbst bei unterschiedlicher Produktivität abgeleitet werden:
»Hätte Portugal mit anderen Ländern keine Handelsbeziehung, so würde es gezwungen sein, statt einen großen Teil seines Kapitals und seines Fleißes zur Erzeugung von Weinen zu verwenden, mit denen es für seinen eigenen Konsum Tuch- und Metallwaren anderer Länder ersteht, einen Teil dieses Kapitals in der Fabrikation dieser Güter anzulegen, die es wahrscheinlich auf diese Weise in geringerer Qualität und Quantität erhalten würde. Diejenige Weinmenge, welche es im Tausche gegen englisches Tuch hingeben muss, wird nicht durch die betreffenden Arbeitsmengen bestimmt, welche der Produktion jedes dieser Güter gewidmet wird, wie das der Fall wäre, wenn beide Güter in England oder in Portugal erzeugt würden. England kann vielleicht so gestellt sein, dass man zur Tuchfabrikation der Arbeit von 100 Mann auf ein Jahr bedarf; und wenn es versuchte, den Wein zu erzeugen, möchte die Arbeit von 120 Mann für dieselbe Zeit nötig sein. Infolgedessen läge es in Englands eigenem Interesse, Wein zu importieren und durch die Ausfuhr von Tuch zu erstehen. Um den Wein in Portugal zu produzieren, könnte vielleicht die Arbeit von nur 80 Mann im Jahr erforderlich sein, und um das Tuch daselbst zu fabrizieren, die von 90 Mann in derselben Zeit. Daher würde es für Portugal vorteilhaft sein, Wein zu exportieren im Tausche für Tuch. Dieser Tausch könnte sogar stattfinden, obgleich das von Portugal eingeführte Gut dort mit weniger Arbeit als in England produziert werden könnte. Obwohl es das Tuch mit der Arbeit von 90 Mann herstellen könnte, würde es dieses doch aus einem Lande importieren, wo man zu seiner Fabrikation die Arbeit von 100 Mann benötigte, weil es für Portugal vorteilhaft sein würde, sein Kapital zur Produktion von Wein zu verwenden, für welchen es von England mehr Tuch erhalten würde, als es durch Ablenkung eines Teiles seines Kapitals vom Weinbau zur Tuchmanufaktur produzieren könnte. Auf diese Weise würde England das Arbeitsprodukt von 100 Mann für das Arbeitsprodukt von 80 hingeben. Ein solcher Austausch könnte zwischen einzelnen Personen eines und desselben Landes nicht stattfinden. Die Arbeit von 100 Engländern kann nicht für die von 80 gegeben werden; wohl aber kann das Arbeitsprodukt von 100 Engländern für dasjenige von 80 Portugiesen, 60 Russen oder 120 Ostindiern hingegeben werden...« (Ricardo 1980/1817, 112).
Das Argument läuft also darauf hinaus, dass in diesem Fall Portugal mehr Tuch erhalten wird, wenn es sich auf den Weinbau spezialisiert und das Tuch aus England im Austausch gegen Wein importiert, obwohl es selber das Tuch mit weniger Arbeit herstellen könnte, diese aber vom Weinbau abgezogen werden müsste. In Wirklichkeit geht es aber weder um Tuch noch um Wein, sondern einzig um abstrakten Profit in der Geldform, jenseits aller naturalen Bedürfnisse und letztlich gegen diese; und in diesem Kontext stellt sich das Problem der Produktivität bzw. ihrer Unterschiede ganz anders dar. Ricardo ist hier so generös, im theoretischen Beispiel Portugal die höhere Produktivität sowohl bei Wein als auch bei Tuch zu überlassen. In Wirklichkeit verhielt es sich natürlich schon damals genau umgekehrt, denn als Vorreiter der Industrialisierung war England in der Tuchproduktion haushoch überlegen und gerade dabei, die gesamte handwerkliche Textilproduktion in Europa und Übersee (Indien) zu ruinieren. Empirisch stellte sich der Produktivitätsabstand also keineswegs so rosig als fruchtbare internationale Arbeitsteilung mit beiderseitigen »komparativen Vorteilen« dar. Ricardo beeilte sich trotzdem, mit einem anderen Beispiel diese segensreiche Wirkung auch bei einem großen einseitigen Produktivitätsvorsprung zu postulieren:
»Es wird daher einleuchten, dass ein Land, welches sehr bedeutende Vorteile im Maschinenwesen und in der Technik besitzt und deshalb imstande sein kann, gewisse Güter mit viel weniger Arbeit als seine Nachbarn zu erzeugen, gegen solche Güter einen Teil des für seinen Konsum notwendigen Getreides importieren kann, selbst wenn sein Boden fruchtbarer wäre und das Getreide sich mit weniger Arbeit als in dem Lande, woher es importiert wurde, erzeugen ließe. Zwei Menschen können sowohl Schuhe wie Hüte herstellen, und doch ist der eine dem anderen in beiden Beschäftigungen überlegen. Aber in der Herstellung von Hüten kann er seinen Konkurrenten nur um 20 Prozent übertreffen und in der von Schuhen um 33 Prozent. Wird es dann nicht im Interesse beider liegen, dass der Überlegenere sich ausschließlich auf die Schuhmacherei und der darin weniger Geschickte auf die Hutmacherei legen sollte?« (Ricardo 1980/1817, 113).
Also auch für den Fall eines »bedeutenden« Gefälles der Produktivität wieder das Argument, für ein Land (eine Nationalökonomie) sei der arbeitsteilige wechselseitige Austausch zweier verschiedener Waren mit einem anderen Land unter allen Umständen und auch dann von Vorteil, wenn es beide Waren selber produktiver herstellen kann, aber in unterschiedlichem Grad.
Ricardo macht hier nebenbei eine weitere klammheimliche Voraussetzung, indem er die beiden Nationalökonomien idealtypisch als »zwei Menschen« definiert, die als unabhängige Produzenten auftreten, und so tut, als könne man diesen Sachverhalt auf die wirklichen Individuen in diesen Nationalökonomien herunterrechnen – während es sich in Wirklichkeit der Mehrzahl nach um Lohnabhängige handelt, die keineswegs als unabhängige Produzenten in biblischer Manier Wein und Tuch austauschen, sondern ihre Arbeitskraft gegen Geld (Kapital) eintauschen müssen, also bloßes Material des betriebswirtschaftlichen Verwertungsprozesses sind.
Was passiert nun unter den wirklichen Bedingungen des kapitalistischen Verwertungsprozesses beim Warentausch zwischen Nationalökonomien mit unterschiedlicher Produktivität? Selbst wenn die naturale Proportionalität des arbeitsteiligen Gütertauschs auf der abstrakten nationalökonomischen Ebene stimmen würde, heißt das keineswegs, dass sie auch auf der Ebene der abstrakten Wertverhältnisse und der angewendeten Lohnarbeit stimmen muss. Wenn das eine Land die Tuchproduktion einstellt, um sich auf Wein zu spezialisieren, geht dies ja weder innerhalb der eigenen Nationalökonomie noch im Verhältnis zur anderen, Tuch produzierenden, in der Form freiwilliger und alle Beteiligten berücksichtigender Absprachen vor sich, sondern in der Form der blinden Konkurrenz und ihrer Resultate, also in der Form des Ruins der eigenen Tuchproduktion (wie es Ricardos Zeitgenossen real erlebten). Wenn nun eine entsprechende Menge von Kapital in die zusätzliche Weinproduktion fließt, damit der Austausch mit dem Tuch stattfinden kann, heißt dies keineswegs, dass automatisch die in der Tuchproduktion freigesetzten Lohnarbeiter in die Weinproduktion überführt werden, und wenn, dann nicht automatisch zu denselben Bedingungen von Lohn usw. Was also für die nationalökonomischen Austauschverhältnisse postuliert wird, geht an der Lage der wirklichen Individuen vorbei.
Aber auch nationalökonomisch gesehen trifft Ricardos Argument, sobald man von den naturalen auf die Verwertungs-Verhältnisse übergeht, nur dann zu, wenn der Abstand in der Produktivität ein bestimmtes Ausmaß nicht überschreitet und sich auf den Umkreis weniger Waren beschränkt. Stets muss das weniger produktive Land im Austausch mit dem produktiveren relativ mehr Arbeits- und damit Wertmengen (bezogen auf den eigenen Standard) hergeben als es in Gestalt der anderen Ware zurück erhält. Da aber im kapitalistischen Sinne stets der abstrakte Wert das bestimmende Moment ist, das sich in Geldpreisen ausdrückt, heißt das nichts anderes, als dass es beim Tausch dieser Waren ständig relativ teurer einkaufen muss, als es verkaufen kann, was nichts mit der naturalen Menge von Gebrauchsgütern zu tun hat.
Das wird vielleicht hingenommen werden, wenn dafür z.B. eine relativ größere Menge an Tuch verbraucht werden kann, als sie im eigenen Land zu eigenen Bedingungen herstellbar wäre; allerdings ist dieser Verbrauch dann sozial viel ungleicher verteilt als im Land mit der höheren Produktivität: Das fremde Tuch kann nur unter der Bedingung gegen einen relativ höheren Arbeitsaufwand bei der eigenen Weinproduktion gegen Wein als Äquivalent ausgetauscht werden, dass die Lohnarbeit in der Weinproduktion entsprechend relativ niedriger bezahlt wird und sich der Produktivitätsabstand auf deren Kosten wertmäßig ausgleicht. Da dies jedoch wieder negative Rückwirkungen auf die übrige binnenökonomische Reproduktion hat (Ausfall von Kaufkraft), funktioniert auch dann der internationale Warenverkehr auf die Dauer nur, wenn die Produktivitätsvorteile einigermaßen gestreut sind, also nicht so einseitig wie bei Ricardo dargestellt.
Das ist nicht nur graue Theorie, sondern beweisbare historische Praxis. Das von Ricardo gewählte zentrale Beispiel für sein Theorem, Wein aus Portugal und Tuch aus England, war keineswegs ein fiktives. Es beruhte auf dem so genannten Methuen-Handelsvertrag zwischen England und Portugal, der am 27. Dezember 1703 abgeschlossen wurde. Dessen reale Resultate blamierten Ricardos Argumentation allerdings schon, bevor dieser sie überhaupt niedergeschrieben hatte; ein Beispiel für die systematische ideologische Ignoranz schon der bürgerlichen Klassik in der VWL, die sich seither immer weiter gesteigert hat bis zur völligen Verleugnung der sozialen Tatsachen. Da es im Kapitalismus nicht um die naturale Versorgung und Bedürfnisbefriedigung, sondern einzig um den abstrakten Wert in der Geldform und dessen Maximierung geht, mußte sich der angebliche wechselseitige »komparative Vorteil« sehr schnell negativ für Portugal auswirken, wie das heutige anonyme Räsonnement in einem publizistischen Flaggschiff des Wirtschaftsliberalismus mit aller Gemütsruhe feststellt:
»Während Portugal seinen Markt für englische Textilien öffnete, verpflichtete sich England, die portugiesischen Weine zollmäßig um ein Drittel weniger zu belasten als die französischen Konkurrenzprodukte, an die sich die englischen Konsumenten gewöhnt hatten. Dieser englisch-portugiesische Warenaustausch ging in die Lehrbücher über den Außenhandel ein. David Ricardo ... nahm ihn als Anschauungsbeispiel für seine Theorie der komparativen Kostenvorteile ... Über die Vor- und Nachteile für England und Portugal aus dem Methuen-Handelsabkommen, benannt nach dem englischen Diplomaten John Methuen (1650-1706), gingen die Meinungen allerdings bald auseinander. Im bilateralen Handel ergab sich für Portugal im allgemeinen ein stark negativer Saldo. Es bezahlte also mit dem reichlichen Gold aus seiner Kolonie Brasilien, was zur Verbreitung der Goldwährung in England beitrug ... Adam Smith ... konstatierte in seinem Werk ›The Wealth of Nations‹, dass der Vertrag als ein Meisterwerk der englischen Handelspolitik gefeiert worden sei und ›fast all unser Gold‹ aus Portugal komme« (Neue Zürcher Zeitung v. 24.12.2003).
Auf der kapitalistisch einzig relevanten Ebene, der von abstraktem Wert und Geldmaximierung, blutete Portugal also eher aus; ähnlich übrigens wie die ehemalige Weltmacht Spanien. Der Niedergang der Kolonial- und »Goldmächte« Spanien und Portugal gegenüber England und Holland ist oft unter dem Aspekt beschrieben worden, dass in der nordeuropäischen und angelsächsischen Welt protoindustrielle Produktion, Produktivitätssteigerung und Exportstärke (in Vermittlung mit »protestantischem« Geist) ihre Überlegenheit gegen die bloß äußere iberische Kolonisation gezeigt und den lateinamerikanischen Goldschatz abgesaugt hätten, so dass dieser letztlich nicht Spanien und Portugal, sondern Holland und England kapitalistisch progessiv entwickeln konnte. Die reale Historie ist insofern ein Schlag ins Gesicht für Ricardos bis heute immer wieder hervorgekramtes Theorem. Im Sinne des »abstrakten Reichtums« (Marx) war Portugal der eindeutige Verlierer beim angeblich wechselseitigen »komparativen Vorteil«; und da die Bedürfnisbefriedigung auf der naturalen Ebene in kapitalistischer Form eben von der Bewegung des »abstrakten Reichtums« gesteuert wird, waren die sozialen »Nebenwirkungen« für die Portugiesen entsprechend verheerend:
»Unter wirtschaftlichen Aspekten fühlte sich aber ... Portugal überlistet. Dies nicht nur, weil englische Textileinfuhren den heimischen Erzeugern zu schaffen machten. Vielmehr kam es auch zu einer Explosion des Weinbaus. Viele Landbesitzer kultivierten nicht mehr Getreide, sondern wegen der attraktiveren Preise Trauben. Es kam zu Überproduktion, Preisverfall und Hungersnot« (Neue Zürcher Zeitung, a.a.O.).
Als Schulbeispiel taugt Ricardos historische Reminiszenz also eher für das genaue Gegenteil seiner Argumentation. Dabei ging es beim Methuen-Freihandelsvertrag wirklich nur um die einzelnen Waren Wein und Tuch; und selbst bei dieser Begrenzung auf ein enges Spektrum waren die Folgen für Portugal bereits ziemlich verheerend. Wenn aber das internationale Gefälle der Produktivität tatsächlich absolut und in großem Maßstab zunimmt, und wenn es nicht mehr nur einzelne Waren, sondern den gesamten Umkreis der Warenproduktion umfasst, also das allgemeine Produktivitätsniveau, dann hört der »komparative Vorteil« für die unterproduktive Nationalökonomie erst recht auf, selbst in der sozial disparaten Verteilung, und es tritt genau jener Mechanismus ein, wie er als Problem der »Unterentwicklung« die kapitalistische Geschichte begleitet hat: Eine zu große Masse an eigenem Arbeitsaufwand (und damit an ökonomischem Wert gemäß den eigenen Binnenstandards der Produktivität) muss gegen eine immer geringere Masse an fremdem Arbeitsaufwand (und damit an ökonomischem Wert) getauscht werden – jetzt nicht mehr bezogen auf einige einzelne Waren, sondern bezogen auf die gesamte gesellschaftliche Reproduktion, soweit sie in den Weltmarkt einbezogen ist.
Und das wird sie zwangsläufig immer mehr, je stärker die binnenökonomische Kaufkraft zurückgeht. Geschieht dies in den entwickelten Nationalökonomien relativ, weil die Produktivität überproportional im Verhältnis zu den Geldeinkommen ansteigt, so geschieht dasselbe in den »unterentwickelten« Ländern absolut, und zwar genau umgekehrt deswegen, weil sie in der Produktivkraftentwicklung nicht mithalten können und dadurch die Geldeinkommen ihrer Bevölkerung immer weiter absinken. In beiden Fällen ist das Resultat die umso stärkere Weltmarktorientierung.
Es handelt sich dabei um nichts anderes als jene Wirkung ungleicher Produktivitätsstandards ohne gemeinsamen Maßstab, wie sie sich schon anhand der Debatte über den »ungleichen Tausch« gezeigt hat: Das relativ unterproduktive Land wird nicht an seinem eigenen Standard, sondern an dem des produktiveren Landes gemessen (während Ricardo unterstellt, es gäbe im internationalen Warentausch überhaupt keinen Produktivitätsmaßstab mehr, was er nur suggerieren kann, weil er pseudo-naiv rein auf der naturalen Ebene statt auf der Verwertungsebene argumentiert).
Indem auf diese Weise große binnenökonomische Arbeitsmengen auf dem Weltmarkt nicht als Werte anerkannt werden, muss die unterproduktive Nationalökonomie bei wachsendem Abstand der Produktivität und gleichzeitig wachsender Einbeziehung der Gesellschaft in den Weltmarkt relativ immer mehr arbeiten und bekommt dafür auf dem Weltmarkt relativ immer weniger Gegenleistung. Und da sich dieses Verhältnis natürlich in den Preisen ausdrückt, ensteht ein wachsendes Missverhältnis von Exportpreisen und Importpreisen (terms of trade), das nur durch Außenverschuldung (zeitweilig) ausgeglichen werden kann.
Schon im frühen 19. Jahrhundert fand Ricardos »scharfsinnige« Milchmädchenrechnung energischen Widerspruch von Ökonomen anderer europäischer Länder, die von den Folgen der britischen Exportoffensive mit billigen Industrieprodukten (an erster Stelle Textilien) heimgesucht wurden. Vor allem der nationalistische deutsche Wirtschaftstheoretiker Friedrich List (1789-1846) zeigte, dass Ricardos Theorem der komparativen Kosten bei einem zu großen und das gesamte Produktionsniveau erfassenden Produktivitätsgefälle falsch war und verlangte daher Schutzzölle für die noch unentwickelte deutsche Industrie; diese sollten bloß vorübergehende »Erziehungszölle« sein, bis das Produktivitätsgefälle überwunden sei.
Bekanntlich war dieser Weg im 19. Jahrhundert tatsächlich erfolgreich; aber nur deswegen, weil der Produktivitätsabstand zwischen England und den kontinentaleuropäischen Ländern noch nicht uneinholbar groß war. Im 20. Jahrhundert dagegen wuchs dieser Abstand zwischen den industrialisierten Staaten des kapitalistischen Zentrums und der globalen Peripherie bereits derart an, dass ein Anschluss an die Industrialisierung teils nur noch durch staatskapitalistische Abschottung (wie im Ostblock) und damit um den Preis langfristiger Stagnation für einige Jahrzehnte versucht werden konnte, teils aber überhaupt nur ein Wunschtraum blieb (wie in den meisten Ländern der so genannten Dritten Welt).
Für die großen Weltregionen der Peripherie stellte sich die »internationale Arbeitsteilung« des Kapitals, von der Ricardo so geschwärmt hatte, schon während der Epoche des Booms nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils als die Degradation zu bloßen Rohstofflieferanten heraus, weil der klaffende Abgrund im Niveau der Produktivität jeden Versuch zunichte machte, mit eigenen Industrieprodukten konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt zu operieren. Die Mehrzahl der Länder auf der südlichen Halbkugel diente fast nur noch als Zulieferer jener Bodenschätze und Agrarprodukte, die in den kapitalistischen Zentren von Natur aus gar nicht oder nicht in ausreichendem Ausmaß vorhanden sind bzw. angebaut werden können.
Aber bei einem Warenaustausch über den Weltmarkt von Erdöl und Erdgas, Kupfer, Uran usw. sowie Kaffee, Tee, Kakao, Bananen usw. einerseits und Autos, Fernsehern, Flugzeugen usw. andererseits konnte sich die Kluft nur immer weiter vergrößern und der Verfall der terms of trade für die zurückgebliebenen Länder nur immer dramatischere Ausmaße annehmen.
Logischerweise mußte dies zweierlei bedeuten. Erstens wuchs die soziale Disparität in den Ländern der Dritten Welt parallel zur Kluft des Produktivitätsgefälles auf dem Weltmarkt und zum Verfall der terms of trade ebenfalls permanent an: Der Austausch von höherwertigen Industrieprodukten mit den Ländern des Zentrums schrumpfte zusehends auf eine sich ausdünnende Oberschicht zusammen, die gewissermaßen die Gesetze des Weltmarkts nach innen repräsentierte und exekutierte, während die Masse der Bevölkerung selber zum bloßen Rohmaterial für die Förderung der Rohstoffe degradiert oder schon damals »überflüssig« wurde. Zweitens sank der relative Anteil der peripheren Länder am Weltmarkt selbst bei absolut wachsender Weltmarktintegration schon während der Boomphase ab, während spiegelbildlich dazu die immer mühsamer zu bedienende Außenverschuldung anwuchs.
Das ist allerdings erst recht keine bloße Theorie mehr, sondern praktische Welterfahrung über Jahrzehnte hinweg. Die Weltwirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts hat das Ricardosche Theorem der komparativen Kosten und »Vorteile« durch die Entwicklung der realen Beziehungen zwischen der relativ unterproduktiven Peripherie und den hochproduktiven kapitalistischen Zentren endgültig praktisch widerlegt, und zwar vernichtend. Deshalb waren die mehr oder weniger kritischen »Entwicklungstheorien« der 60er und 70er Jahre allesamt von diesem unabweisbaren Faktum geprägt, auch wenn ihre theoretischen Erklärungen (»ungleicher Tausch«) und praktischen Vorschläge (Schutzzölle, Abschottung, »Importsubstitution« durch binnenökonomische und »autozentrierte« Industrialisierung etc.) verkürzt, weil auf die apriorischen Formen des warenproduzierenden Weltsystems fixiert waren.