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Kapitalexport und multinationale Konzerne

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Parallel zum allseitigen konkurrierenden Warenexport entwickelte sich ein Export anderer Art, nämlich über den Export von Waren hinaus der Export von Kapital. Dies ist nur eine logische Konsequenz: Wenn der innere Widerspruch zu seiner Verlagerung nach außen drängt und der Warenexport eine immer größere Bedeutung erlangt, liegt es nahe, diese Waren gleich selber in den diversen Bestimmungsländern zu produzieren, also dort Sachkapital zu investieren. Ein derartiger Kapitalexport war im 19. Jahrhundert noch in einem solchen Maße vernachlässigenswert, dass ihn Ricardo in seinem Theorem der komparativen Kosten als sinnvolle Möglichkeit ausschloss:

»Der hierbei in Betracht kommende Unterschied zwischen einem einzigen Lande und mehreren ist leicht zu ermessen, wenn man die Schwierigkeit in Betracht zieht, mit welcher sich das Kapital, um eine einträgliche Verwendung zu suchen, aus einem Lande in ein anderes fortbewegt, und die Leichtigkeit, mit der es in demselben Lande ständig aus der einen Provinz in die andere wandert« (Ricardo 1980/1817, 112 f.).

Ricardo hat auch allen Grund, den für ihn zeitgenössischen empirischen Istzustand eines kaum vorhandenen Exports von Sachkapital zum Wesensmerkmal des Kapitals zu verallgemeinern, denn sein Postulat einer segensreichen »internationalen Arbeitsteilung« setzt die internationale Immobilität des Kapitals geradezu voraus. Das Verhältnis der komparativen Kosten führt nämlich in seinem Beispiel von Wein und Tuch (beides in Portugal billiger produzierbar als in England, aber Wein mehr als Tuch) nur dann zur nationalökonomisch arbeitsteiligen Produktion von Wein in Portugal und Tuch in England, wenn eine grenzüberschreitende Wanderung von Kapital praktisch ausgeschlossen ist. Wenn aber nicht, wäre die Konsequenz eine völlig andere, wie Ricardo selber weiß:

»Zweifellos würde es für die englischen Kapitalisten und für die Konsumenten beider Länder vorteilhaft sein, dass unter solchen Umständen Wein und Tuch beide in Portugal gemacht würden, und dass infolgedessen das Kapital und die Arbeit, die in England bei der Herstellung von Tuch Verwendung finden, zu dem Zwecke nach Portugal hinüber geleitet würden« (a.a.O., 113).

Das gilt noch viel mehr dann, wenn man von der falschen naturalen Betrachtungsweise weggeht und dasselbe Problem unter Verwertungs- und Konkurrenzgesichtspunkten betrachtet. Was aber nicht sein darf, das kann auch nicht sein; und so tröstet sich Ricardo damit, dass es an der nationalen Bodenständigkeit des Kapitals auch in Zukunft nicht fehlen wird:

»Indessen zeigt die Erfahrung, dass die eingebildete oder tatsächliche Unsicherheit des Kapitals, wenn es nicht unter der unmittelbaren Aufsicht seines Eigentümers steht, zusammen mit der natürlichen Abneigung, die jeder Mensch hat, das Land seiner Geburt und seiner Beziehungen zu verlassen, um sich mit all seinen eingewurzelten Gewohnheiten einer fremden Regierung und neuen Gesetzen anzuvertrauen, die Auswanderung des Kapitals hemmen. Diese Gefühle, deren Schwinden ich nur bedauern würde, bestimmen die meisten Menschen von Vermögen, sich lieber mit einer niedrigen Profitrate in ihrer Heimat zu begnügen, als nach einer vorteilhafteren Verwendung ihres Vermögens bei fremden Nationen zu suchen« (Ricardo, a.a.O., 113).

Es sind ganz offensichtlich ökonomisch fadenscheinige und nur sozialpsychologisch-patriotische, dem zeitgenössischen aufsteigenden Nationalismus entsprechende Argumente, mit denen Ricardo die immanenten Voraussetzungen seines (ohnehin falschen) Theorems zu retten sucht. Allerdings sollte die nationalökonomische und nationalstaatliche Zentrierung der Kapitalakkumulation tatsächlich noch ein gutes Jahrhundert lang bestehen bleiben. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch entwickelte sich der Kapitalismus hauptsächlich innerhalb der nationalen Mauern. Zwar wuchs der Export bis zum Ersten Weltkrieg stetig an, aber das Investitionsverhalten folgte im großen und ganzen dem Ricardoschen Postulat (vgl. dazu genauer das vierte Kapitel).

Das änderte sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur in einem geringen Ausmaß. Bekanntlich waren es vor 1914 und während des Ersten Weltkriegs vor allem Theoretiker linksreformerischer oder marxistischer Provenienz wie der englische Ökonom John A. Hobson und der russische staatssozialistische Revolutionär Lenin, die den Kapitalexport (im Sinne von Realinvestitionen in Produktionsanlagen) als neues Entwicklungsmerkmal heraufdämmern sahen. Nicht umsonst handelte es sich dabei hauptsächlich um Imperialismustheorien, die den Kampf der kapitalistischen Großmächte um die globale Aufteilung der kolonialen Gebiete ökonomisch begründen sollten. Besonders Lenin strapazierte in diesem Sinne den herangereiften Zwang zum Kapitalexport als Erscheinung eines neuen kapitalistischen Entwicklungsstadiums, um die zeitgenössische politische Konstellation der beginnenden Weltkriegsepoche zu erklären.

Aber tatsächlich handelte es sich bei dieser Einschätzung eher um eine Extrapolation, um eine logische Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen in einem ganz anderen, Lenins Zeit noch unbekannten Zusammenhang. Damals floß der erst beginnende Kapitalexport in der Tat größtenteils in die jeweils eigenen Kolonien, wo aber alle Bedingungen für eine Kapitalakkumulation in großem Ausmaß fehlten. Die Kolonien bildeten ja ökonomisch, soweit nicht in vormodernen agrargesellschaftlichen Strukturen befangen, nur eine Art Wurmfortsatz der imperialen Nationalökonomien. Im Verhältnis zu den Gesamtinvestitionen blieben die Kapitalexporte in die Kolonien marginal (nur in Großbritannien nahmen sie einen relativ höheren Prozentsatz als bei den übrigen Großmächten ein).

Dort aber, wo Kapitalexport als Konsequenz gesteigerten Warenexports der kapitalistischen Logik besser entsprochen hätte, also im Verhältnis der kapitalistisch fortgeschrittenen Nationalökonomien untereinander, konnte Lenin ihn sich bezeichnenderweise nur als Folge von militärischen Annexionen vorstellen, somit als bloße Einverleibung gewissermaßen eines Brockens fremder Nationalökonomie in die eigene. Nur im Gefolge militärischer Eroberungen mit ungeheurer Anspannung aller gesellschaftlichen Kräfte war jedoch kein betriebswirtschaftlicher Kapitalexport im großen Maßstab auf den Weg zu bringen; und es wäre dann ja bei schlichter Einverleibung von Gebieten unter der jeweils eigenen nationalstaatlichen Fuchtel auch logisch gar kein »Export« mehr gewesen.

Das zeigt, wie sehr nicht nur das Denken, sondern auch die realen Verhältnisse noch in der nationalökonomischen Zentrierung befangen waren. Ein Indiz ist die ganze damalige Debatte eher im umgekehrten Sinne: dass der Kapitalexport als Phänomen durch seine bloße Realität selbst im kleinsten Maßstab bereits theoretisch Furore machen konnte, ist mehr ein Hinweis auf sein fast völliges Fehlen im 19. Jahrhundert als auf seine bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs erreichte Durchschlagskraft.

Zur wirklich neuen Qualität wurde der Kapitalexport in Wahrheit erst nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend mit dem Nachkriegsboom seit den fünfziger Jahren. Ökonomisch war es die ebenfalls erst in diese Zeit fallende weltweite Durchsetzung der zweiten industriellen Revolution (fordistische Industrien, Automobilmachung der Gesellschaft, Kultur-und Freizeitindustrie etc.), die durch eine neue Qualität der Produktivkraftentwicklung von innen heraus den Druck auf die nationalökonomischen Grenzen erhöhte, zugleich supranationale Strukturen hervorbrachte und auf der Ebene des gesellschaftlichen Abspaltungsverhältnisses die Erwerbstätigkeit der Frauen in der Sphäre der »abstrakten Arbeit« sprunghaft ausdehnte. Politisch war es die Pax Americana, die im Unterschied zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bedingung dafür schuf, dass erstmals im größeren (und stetig wachsenden) Ausmaß ein Kapitalexport zwischen den nunmehr politisch nur noch gedämpft und militärisch gar nicht mehr rivalisierenden kapitalistischen Zentralmächten stattfinden konnte.

Natürlich hatte es vereinzelt auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg innerkapitalistischen Kapitalexport zwischen den großen Industriestaaten gegeben; aber der Umfang war so gering und die Ursachen wie die Auswirkungen daher so wenig Gegenstand der Forschung, dass »die Darstellung für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg auf unsystematischem und anekdotischem Material beruht« (Vernon 1979, 53). Erst mit der einsetzenden Flut des Kapitalexports auf Grundlage des Nachkriegsbooms und im politischen Rahmen der Pax Americana entwickelte sich auch rasch eine Debatte über »Die Internationalisierung des Kapitals« (Deubner u.a., 1979), die nicht mehr im alten Sinne vom politisch-militärischen Kampf um die nationalstaatlich-imperiale »Neuaufteilung der Welt« bestimmt war, sondern von den inneren ökonomischen Prozessen des Kapitals selbst, das über die Grenzen der Nationalökonomie und damit auch des Nationalstaats hinauszuwachsen begann (insofern gerade das Gegenteil einer vom nationalstaatlichen Imperialismus bestimmten Entwicklung).

Als zentraler und bald populärer Begriff dafür bürgerte sich seit den siebziger Jahren der Name der »Multis« ein, also der multinationalen Konzerne. Während sich der vorherige relativ geringe Kapitalexport im Verhältnis von Mutterländern und Kolonien ebenso wie im späteren Verhältnis von Industrieländern des Zentrums zu den Ländern der Dritten Welt hauptsächlich auf Rohstoffquellen und auf den Agrarsektor bezogen hatte, war der neue Kapitalexport der Multis zwischen den Industriestaaten des Zentrums selbst von vornherein auf die fortgeschrittene industrielle Produktion konzentriert. Der betriebswirtschaftliche Konkurrenzkampf um globale Marktanteile, bis dahin weitgehend vom Warensektor bestimmt, griff damit auf den Kapitalsektor über. Trotzdem übertraf die Bedeutung des Warenexports immer noch die des Kapitalexports bei weitem, auch wenn sich der Abstand rasch zu verringern begann.

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