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Globalisierungskritik auf zu kurzen Beinen

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Natürlich gibt es durchaus Kritik, und die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung hat bereits Millionen Menschen in aller Welt auf die Straße gebracht. Seit den späten 90er Jahren deuten die internationalen Großdemonstrationen von Seattle, Genua usw. und das jährliche Weltsozialforum als Gegeninstitution zur offiziellen neoliberalen Weltöffentlichkeit darauf hin, dass sich eine globale soziale Bewegung formiert, deren Konturen noch undeutlich sind. Es ist verständlich, dass eine solche soziale Bewegung von bestimmten unmittelbaren und negativen Erfahrungen ausgeht; von handfesten materiellen Problemen, für die nach einer Bewältigung gesucht wird, ohne dass zunächst die gesellschaftlichen und historischen Bedingungsgründe in den Blick kommen.

Auf dem Weg von der scheinbaren Unmittelbarkeit des sinnlich und sozial Erfahrenen zur weitergehenden Reflexion und zur Transzendierung des herrschenden gesellschaftlichen Systemzusammenhangs lauern aber die Fallgruben affirmativer Ideologiebildung, die den spontanen Protest in den Grenzen der tradierten und verinnerlichten Ordnung festhalten. Insofern muss eine weitergehende Reflexion die Oberfläche der Erscheinungen und Erfahrungen durchstoßen, um einen Blick für das Wesen des bestehenden Systems und die diesen Erfahrungen zu Grunde liegende gesellschaftliche Logik zu bekommen, die nicht so ohne weiteres ersichtlich ist.

Diese Aufgabe finden die sozialen Bewegungen des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur im Kontext der Globalisierung als einer neuen Qualität der kapitalistischen Entwicklung vor, sondern auch im Kontext eines historischen Bruchs in der Gesellschaftskritik. Mit dem seit langem absehbaren Ende der westlichen so genannten Arbeiterbewegung sowie dem Zerfall der südlichen nationalen Befreiungsbewegungen und dem Untergang des östlichen Staatskapitalismus als obsolet gewordenen Formen einer »nachholenden Modernisierung« an der Peripherie des Weltmarkts ist das bisherige marxistische Paradigma der Kapitalismuskritik an historische Grenzen gestoßen

– ironischerweise zusammen mit seinem Gegenstand, dem globalen Kapitalismus selbst. Diese Gemeinsamkeit der historischen Schranke von traditionellem Marxismus und kapitalistischer Weltgesellschaft verweist darauf, dass die bisherige linke Gesellschaftskritik sich selber noch im Gehäuse kapitalistischer Kategorien bewegte, dass sie eben im wesentlichen immer nur eine Kraft der weiteren »Modernisierung« innerhalb der gesellschaftlichen Formen des warenproduzierenden Systems war.

Die neuen sozialen Bewegungen stehen also vor einer gewaltigen Herausforderung: Sie können sich in der Auseinandersetzung mit den negativen und destruktiven Phänomenen der Globalisierung nicht auf einen schon in einem historischen Prozess herausgearbeiteten Rahmen, ein Muster, ein Paradigma der Kritik mit einem vertrauten Begriffsapparat beziehen. Vielmehr muss die radikale Kritik selbst neu erfunden werden. dass dabei die präzise Marxsche Analyse der kapitalistischen Formen und gesellschaftlichen Bewegungsgesetze immer noch eine große Rolle spielt und nicht einfach als eine Art ideeller historischer Müll zu entsorgen ist, scheint evident. Aber die Marxsche Theorie muss selber transzendiert, in einem neuen Bezugssystem reformuliert, erweitert und in bestimmten Punkten auch kritisch überwunden werden. Die Aufgabe ist also eine doppelte: Die Bewegungen müssen sich den neuen sozialen Phänomenen und Problemlagen stellen wie alle sozialen Bewegungen zuvor, aber sie müssen gleichzeitig das Paradigma, das Interpretationsmuster und die Begriffe der Kritik neu bestimmen.

Es gibt im Kontext der Globalisierung eine grundsätzlich veränderte Situation nicht nur für die soziale Praxis, sondern auch für die kritische Theorie. Das spiegelt sich in der akademischen Theoriebildung etwa eines Ulrich Beck ebenso wie in den Reflexionen der Bewegungsaktivisten. Wenn aber Becks begriffliches Konstrukt der angeblichen »zweiten Moderne« eine Verlegenheitslösung und eine Mogelpackung darstellt, dann fragt sich natürlich, wie es damit bei den neuen sozialen Bewegungen selbst steht. Auf den ersten Blick scheint hier zumindest ein Impuls wirksam, der über den traditionellen Marxismus und die akademische Gesellschaftswissenschaft hinausgeht. Die bekannte Parole »Eine andere Welt ist möglich« wird nämlich inzwischen durch die ebenso bekannte Parole »Die Welt ist keine Ware« ergänzt und perspektivisch bestimmt.

Implizit und explizit geht aber die gesamte akademische Theoriebildung von dem unhinterfragbaren Axiom aus, dass die Welt genau das ist – eine Ware bzw. eine »ungeheure Ansammlung von Waren« (Marx), produziert durch jene ominöse »abstrakte Arbeit« als spezifisch kapitalistische Tätigkeitsform im Rahmen betriebswirtschaftlicher Rationalität. Und trotz der Marxschen Kritik am modernen Warenfetischismus liefen der westliche Arbeiterbewegungsmarxismus, die südlichen nationalen Befreiungsbewegungen und der östliche Staatskapitalismus auf nichts anderes hinaus als auf eine Teilhabe am modernen warenproduzierenden System und auf eine bloße staatliche Moderation der abstrakten, ihrem stofflich-sinnlichen Inhalt gegenüber in jeder Hinsicht gleichgültigen Produktionsweise. Insofern scheint die Parole »Die Welt ist keine Ware« den praktischen und theoretischen Konsens der Modernisierungsgeschichte aufzukündigen, um aus den neuen Krisenerscheinungen der dritten industriellen Revolution und der damit verbundenen Globalisierung eine tiefer gehende, radikalere Kritik zu entwickeln, nämlich erstmals eine Kritik der gesellschaftlichen Warenform selbst.

Um zu sehen, wie ernst diese Parole gemeint ist und ob sie tatsächlich eingelöst oder auch nur der Versuch dazu gemacht wird, ist es nötig, die in den Bewegungen zirkulierende kritische Reflexion zu prüfen. Und zwar nicht die äußerlich etwa von traditionell marxistischen Gruppen und Sekten (nicht selten trotzkistischer Provenienz) herangetragenen alten Theorien bzw. deren Verfallsgestalten, sondern die authentische Reflexion im Kontext der Bewegungen selbst. Exemplarisch in dieser Hinsicht könnten zum einen die Auffassungen sein, wie sie die weltweit in den sozialen Bewegungen prominent gewordene französische Bauerngewerkschaft Confédération Paysanne und besonders deren Führer José Bové vertreten. Zum andern sind es die Ideen der kanadischen Autorin und Aktivistin Naomi Klein, wie sie in ihrem Buch »No Logo!« formuliert sind, das zum internationalen Bestseller wurde.

Die Gedanken von Bové und seinem Mitstreiter Francois Dufour sind unter Mitarbeit des Journalisten Gilles Luneau in dem Buch »Die Welt ist keine Ware« zusammengefasst, das gewissermaßen die neue Parole kreiert hat, 1999 bzw. in erweiterter Fassung 2000 auf Französisch herauskam und inzwischen in einer internationalen Ausgabe parallel auf Deutsch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Portugiesisch, Türkisch, Katalanisch, Japanisch und Koreanisch erschienen ist. Zweifellos enthalten die dabei formulierten Analysen der weltweiten kapitalistischen Agro-Industrie und der damit verbundenen Lebensmittelkonzerne sowie Fastfoodketten wichtige Einsichten in den destruktiven Charakter von »abstrakter Arbeit« und Warenproduktion hinsichtlich der Nahrungsmittel und ihrer Qualität. Mit dem polemischen Begriff des »Schlechtessens« (Malbouffe) einerseits und der Forderung nach »Ernährungssouveränität« der Menschen andererseits werden erst einmal empirische Bestimmungen entwickelt, die Momente einer Kritik des warenproduzierenden Systems sein können.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die scheinbar konkrete Kritik an bestimmten negativen, sinnlich erfahrbaren Erscheinungen nicht in geringster Weise mit einer Kritik der gesellschaftlichen Warenform vermittelt ist, deren innere Dynamik doch den globalen Krisenerscheinungen zu Grunde liegt. Stattdessen finden wir im Manifest der Confédération Paysanne zentrale Aussagen, die auf das vollkommene Gegenteil verweisen:

»Bäuerliche Landwirtschaft muss ... wirtschaftlich effizient sein. Sie muss, gemessen an den eingesetzten Produktionsmitteln und im Hinblick auf die produzierten Mengen, eine hohe Wertschöpfung aufweisen. Nur unter dieser Bedingung können die Bauern mit relativ bescheidenen Produktionsmengen zurechtkommen, und nur unter dieser Bedingung kann die Landwirtschaft eine große Anzahl von Arbeitskräften beschäftigen. Eine in dieser Form effiziente Produktion ist Voraussetzung für die Produktion von Qualität« (Bové/Dufour 2001, 282).

Hier finden wir die zentralen Kategorien und Kriterien des warenproduzierenden Systems ganz positivistisch und unkritisch wieder: abstrakte »Effizienz«, »Wertschöpfung«, »Beschäftigung« von »Arbeitskräften«. Der inhaltsleere Produktivismus, den Bové und seine Mitstreiter auf der praktisch-sinnlichen Ebene so beredt kritisieren, kehrt begriffslos in ihr Räsonnement zurück, sobald es um die Abstraktionsebene der gesellschaftlichen Form geht, die diese destruktiven Inhalte überhaupt hervorgebracht hat, wie sie sich in den Krisenerscheinungen von dritter industrieller Revolution und Globalisierung verschärft manifestieren. Es geht also auch den Bewegungsaktivisten darum, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Sie kritisieren gewissermaßen nur die Oberflächenebene, während das »Betriebssystem« des gesellschaftlichen Formzusammenhangs ausgeblendet bleibt. Insofern denken sie selber in den Kategorien der Ware und wollen sich gar keine Vorstellung über eine Welt jenseits davon machen.

Damit bleiben sie aber auf der basalen Ebene der gesellschaftlichen Form kompatibel mit dem vielgehassten Neoliberalismus. Was dann als vermeintliche Kritik einer Welt der Waren übrig bleibt, ist nichts als eine verkürzte und nebelhafte Denunziation von (subjektiver) »Profitgier« und »Geldgeilheit«, wie sie gerade von reaktionären Demagogen und Kultur-konservativen schon seit gut 200 Jahren bemüht wird. Dufour etwa prangert völlig platt diejenigen an, »die aus allem Profit schlagen wollen, dem Diktat von König Geld folgen« (a.a.O., 210). Das Geld ist aber nur die Erscheinungsform der universellen Warenproduktion, nicht deren Wesen, das in »abstrakter Arbeit« und Wertform gründet. Die Weltkrise der dritten industriellen Revolution geht vom System der »abstrakten Arbeit« selbst aus, nicht bloß von der Oberfläche der Geldbeziehungen. Die Konsequenzen aus dieser verkürzten Kritik macht unmissverständlich Bové deutlich:

»Wozu das führt, sieht man daran, dass die Zirkulation von Geld mehr abwirft als die traditionellen Produktions- und Handelsaktivitäten. Heute bearbeitet das Geld sich selbst: Bei jeder Weltumrundung macht es Gewinn. Wo ist da die Schaffung von Gütern, von Reichtum für andere? Das Geld, die Macht der Aktionäre, die Pensionsfonds, Spekulanten aller Art zwingen den Unternehmen eine solche hohe Profitrate auf, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als Beschäftigte zu entlassen, obwohl sie Gewinn machen ... Eine neue Art von Parasiten (!), von gelddürstigen Vampiren macht uns das Leben schwer. Geldjunkies sind das« (a.a.O., 211).

Hier wird überdeutlich, dass Bové nicht nur ebenso wie der traditionelle Marxismus die eine Seite der Warenform, nämlich die Produktion oder »abstrakte Arbeit«, gegen die andere Seite derselben Form, nämlich die Zirkulation oder das Geld, auszuspielen sucht. Vielmehr fällt er noch hinter den Marxismus zurück, indem er wie die Utopisten oder der ur-anarchistische Ökonom Proudhon nur das spekulative Geld oder implizit das zinstragende Geldkapital für die Übel des modernen warenproduzierenden Systems verantwortlich machen will, während »traditionelle« Warenproduktion und »Handelsaktivitäten« als solche sogar positiv als Gegenbild beschworen werden. Nicht umsonst bezieht sich Bové gelegentlich auf den alten, in vieler Hinsicht an Proudhon anschließenden Syndikalismus, den historischen Zwillingsbruder des Arbeiterbewegungsmarxismus, der in Wahrheit ebenso obsolet ist. Bové stellt dabei wie seine historischen Gewährsleute das Verhältnis von zinstragendem Kapital bzw. Spekulation einerseits und »Produktionsaktivitäten« andererseits auf den Kopf; denn die Spekulation und das damit zusammenhängende »fiktive Kapital« (Marx), wie sie sich im Zuge der Globalisierung als weltumspannender finanzkapitalistischer Zusammenhang neuen Typs herausgebildet haben, ersticken nicht etwa qua Boshaftigkeit von »gelddürstigen Vampiren« die »gute« und »reelle« Warenproduktion, sondern sie wachsen im Gegenteil schon immer aus den inneren Widersprüchen und Krisen dieser Produktion selbst hervor; und heute eben in neuer Qualität.

Die Globalisierungskritik von Bové läuft auf viel zu kurzen Beinen, weil er bloß zurück will zu einem sowieso idealisierten »traditionellen« Zustand der Warenproduktion, der den anonymen Mächten weltkapitalistischer Vergesellschaftung gegenüber als Imagination des »kleinen« Warenproduzenten geltend gemacht wird. Das ist aber noch nicht alles. Denn die von Bové geschürte Pogromstimmung gegen »die Spekulanten« und die Rede von den »Parasiten« knüpft bewusst an die schlimmsten Ideologiebildungen der Modernisierungsgeschichte an. So naiv kann dieser Bauernführer mit durchaus intellektueller Geschichte gar nicht sein, dass er von diesen Zusammenhängen als Unschuld vom Lande nichts wüsste. Jedem Schulkind ist heute bekannt, dass eine auf Spekulation und zinstragendes Kapital verkürzte Kapitalismuskritik, die mit Begriffen wie »Parasiten« und »Geldjunkies« operiert, unvermeidlich an den antisemitischen Wahn anschließt und ihn füttert. Nach Auschwitz kann man nicht mehr ungestraft eine derart dumpfe Spekulantenhetze betreiben. Auch die Nazis stellten den Gegensatz des »schaffenden« (produktiven) und des »raffenden« (spekulativen, als »jüdisch« konnotierten) Kapitals ins Zentrum ihrer Mordideologie. Bei den Aussagen von Bové kann einem nur noch übel werden. »Die Welt ist keine Ware«, diese scheinbar griffige und weiterführende Parole, knüpft so in Wahrheit an die Naziparole an: »Der Jude (der Spekulant) macht den Menschen zur Ware«. Es ist geistiges Malbouffe, was Bové da verbreitet. Der Ausgangspunkt der Globalisierungskritik von Naomi Klein ist nicht die Landwirtschaft, sondern das Marketing. »No Logo!« bezieht sich auf eine Entwicklung innerhalb des globalen warenproduzierenden Systems hin zu »Markennamen«, bei denen der Gebrauchswert der Ware hinter dem Logo verschwindet und eine virtuelle Pseudorealität aufgebaut wird, die dann auf das wirkliche Leben abfärbt. Die Globalisierung sieht sie vor allem unter diesem Aspekt:

»Die Markenpolitiker gewannen, und ein neuer Konsens wurde geboren. Die Produkte, die in Zukunft florieren, werden nicht mehr als ›Waren‹ präsentiert, sondern als Ideen: die Marke als Erfahrung, als Lifestyle ... Die Markenmanie hat einen neuen Typ des Geschäftsmanns hervorgebracht. Er verkündet mit stolzgeschwellter Brust, die Marke X sei kein Produkt, sondern ein Lebensstil, sei eine Haltung, ein Wertesystem, ein Aussehen, eine Idee ... ›Nike‹, verkündete Phil Knight in den Achtzigerjahren, sei ein ›Sportunternehmen‹; seine Mission bestehe nicht darin, Schuhe zu verkaufen, sondern ›das Leben der Menschen durch Sport und Fitness zu verbessern‹ und ›den Zauber des Sports am Leben‹ zu erhalten. Der Präsident und Turnschuhschamane des Unternehmens Tom Clark erklärt, dass ›wir uns dank der Inspiration des Sports ständig neu gebären können‹. Berichte über solche Erleuchtungen hinsichtlich der ›Markenvision‹ wurden an allen Ecken und Enden laut. ›Das Problem von Polaroid‹, diagnostizierte John Hegarty, Chairman der Werbeagentur des Unternehmens, ›bestand darin, dass man sich immer als Kamera präsentierte, doch der Prozess der (Marken-)Vision hat uns etwas gelehrt: Polaroid ist keine Kamera, sondern ein soziales Schmiermittel‹. IBM verkauft keine Computer, sondern ›Problemlösungen‹ für Unternehmen, Bei Swatch geht es nicht um Uhren, sondern um die Idee der Zeit ... Die radikale Markenpolitik lässt sich keineswegs als bloße Spielwiese für die Vermarkter von modischen Konsumgütern wie Turnschuhen, Jeans und New-Age-Getränken abtun. Caterpillar, eigentlich ein Hersteller von Traktoren und bekannt für seine Gewerkschaftsfeindlichkeit, stürzte sich mit Feuereifer in die neue Markenpolitik und brachte die Cat-Accessoires auf den Markt: Stiefel, Rucksäcke, Hüte und alles Mögliche andere, das nach einem postindustriellen je-nesais-quoi schreit ... Seit Mitte der Neunzigerjahre sind die global operierenden Konzerne ... mit geradezu religiösem Eifer auf den Markenboom eingeschwenkt. Nie wieder wird die Wirtschaft vor dem Altar des Gebrauchsgütermarktes das Haupt beugen. Von nun an wird sie nur noch den durch die Medien geschaffenen Götzenbildern huldigen...« (Klein 2005/2000, 42-46, Hervorheb. Klein).

Ähnlich wie Bové und seine Bauerngewerkschaft trifft auch Naomi Klein mit ihrer Kritik bestimmter Erscheinungen durchaus ein qualitatives Krisenproblem des sich globalisierenden Kapitalismus. Die universelle Warenproduktion, wie sie aus der Logik der Verwertung von Kapital folgt, tendiert dazu, sich vom Gebrauchswert zu entkoppeln. Die französischen Situationisten und ihr Haupttheoretiker Guy Debord hatten schon in den 60er Jahren die scheinhafte Medialisierung und Virtualisierung kapitalistischer Reproduktion mit dem Begriff der »Gesellschaft des Spektakels« bezeichnet. Streckenweise liest sich die Analyse von Naomi Klein wie eine Reminiszenz an die Situationisten im Kontext des beginnenden 21. Jahrhunderts. Nicht nur bei den Nahrungsmitteln in Gestalt des »Malbouffe«, sondern generell bei allen Gegenständen des Bedarfs und bei allen Dienstleistungen überlagern eine oft infantile »Botschaft«, eine Lifestyleimagination, die Suggestion eines Lebensgefühls etc. die Nützlichkeit und den realen Genuss. Zunehmender »Gebrauchswertschrott«, an sich peinlich, ungenießbar, bloß noch zum schnellen Wegwerfen bestimmt, wird mit Gefühlen aufgeladen, wie sie die Leere des kapitalistischen Daseins überspielen sollen (»Erlebniseinkauf« etc.; inzwischen gibt es sogar schon »Erlebnisbäckereien«). Diese Entwicklung geht weit über die traditionellen Reklametechniken hinaus, auch wenn sie ursprünglich darin wurzelt.

dass der Gebrauchswert in gewisser Weise »verschwindet« bzw. völlig verzerrt und sekundär besetzt wird, diese Einsicht tauchte in der Reflexion des »westlichen Marxismus« außer bei den Situationisten in verschiedener Weise auf, konnte jedoch nicht zu einer grundsätzlichen Kritik der Warenform und ihrer globalen Entfaltung zugespitzt werden. Naomi Klein ist dieser Gedankenweg erst recht völlig fremd; ihre Reflexion verbleibt ganz selbstverständlich im Rahmen des warenproduzierenden Systems. Was sie beklagt, ist »die Übermacht des Marketings gegenüber der Produktion« (a.a.O., 43). Die Wirtschaft soll wieder »vor dem Altar des Gebrauchsgütermarktes das Haupt beugen«, der dann eben ein Markt für die Warenprodukte der »abstrakten Arbeit« bleibt.

Das gilt im weiteren auch für die Produktionsbedingungen selbst: Klein sieht die Erscheinungen des Billiglohns, der miserablen Arbeitsbedingungen, der Privatisierung, der Zwangsmigration usw., wie sie sich im Zuge des Globalisierungsprozesses ständig verschärfen, ebenfalls nur im Kontext der auf »Markenmanie« geeichten, weltweit operierenden Konzerne, die sich hinter den Imaginations- und Identifikationsmustern ihrer »Logos« moralisch verstecken. So richtig die Kritik an der negativen praktischen Erfahrung ist und die Phänomene benennt – sie dringt nicht bis zum Wesen und damit zur immanenten Logik des Gesellschaftsverhältnisses vor, das jene Erscheinungen erst hervorgebracht hat.

Wie Bové stellt auch Klein eine idealisierte »Produktion« (von Gebrauchsgütern, deren Warenform ausgeblendet bleibt) dem Marketing und der Politik der »Logos« entgegen; und wie dieser erkennt sie nicht, dass die beklagte negative Entwicklung aus dieser Produktion selbst hervorgegangen ist. Und abermals wie Bové kritisiert sie so nicht die globalisierte Warenform als solche, sondern bloß die Tatsache, dass

»heute so viel Macht im Virtuellen konzentriert ist – in Devisenhandel, Aktienkursen, geistigem Eigentum, Marken und geheimen Handelsabkommen. Indem sich die Protestaktionen auf Symbole konzentrierten, von der berühmten Marke wie Nike bis zum internationalen Gipfeltreffen führender Politiker, wurde das Ungreifbare zeitweise konkretisiert, der riesenhafte Weltmarkt auf ein menschlicheres Maß zurechtgestutzt« (Klein, a.a.O., 507).

Der Reduktion der Kritik auf die sekundäre Ebene der kapitalistischen Geldbeziehungen entspricht die Fokussierung auf die »Konzerne« statt auf die Produktionsweise selbst, und die krude Personalisierung auf »fiese« Manager und Politiker. Klein versteigt sich zwar nicht zur kaum verhüllten, antisemitisch konnotierten Spekulantenhetze wie Bové, aber ihre Argumentation liegt auf derselben Linie. Nicht um eine »Konkretisierung« des Ungreifbaren handelt es sich dabei, nicht um ein Zurückbringen des riesenhaften Weltmarkts auf das vermeintlich »menschliche Maß« von subjektiven, persönlichen Verursachern, sondern um eine ideologische Mystifikation. Das »Ungreifbare« könnte nur dadurch konkretisiert werden, dass der gesellschaftliche Formzusammenhang, der die handelnden Subjekte übersteigt, in seiner Entwicklung analysiert wird.

Auch Naomi Klein möchte stattdessen nur eine »gute«, »reelle« Warenproduktion zurückbringen (die es in Wahrheit so nie gegeben hat), eine Warenproduktion mit handfesten Gebrauchswerten, mit anerkannten Gewerkschaften, annehmbaren Löhnen und Arbeitsbedingungen usw., kurz: eine sozial und sinnlich konkret gemachte »abstrakte Arbeit«, ein Widerspruch in sich, und im Grunde genommen bloß eine Idealisierung des Kapitalismus vor der dritten industriellen Revolution und der Globalisierung, aus dem doch gerade die »Gesellschaft des Spektakels« und die heutige Weltkrise hervorgegangen sind.

Naomi Klein sieht inzwischen selber, dass eine Gegenbewegung, die nur auf der »Entwertung mächtiger kapitalistischer Symbole« (a.a.O., 507) beruht, etwa durch moralische Diskreditierung von »Logos« wie Shell, Nike usw., indem deren üble Praktiken aufgedeckt werden, zu kurz greift: Sie wird von der Semiotik des Marketings wieder eingeholt; sogar dadurch, dass die »Logos« selber paradox mit der Thematisierung des Elends operieren, als würden sie dieses nicht mit erzeugen. Das geht überhaupt nur, weil bei solchen imaginativen Markenkampagnen die Lücke in der kritischen Reflexion ausgenutzt werden kann, die genau in der mangelnden konkreten Kritik von Warenform und »abstrakter Arbeit« besteht.

Naomi Klein aber propagiert als Alternative (und darin drückt sie nur das gegenwärtige allgemeine Bewegungsbewusstsein aus) nichts als die »Unmittelbarkeit« einer eher gefühlsmäßig bestimmten Gegengesellschaft: »Aktionen, die auf die Erfüllung unmittelbarer Bedürfnisse abzielen« (a.a.O., 513), und ein unmittelbar anders gelebtes Leben und Produzieren im Nahbereich. Wie bei Bové ist es die klassische Illusion vom »kleinen Warenproduzenten«, die hier durchbricht; an der ehrlichen Arbeit und der ehrlichen Ware samt ehrlichem (Klein-)Handel soll die Welt genesen. Werden wir alle echte Kleinbürger, dann wird alles gut.

Es ist offenkundig, dass die Reflexion in den neuen und weltweiten sozialen Bewegungen, wie sie von Bové und Klein repräsentiert wird, viel zu kurz greift und deshalb der Ideologiebildung verfällt. Die Reichweite der Begriffe ist nicht groß genug und die Kritik geht nicht tief genug, weil die Aufgabe der theoretischen Neubestimmung verfehlt wird. Ein neues Paradigma oder ein neuer Interpretationsrahmen der Kritik kann aber nicht »unmittelbar« aus der bloßen Anschauung der Phänomene entstehen, sondern nur aus der Erarbeitung einer neuen Theorie, die den bisherigen theoretischen Rahmen kritisch überwindet und das alte Paradigma bewußt »historisiert«, statt es bloß zu entsorgen und zu ignorieren. Genau diese Ignoranz, die in krude Theoriefeindlichkeit umschlägt, ist aber hinsichtlich der kritischen Reflexion in den Bewegungen heute noch vorherrschend, ganz bewusst und explizit bei Bové:

»Nichts wurde vorweg theoretisiert – glücklicherweise. Die Zeit theoretischer Konstruktionen, die gewisse Leute dem Protest der Bevölkerung überstülpten, ist endgültig vorbei. Anders herum wird ein Schuh daraus: Die Menschen haben sich in Seattle zusammengetan, ohne vorher eine fix und fertige Theorie im Kopf zu haben. Sie haben ihre Standpunkte ausgetauscht und dabei festgestellt, dass sie vielfach ähnliche Ansichten vertreten, egal von welchem Kontinent sie kamen. Die Gemeinsamkeit entwickelte sich aus der konkreten Erfahrung der anwesenden Gruppen und nicht aus irgendwelchen abgehobenen Theorien. Viel zu lange schon, hundert Jahre vielleicht, treibt man die Menschen von einer Analyse in die nächste Theorie, Misserfolge und Selbstaufgabe waren das Resultat. Aber heute lassen sich die Menschen in puncto Veränderungstheorien nichts mehr vormachen« (Bové/Dufour, a.a.O., 232 f.).

Es ist in Wahrheit eine alte Geschichte, die Bové hier reproduziert: nämlich das Ressentiment des bornierten Praktikers gegen die »abgehobene« Theorie, der gegenüber die »Unmittelbarkeit« der Erfahrungen geltend gemacht wird. Aber damit lügen sich die Pragmatiker des Protests eine Bewältigungskompetenz in die Tasche, die sie gar nicht haben. Die Erfahrungen sind ebenso wie die Bedürfnisse nichts unmittelbar und selbstverständlich Gegebenes, sondern sie sind selber gesellschaftlich vermittelt. Weil diese Vermittlung nicht direkt einsichtig ist, muss sie erst sichtbar gemacht werden – und genau darin besteht die Theorie. Sie ist nichts den Erfahrungen Entgegengesetztes, sondern die Reflexion der Erfahrungen auf einer höheren Abstraktionsebene. Aber die Erfahrungen in ihrer Unmittelbarkeit sind selber nicht »konkret«, sondern durch gesellschaftliche Abstraktionen (in der Moderne durch die totalitäre Warenform und deren Widersprüche) vermittelt. Die theoretische Abstraktion versucht dies einsehbar zu machen und zu analysieren – erst dadurch können die Erfahrungen im eigentlichen Sinne »konkret« werden.

Zu dieser Konkretisierung mit Hilfe der Theorie gehört auch, dass der historische Prozess erhellt wird, in dessen Kontext überhaupt die Erfahrungen stehen. Die Erfahrungen im hier und heute können erst etwas aussagen, indem sie zu den Erfahrungen der Vergangenheit und zur Geschichtlichkeit der Gesellschaft in Beziehung gesetzt werden. Theorie übersteigt auch in dem Sinne die Unmittelbarkeit der Erfahrung, als sie die Reflexion vergangener Erfahrung mit enthält und daher eine eigene Geschichte hat. Wer glaubt, sich darüber hinwegsetzen zu können, wird seine eigenen Erfahrungen zwangsläufig missdeuten, weil er sie in keinen größeren Zusammenhang einordnen kann.

Wenn die Hybris der Theoretiker darin besteht, dass sie sich einbilden, mit ihren Abstraktionen unmittelbar die komplexe Wirklichkeit einfangen, ummodeln und ihr diktieren zu können, so besteht umgekehrt die Hybris der Praktiker darin, dass sie sich einbilden, sie wären die ersten, die auf dieser Welt Erfahrungen machen, und diese allein wären in ihrer falschen Unmittelbarkeit das Maß des Begreifens.

Die Theorie ist so gesehen nur ein reflektierter Ausdruck der Erfahrungen selbst mit größerer historischer Reichweite und auf einer begrifflichen Abstraktionsebene. Eben deshalb kann sie niemals »fix und fertig« sein, um den Aktivisten des Protests dogmatisch »übergestülpt« zu werden. Theoriebildung ist selber ein historischer Prozess, parallel zum Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, solange sich dieser in der Form blinder, fetischistisch objektivierter Gesetzmäßigkeiten bewegt. Und in dieser Geschichte theoretischer Reflexion ist heute eben der berühmte Paradigmenwechsel angesagt, der erarbeitet und ausgekämpft werden muss. Die soziale Bewegung ist in diese Aufgabe mit involviert, sie kann sich dazu nicht ignorant verhalten.

Bové predigt eine solche Ignoranz geradezu und will dabei die Intellektuellen überhaupt verteufeln als »gewisse Leute«, die immer »von außen« kommen, um »die Bevölkerung« in »abgehobene Theorien« auf hinterhältige Weise »hineinzutreiben«. Diese Art der Denunziation ist von den Polizeibehörden bekannt, die stets »intellektuelle Rädelsführer« und Rattenfänger ausmachen, die »von außen« kommen, um die an sich »gute und treue Bevölkerung« zu verführen. Es schwingt aber auch der ideologische Affekt gegen das »Abstrakte« der Theorie mit, der antisemitisch konnotiert ist: Der »abgehobene Intellektuelle« wird in der modernen Ideologiegeschichte immer wieder mit dem »volksfremden Juden« identifiziert.

Nicht umsonst verfällt Bové so in doppelter Weise dem antisemitischen Syndrom: Wie er den Gegenstand der Kritik, die Krise der dritten industriellen Revolution und die kapitalistische Globalisierung, mystifiziert zum Machwerk bösartiger »Parasiten« und »Geldjunkies«, so mystifiziert er auf der Seite der Kritik selbst die theoretische Reflexion zum Machwerk »abgehobener Intellektueller«. Die Parole, dass die Welt keine Ware sei, schmiegt sich so an die in 200 Jahren affirmativer und mörderischer Ideologiegeschichte ausgebrüteten Parolen an: nicht nur, dass der Jude den Menschen zur Ware mache, sondern dass die theoretische Abstraktion ebenso ein jüdisches Teufelswerk sei. So etwas kommt heraus, wenn die falsche Unmittelbarkeit der bloßen Erfahrung gegen die weitergehende Reflexion ins Feld geführt wird: nämlich die barbarische Verwilderung der Abstraktion selbst, nicht die vermeintlich »konkrete« Einsicht.

Obwohl sich Naomi Klein in dieser Hinsicht nicht derart offen reaktionär und antisemitisch wie Bové artikuliert, will auch sie die reflexive Abstraktion auf möglichst niedrigem Niveau halten und verfällt ebenso in einen Zungenschlag, der als im Kern theoriefeindlich interpretiert werden muss. Der Affekt gegen eine »zu weit gehende«, »abgehobene« Reflexion (tatsächlich muss man in gewisser Weise abheben, um das Ganze überschauen zu können) versteckt sich nur in anderer Weise als bei Bové hinter der Abwehr von »Bevormundungen«, Dogmatismus und missionarischen Haltungen:

»Gott sei Dank sind die demokratieorientierten konzernkritischen Aktivisten nicht in ... blutigen Kreuzzügen engagiert. Vielmehr stellen sie zentralisierte Machtsysteme grundsätzlich in Frage und stehen linken zentralstaatlichen wie rechten marktwirtschaftlichen Einheitslösungen gleichermaßen skeptisch gegenüber. Häufig wird geringschätzig vermerkt, dass die Bewegung keine Ideologie, keine übergreifende Botschaft, keinen Gesamtplan habe. Dies ist absolut richtig, und wir sollten dafür ausgesprochen dankbar sein. Im Moment sind die konzernkritischen Basisaktivisten von Möchtegernführern umringt, die nur auf die Gelegenheit warten, sie als Fußsoldaten zu rekrutieren. Es spricht sehr für diese junge Bewegung, dass sie bis heute alle derartigen Programme und großzügig verteilten Manifeste abgewiesen hat und sich stattdessen auf einen annehmbar demokratischen, repräsentativen Prozess verlässt, um das nächste Stadium ihres Widerstands zu erreichen« (Klein, a.a.O., 519 f., Hervorhebung von Klein).

Wenn hier diffus von »Ideologie«, »übergreifender Botschaft« oder »Gesamtplan« die Rede ist, dann soll damit leicht durchschaubar eine Theoriebildung über den unmittelbaren Erfahrungshorizont hinaus von vornherein mit pejorativen Formulierungen belegt werden. Naomi Klein versucht den Begriffsapparat theoretischer Abstraktionen per se denunziatorisch in die Nähe »zentralisierter Machtsysteme« zu rücken, ohne sich mit dem Theorieproblem ernsthaft auseinanderzusetzen. Sie vermengt dabei die nicht zu bestreitende Tatsache, dass es alle möglichen Weltverbesserungssekten und restmarxistischen Gruppierungen gibt, die als »Möchtegernführer« unbedingt »Fußsoldaten« rekrutieren möchten, unzulässigerweise mit der Frage der Erarbeitung eines neuen theoretischen Paradigmas nach dem Epochenbruch seit Ende der 80er Jahre. Die Sektenprediger, Parteiideologen und Altmarxisten, die sie hier als abschreckende Beispiele bemüht, sind in Wirklichkeit Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Soweit sie theoretische Abstraktionen repräsentieren, sind es die Begriffsruinen des 20. Jahrhunderts: im wesentlichen Restbestände der gescheiterten Modelle »nachholender Modernisierung«, bei denen die Theorie tatsächlich den »zentralisierten Machtsystemen« von Entwicklungsdiktaturen unterworfen worden war. Ein gespenstisches Residuum dieser Geschichte bildet etwa das nordkoreanische Regime. Aber auch im Westen selbst hatte die traditionelle Arbeiterbewegung die Theorie politischen Parteiapparaten untergeordnet, eben weil ihre verkürzte, auf die »Anerkennung« innerhalb des warenproduzierenden Systems beschränkte Vorstellung von Emanzipation über die bürgerliche politische Form nicht hinauskommen konnte.

Indem nun die Globalisierung die ihrem Begriff nach nationalstaatlich eingegrenzte Form der Politik überhaupt obsolet macht, stellt sich unausweichlich die Frage eines neuen theoretischen Paradigmas, das dieser veränderten Situation Rechnung trägt. Naomi Klein subsumiert aber die Theorie überhaupt unter die vergangene Epoche ihrer Anbindung an die bürgerliche Politik, wie Bové die Theorie überhaupt »hundert Jahren« der »Niederlage und Selbstaufgabe« zuschreibt. Ein derart unhistorisches Unmittelbarkeitsdenken ist zum Scheitern verurteilt. Klein und Bové merken nicht einmal, dass sie selber die theoretische Reflexion wieder einer Art Politik unterordnen wollen, nur eben keiner traditionellen Parteipolitik mehr.

Wenn Bové der Theorie die »gemeinsamen Erfahrungen« der Aktivisten gegenüberstellt und wenn Klein gegen die Theorie einen »demokratischen repräsentativen Prozess« beschwört, dann geraten beide verdächtig in die Nähe der Vorstellungen von Ulrich Beck, der sich die Angestellten der Weltbank, die Finanzjongleure auf den globalisierten Finanzmärkten und die Wirtschaftsjournalisten als eine Art kollektiven Theoretiker zurechthalluziniert. So wenig aber die »Macher« der kapitalistischen Praxis aus ihrem distanzlosen immanenten Handeln heraus jemals eine theoretische Reflexion hervorbringen werden, ebenso wenig werden die »Macher« der sozialen Bewegung dazu in der Lage sein, wenn sie sich auf die falsche Unmittelbarkeit der »Erfahrungen« beschränken. Die affirmativen Instinkte der bloßen Selbsterhaltung im Dschungel der »zweiten Natur« kapitalistischer Gesellschaftsformen sind so nicht zu überwinden.

Aus tausend bloß aufsummierten Erfahrungen des sozialen Leidens wird ebenso wenig eine zureichende neue Theorie wie aus tausend demokratischen Meetings und Abstimmungen von vor sich hin räsonierenden Meinungsidioten. Heute sperrt sich die Aufgabe der Theoriebildung mehr denn je dem Fetisch der Demokratie, der selber der obsoleten politischen Form angehört und rein formal ist wie das bürgerliche Recht überhaupt. Das hat nichts mit »zentralisierten Machtsystemen« zu tun oder damit, dass den Aktivisten des Widerstands angeblich »abgehobene« theoretische Dogmen »übergestülpt« würden. Theorie ist ihrem Wesen nach machtlos im äußeren Sinne. Dies konnten die Modernisierungsdiktaturen nicht ungestraft ignorieren, aber dasselbe gilt für die globale soziale Bewegung.

Theorie im Sinne kritischer und selbstkritischer Reflexion weiß um ihre eigene Beschränktheit, aber sie ist auch nicht zu umgehen. Nach dem Ende der linken Modernisierungstheorien im Kontext von Arbeiterparteien und Entwicklungsdiktaturen gibt es keine mit administrativer Macht ausgestattete Theorie mehr. Niemand kann dazu gezwungen werden, irgendein Dogma nachzubeten. Es sind die berühmten Erfahrungen selbst, die heute das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion über den eigenen Horizont hinaus wecken. Es genügt nicht, das unmittelbare Erleben mit einem vagen antikapitalistischen Gefühl zu verbinden. Eine neue Erklärung der Logik und Geschichte des Kapitalismus ist gefragt, eine neue Analyse der Entwicklung des Weltmarkts, die heute den seit dem 19. Jahrhundert ausgebildeten nationalökonomischen Rahmen sprengt.

Das Weltkapital

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