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Welche Aussagekraft und Berechtigung hat eine Lafontaine-Biografie?
Keine Frage: Aus dem historischen Sortiment bundesrepublikanischer Politiker ragt Oskar Lafontaine heraus, ist schon immer eine Figur gewesen, die zum publizistischen Räsonnement herausfordert. Allein seine politische Trophäensammlung ist gewaltig: Mitglied des saarländischen Landtags (1970-1975, 1985-1998 und seit 2009), SPD-Landesvorsitzender (1977-1996), Oberbürgermeister von Saarbrücken (1976-1985), saarländischer Ministerpräsident (1985-1998) SPD-Bundesparteivorsitzender (1995-1999), Mitglied des Deutschen Bundestages (1998/99 und 2005-2010), Bundesfinanzminister (1998/99), Fraktionsvorsitzender der Linkspartei bzw. LINKEN im Bundestag (2005-2009), Bundesparteivorsitzender der LINKEN (2007-2010) und schließlich Fraktionsvorsitzender der LINKEN im saarländischen Landtag (seit 2009). Außerdem ist Lafontaine ein Medienmagnet, dem die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinungsmacher in den deutschen Redaktionsstuben stets sicher war. Noch immer erlaubt es sich keine namhafte Zeitung, von bedeutsamen Schritten und Ereignissen im Leben Lafontaines nicht zu berichten. Oft sahen Beobachter in dem vermeintlichen Macht- auch einen Genussmenschen, der sich gerne im Scheinwerferlicht sonnt – überhaupt: einen Sonnenkönig. Und sie gaben ihm etliche Beinamen: „Ajatollah von der Saar“1, „Saar-Napoleon“2, der „rote Kor Saar“3, „Kennedy der Sozialdemokraten“4, „Jakobiner, Lebenskünstler, Volkstribun“5 – um hier nur einige zu nennen. Und kein geringerer als der Schweizer Literat Friedrich Dürrenmatt nobilitierte Lafontaine mit dem Titel „Welt-Innenpolitiker“6. Die Vielzahl an Etiketten, die ihm in den vergangenen dreißig Jahren angehängt wurden, deutet Lafontaines Besonderheit an, beantwortet aber noch nicht die Frage, was diese Persönlichkeit eigentlich so besonders macht, worin z.B. deren Alleinstellungsmerkmale bestehen und weshalb er so verlässlich die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Außerdem ist Lafontaines Leben und Wirken noch immer ein Mysterium: Einer der zeitweilig erfolg- und einflussreichsten Politiker Deutschlands entstammt ausgerechnet dem mit Abstand7 kleinsten Flächenland; obendrein einer Region, die aufgrund ihrer Stahl- und Kohleproduktion zu den Verlierern des wirtschaftlichen Strukturwandels gehört und im föderalen System der Bundesrepublik damit zu den schwachen, hilfebedürftigen Ländern zählt. Zudem konnte keiner der sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten seit Willy Brandt nach einem verlorenen Bundestagswahlkampf noch derart viel Machtgewinn wie Lafontaine verbuchen, dessen innerparteiliche Autorität in der SPD erst nach der Niederlage gegen den Amtsinhaber Helmut Kohl im Jahr 1990 ihren Höhepunkt erreichte. Und Lafontaines vorübergehender Ausstieg im März 1999 war unter den deutschen Spitzenpolitikern im Hinblick auf Form und Folgen ebenso singulär wie seine Rückkehr im Sommer 2005; gleichfalls einzigartig ist der Bundesparteivorsitz gleich zweier im Bundestag vertretener Parteien binnen zehn Jahren. „Kaum ein anderer deutscher Politiker“, so dokumentierte unlängst der Spiegel, „hat die deutsche Politik in den vergangenen 30 Jahren derart in Atem gehalten wie Lafontaine, keiner hat das Parteiensystem heftiger durcheinandergewirbelt.“8 Und der Politikwissenschaftler Franz Walter stellt fest: „Lafontaine blieb fraglos einer der meistgehassten Politiker der Republik; aber er hat ebenso fraglos mehr bewirkt und auch politisch-thematisch in Bewegung gesetzt als das Gros seiner Gegner – vor allem in der Sozialdemokratie.“9 Bereits diese keineswegs vollständige Aufzählung seiner Facetten macht Oskar Lafontaine zu einem interessanten Charakter der jüngeren Politikgeschichte, zu einem politologisch relevanten Phänomen, das nähere Betrachtung verdient.
Und trotz alledem liegt zu Oskar Lafontaine noch keine klassische, dickleibige Biografie vor, wie es sie etwa zu Konrad Adenauer, Helmut Schmidt oder Hans-Dietrich Genscher gibt.10 Ganz spärlich nimmt sich die Literaturlage dann allerdings doch nicht aus: Eine kleine Welle an biografischen Schriften setzte um 1990 ein, im Zusammenhang mit Lafontaines damaliger Kanzlerkandidatur für die SPD. Beide dazu erschienenen Bücher11 stammen aus der Feder von Journalisten und beschäftigen sich mosaikartig mit einzelnen Aspekten und Lebens- bzw. Karriereabschnitten des damaligen Ministerpräsidenten. 2004 entstand schließlich eine Biografie, die Lafontaines Leben erneut Revue passieren ließ, nun auch das Scheitern seiner Kanzlerkandidatur, die Zeit als SPD-Parteivorsitzender und seinen vorläufigen Ausstieg nach dem Rücktritt als Bundesfinanzminister enthielt, jedoch mit einer erkennbaren Publikumsorientierung auf Fußnoten verzichtete; und naturgemäß verliert das Buch auch kein Wort zu Lafontaines Wiedereinstieg in die Politik ein Jahr später.12 Prophetisch mutmaßte der Autor, Joachim Hoell, zwar: „Für Überraschungen kann Oskar Lafontaine auch in Zukunft immer wieder gut sein: Schon oft hat niemand mit ihm gerechnet!“13 Doch mit der anschließenden Entwicklung, dem Fraktions- und Parteivorsitz einer Parteienfusion aus WASG und PDS, dürfte auch er nicht gerechnet haben. Ferner gab es reflektierende Kurzporträts, die Lafontaine als „Paulus der sozialen Frage“14 schilderten, als „Umstrittene[n]“15, der „fasziniert, erregt […] begeistert und empört“, der aber letztlich der „Unvollendete“16 geblieben sei. Eine ergiebige Quelle des Medienphänomens Lafontaine sind darüber hinaus journalistische Kommentare und Beobachtungen. Die Zahl der Presseartikel, in denen Oskar Lafontaine Erwähnung findet, dürfte mittlerweile in die zehntausende gehen. Auch im Rahmen eines langjährigen Forschungsvorhabens wäre es kaum möglich, sie sämtlich auszuwerten. Hier wurde daher im Wesentlichen auf Porträts und Berichte zu zentralen Ereignissen in Lafontaines Vita zurückgegriffen, hauptsächlich aus überregionalen Tages- und Wochenzeitungen.
Zu Lafontaine ist also schon viel und vieles gesagt worden. Die folgenden Zeilen mögen als akademische Pflichtübung erscheinen, dennoch stellt sich die grundlegende Frage: Weshalb eigentlich eine (weitere) Lafontaine-Betrachtung? Zunächst: Kaum eine biografische Darstellung kann in der Regel für sich beanspruchen, eine Persönlichkeit exakt und vollständig zu erfassen und zu erklären. Nicht nur betrachtet jeder Portraitist „sein“ Untersuchungsobjekt aus einer bestimmten Perspektive; auch kommen im Laufe der Zeit – zumal bei noch lebenden Personen – immer wieder neue, bisweilen entscheidende Informationen hinzu, wodurch sich das Objekt in neuem Licht zeigt. Sein Weg an die Spitze einer neuen Partei links von der SPD und sein Abstieg bzw. Wandel zu – wahlweise – einer Art Reservespitzenkandidaten, Übervater oder historischer Gründungsheroe sind in Gänze noch nicht beleuchtet worden. Angesichts der vielfach beschriebenen Charakteristika Lafontaines, die sich auch in seiner zweiten Politikkarriere nicht sämtlich und wesentlich verändert haben, mag hier zwar keine Forschungslücke klaffen; doch ein wenig Raum für Beschreibungen und Deutungen besteht angesichts des beständigen Faszinosums Lafontaine allemal.
Ziel dieses Textes soll und kann es daher nicht sein, ein vollumfängliches Portrait der komplexen Gestalt und turbulenten Karriere Oskar Lafontaines zu zeichnen. Dies bleibt anderen, die typisch monografische Länge von 300 bis 450 Seiten zählenden Werken vorbehalten, von denen vielleicht das ein oder andere anlässlich Lafontaines siebzigstem Geburtstag am 16. September 2013 erscheinen wird. Neben einer detaillierten Rekonstruktion von Lafontaines Biografie wird sich daher hier auch keine ausgiebige Diskussion des Forschungsstandes oder eine ausführliche Darstellung der angewandten Methodik finden. Vielmehr versteht sich die vorliegende Schrift als biografischer Essay, der zwar das Lafontaine’sche Mysterium zu ergründen sucht, vor allem jedoch zum Verständnis von Lafontaines Wirken in dem Projekt einer neuen Linkspartei seit 2005 beitragen soll – und damit den Schwerpunkt auf ein spätes Kapitel von Lafontaines umfangreicher Karriere legt.
Zur Biografiewürdigkeit Oskar Lafontaines
Als bedeutsames Kriterium für den Nutzen von Biografien kennt die Wissenschaft die „Repräsentativität“17, d.h. inwiefern das jeweilige Untersuchungsobjekt exemplarisch für eine Gruppe, eine Zeit o.Ä. ist. Dahinter steht die Überlegung, Aussagen über die eine auch auf andere, ähnliche Personen verallgemeinern, mit dem Blick auf einen einzelnen Charakter also Aussagen auch über den Analysegegenstand hinaus treffen zu können. Ist Lafontaine aber nicht außergewöhnlich, dadurch einmalig? In mancher Hinsicht mag das zutreffen, doch Lafontaine ist Vertreter einer Generation von Politikern, die ein gewandeltes Verständnis politischer Parteien, Karrieren und Führung besitzen. Hier weicht er von den Politikern der „Mediendemokratie“ also nicht ab, sondern kann durchaus als beispielhaft für sie gelten. Ihm im Umkehrschluss aber jegliche Einzigartigkeit abzusprechen, wäre freilich ein Trugschluss. Denn allein Lafontaines politische Karriere ist derart außergewöhnlich, dass sich kaum Pendants finden lassen. Das wiederum rechtfertigt erneut eine biografische Betrachtung; denn inwiefern und weshalb war Lafontaines Vita derart extravagant? Kurzum: Das Beispielhafte und das Einzigartige an Lafontaines Karriere erzeugen gleichermaßen Erklärungsbedarf, machen aus Lafontaine eine „biografiewürdige“ Person und geben Politikwissenschaftlern insofern ausreichenden Anlass zur eingehenden Betrachtung.
Und nicht zuletzt sollten Biografien den Anspruch enthalten, einer ungerechtfertigten Mythenbildung entgegenzuwirken und die historische Überlieferung nicht der betreffenden Person selbst zu überlassen.18 Denn schnell entstehen bei der Betrachtung von einflussreichen Persönlichkeiten unangemessene Heldengeschichten und Erfolgsbilanzen. Insbesondere bei solch medienpräsenten Personen wie Lafontaine existieren weitverbreitete Bilder, die sehr resistent gegen abweichende Interpretationen sind. Hier ist Vorsicht geboten: „Mythen“, schreibt der Historiker Wilhelm Füßl, „verstellen dem Biographen häufig unbewusst den Zugang zu seinem Untersuchungsobjekt. Eine der Hauptaufgaben des Biographen muss demnach sein, die Wand von Klischees und Mythen zu durchbrechen, um ein Bild der historischen Person gewinnen zu können.“19
Biografien, die viel gerühmte „Königsdisziplin“20 der Wissenschaft, eignen sich als Analyse konkreter Personen oftmals weitaus besser als Darstellungen zu abstrakten Sujets wie einer Gesellschaft oder einer Epoche, um den Leser – bestenfalls ein breites, auch nichtwissenschaftliches Publikum – durch eine mitreißende Erzählung zu fesseln, Zusammenhänge zu vermitteln und auf bedeutsame Aspekte der jeweiligen Zeit aufmerksam zu machen.21 Tunlichst sollte man allerdings von der Vorstellung abrücken, im Rahmen einer einzigen Biografie eine komplette Darstellung einer Person erreichen, gar eine exakte Charakterisierung vornehmen zu können. Vielmehr erzeugen Biografien ein spezifisches Bild einer Person, das sich im Verlauf weiterer Biografien anderer Autoren – aus anderen Zeiten und anderen Perspektiven – verändern kann; in der Regel setzen sie unterschiedliche Akzente und Schwerpunkte, interpretieren dieselben Handlungen und Ereignisse mitunter gegensätzlich und sehen den Portraitierten zumeist in jeweils anderer Rolle.22 „Die biographische Wahrheit einer Person“, so der Germanist Bernhard Fetz, „ist nichts, das feststeht bzw. durch auch noch so exakte Rekonstruktions- und Recherchearbeit definitiv geklärt werden könnte; sie wird mit jedem biographischen Projekt neu verhandelt.“23 Zumal Biografien dazu neigen, historische Ereignisse aus der Sicht der portraitierten Person zu erzählen, wodurch lediglich deren Sichtweise auf Abläufe und Geschehnisse rekonstruiert wird, dadurch aber Verzerrungen entstehen, andere mögliche Perspektiven verdeckt bleiben.24
Mag dieser Umstand zunächst auf eine Schwäche der Gattung „Biografie“ hindeuten, so lässt er sich freilich auch als Vorteil auslegen: Dann nämlich, wenn man historische Ereignisse von unterschiedlichen Ausgangspunkten her, eben denen verschiedener Akteure, betrachtet und dadurch vielseitige Informationen und Ausgangslagen erhält. Auf diese Weise wandelt sich die vermeintliche Schwäche der Biografie in eine faktische Stärke. Das Modellhafte, aber auch das Besondere einer Person, der Sinn auch mehrfacher Betrachtung derselben Persönlichkeit und die Notwendigkeit, unzulässiger Mythenbildung, aber auch Fehlurteilen entgegenzuwirken, sind die Gründe, weshalb Oskar Lafontaine ein lohnenswertes Forschungsobjekt ist und dessen Analyse erhellende Erkenntnisse über politische Führung verspricht.