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Aufstieg und Fall Optimus maximus: die frühen Jahre in der Politik
ОглавлениеLängst ist Oskar Lafontaine eine Person des öffentlichen Lebens. Man kennt ihn nicht zuletzt als einen Aufmüpfigen, einen Polit-Revoluzzer. Manche sind geneigt, von einem politischen Raufbold zu sprechen. Und darin zeigt sich ein Merkmal seines Wesens, das schon den Beginn seiner politischen Karriere markiert: Denn anfangs taucht er in Berichten über die Saar-SPD als Juso-Parteirebell auf. Die Geburtsstunde dieses „öffentlichen Lebens“ liegt daher irgendwo in den ausgehenden 1960er Jahren. Doch Lafontaines eigentliche Medienpremiere datiert aus dem Mai 1970 – einer inzwischen fern anmutenden Zeit, das Jahr, in dem die Beatles ihr letztes Studioalbum veröffentlichen, Jim Hendrix stirbt, die USA in Kambodscha einmarschieren und sich die Rote Armee Fraktion formiert. Damals erregt Lafontaine das erste Mal bundesweites Aufsehen, ist sein Name nicht nur der eines Nebendarstellers im Polittheater, sondern der einer Hauptfigur – in einem Gerichtsverfahren, das seinerzeit als der „seit langem größte politische Prozess des Saarlandes“25 gehandelt wird. Lafontaine, gerade erst 26 Jahre alt, hat der schwarz-gelben Landesregierung Korruption und fahrlässigen Umgang mit Landesvermögen vorgeworfen, diese ihn daraufhin ihrerseits wegen Beleidigung angeklagt – mangels Zeugen und einer zwischenzeitlichen Erklärung Lafontaines, in der dieser seine Vorwürfe weitgehend zurückzieht, endet das Verfahren ein Jahr später.26 Ein angesichts der anfänglichen Dramatik des Vorgangs kurioses Ende: Aber da hat sich Lafontaine längst mit einem Konflikt exponiert und in die Medien gebracht – der Ausgang des ursprünglichen Anlasses ist da nur noch zweitrangig, vermutlich sogar lästig geworden. Das ist ein Muster, das Lafontaine auch in Zukunft anwendet, ja das seither fester Bestandteil seines politischen Führungsrepertoires ist.
Und auch zuvor ist von ihm mit dieser Taktik Notiz genommen worden: Im Frühjahr 1968 zählt er als „Reformer“ zu den „jungen zornigen SPD-Männer[n]“, die in ihrem Landesverband die lethargische Parteielite herausfordern.27 Lafontaine also: ein aufmüpfiger, talentierter Jungspund, klar. Wie viele andere vor und nach ihm hätte der damals noch mangels anderer Zuschreibungen als „Physiker“ titulierte Nachwuchspolitiker nach einem kurzen Aufbrausen auch wieder in der Versenkung verschwinden können – aber er tut es nicht.
Eine Sache wird ihm in dieser Zeit schon bald zur Gewohnheit werden: Meist ist er der Jüngste und – augenscheinlich – Beste. Im für politische Verhältnisse zarten Alter von 28/29 Jahren gehört Lafontaine – das „größte politische Talent der Opposition“28 (Die Zeit) – bereits zu den Spitzengenossen an der Saar, gilt als einer der Anführer der dortigen SPD-Opposition und als sicherer Anwärter auf den Posten des Oberbürgermeisteramtes in der Landeshauptstadt Saarbrücken – und bald auch als designierter SPD-Landeschef und gar Ministerpräsident.29 Natürlich: An der Spitze angelangt ist Lafontaine damit noch lange nicht, in aller Munde ist sein Name ebenfalls noch nicht und der fortgesetzte Weg nach oben keineswegs ausgemacht. Doch alles andere wäre für sein geringes Alter auch eher verrückt gewesen – insofern hat Lafontaine aus damaliger Sicht für seine Verhältnisse bereits Enormes erreicht und viel Größeres scheint ihm noch bevorzustehen. Ein vorgezeichneter Weg ist es dennoch nicht, noch immer kann ihm ein ähnliches Talent in die Quere kommen, kann er die Lust an der Politik verlieren und sich anderen Tätigkeiten zuwenden.
Aber politischer Instinkt und politisches Talent Lafontaines sind dermaßen ausgeprägt, dass sie augenfällig sind, dass ganz offensichtlich niemand im ganzen Saarland dem Youngster das Wasser reichen kann. Schon früh erscheint er als baldiger Landesvorsitzender und Spitzenkandidat. Doch statt sich erwartungsgemäß zum Oppositionschef im Landtag aufzuschwingen, leitet er seine Wahl zum Oberbürgermeister Saarbrückens ein, die ihm im Januar 1976 gelingt – mit 33 Jahren ist er der jüngste Stadtregent der Republik. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Klugheit dieses Schritts:30 Als Regierungschef der Landeshauptstadt verfügt er über eine der Staatskanzlei gleichwertige Infrastruktur und Öffentlichkeitsaufmerksamkeit, wie sie ihm als Oppositionsführer im Landtag niemals zu Gebote gestanden hätte. Denn im kleinen Saarland ist Saarbrücken umso größer – rund zwanzig Prozent der Landesbevölkerung leben dort. An der Spitze der Stadtverwaltung kann Lafontaine gestalten, kann sichtbare Zeichen seiner Politik setzen und sich damit in der Öffentlichkeit platzieren.
Der Oberbürgermeister Lafontaine wirkt tatkräftig und modern: Seine ersten Maßnahmen gelten der Kulturpolitik, mit der er die Lebensqualität der Saarbrücker anheben will. Lafontaine lässt den Marktplatz zu einer Fußgängerzone ausbauen, richtet die Stadtgalerie ein, fördert kulturelle Veranstaltungen wie das Festival „Perspectives du théâtre“ oder den „Max-Ophüls-Filmpreis“ und restauriert das marode Saarbrücker Schloss; mit dem österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka begibt er sich in der Modernen Galerie Saarbrücken in einen symbolischen Dialog zwischen Kunst und Politik. Kurz: Wie in der Politik als irgendwie glamouröse Parteigröße konterkariert Lafontaine auch kulturell das Image des provinziellen Saarlandes. Längst bezeichnen ihn politische Berichterstatter als den „starken Mann der SPD“31, der schon kurz darauf als der „beste Kopf der Saar-SPD“32 gilt. So wie ihn damals Journalisten beschreiben, müssen zeitgenössische Leser unweigerlich den Eindruck gewinnen, dass es sich bei dem Nachwuchspolitiker um einen angehenden Spitzensozialdemokraten handelt, dessen weiteren Aufstieg allenfalls noch ein Skandal oder ein Unglück aufhalten könnte.
Mit dem Wissen von heute zeichnet sich damals also der spätere Status eines Politstars bereits ab. Aber eigentlich lässt sich in den 1970er Jahren Lafontaines weiterer Weg bestenfalls erahnen; denn Politik ist viel zu wechselhaft und zufällig – unberechenbar also –, als dass sich wirklich anhand beobachtbarer Merkmale auf den künftigen Karriereverlauf schließen ließe. Was wäre z.B. passiert, wenn Lafontaine seinen Allüren stärker nachgegeben hätte, als er dies tat, oder über eine politische Affäre gestolpert wäre, die schon oft vielversprechende Politikerkarrieren mit einem Male zerstört haben? Was wäre geschehen, wenn Lafontaine bereits 1987 den SPD-Bundesparteivorsitz übernommen und drastischer gescheitert wäre als 1990 mit der verlorenen Bundestagswahl? Und keineswegs war auszuschließen, dass Lafontaine seiner Abneigung gegen die alltäglichen Härten des Politikbetriebs – endlose Sitzungen, langweilige Termine, ständige Präsenz – doch einmal nachgibt und sich unter Aufgabe seiner aussichtsreichen Position, aber mit dem Auskommen eines erfolgreichen Publizisten oder Kopfes einer Behörde aus der Politik zurückzieht. Bei Lafontaine gab es etliche charakterliche Dispositionen, die zeigen, dass trotz einer faktisch standardisierten Laufbahn Politikerkarrieren alles andere als determiniert sind. An vielen Stellen von Lafontaines Karriere hätten Situationen ganz anders ausgehen können – wahrscheinlich stärker als bei anderen Politikern, die weitaus zielstrebiger auf immer höhere Weihen und Ämter zustrebten. Kurzum: So ehrgeizig und zupackend er auch bereits Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wirken mochte – der Weg zum Ministerpräsidenten, Kanzlerkandidaten und Bundesparteivorsitzenden schien möglich, ja drängte sich sogar auf, aber war, wie gesagt, mitnichten vorprogrammiert.