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VORWORT: LOB DES DIALOGS
ОглавлениеWir sprechen.
Mehr als jede andere Eigenschaft ist das Sprechen Ausdruck unserer Menschlichkeit. Wir flüstern mit unseren Liebsten, verfluchen unsere Feinde, streiten mit dem Klempner, loben den Hund, schwören beim Grab unserer Mutter. Zwischenmenschliche Beziehungen sind im Grunde nichts als endlose Gespräche über, um und aufgrund von Verwicklungen, die uns den Alltag erhellen oder vergällen. Direkte Gespräche mit Verwandten und Freunden können sich über Jahrzehnte erstrecken, während Selbstgespräche ohnehin nie abreißen: Ein schuldgeplagtes Gewissen schimpft auf die gewissenlosen Wünsche, die Dummheit macht sich über die Weisheit lustig, die Hoffnung tröstet die Verzweiflung, die Spontaneität verspottet die Vorsicht, und der Geist amüsiert sich darüber, wie die inneren Stimmen unseres besten und schlimmsten Ichs bis zum letzten Atemzug miteinander streiten.
Im Lauf der Jahrzehnte kann so ein dauerhafter Redefluss den Worten ihre Bedeutung nehmen, und wenn die Bedeutung weggeschwemmt wird, verflacht unser Dasein. Aber was die Zeit verwässert, das verdichtet die Story.
Autoren* bündeln Bedeutung, indem sie zunächst das Banale, das Kleinteilige, die ständigen Wiederholungen des Alltagsgeredes beseitigen. Anschließend bauen sie ihre Erzählungen auf eine Krise komplexer, konfliktreicher Wünsche hin auf. Unter Druck füllen sich Worte mit Assoziationen und Nuancen. Die Äußerungen einer Figur im Angesicht eines Konflikts verströmen die Bedeutung, die sich hinter ihren Worten verbirgt. Ein ausdrucksvoller Dialog bekommt eine Durchlässigkeit, die es Lesern wie Zuschauern ermöglicht, in der Stille hinter den Augen einer Figur die Schatten ihrer Gedanken und Gefühle zu erkennen.
Gutes Schreiben macht Zuschauer und Leser zu regelrechten Hellsehern. Ein dramatischer Dialog hat die Kraft, zwei Bereiche miteinander zu verbinden, die in den Worten ungesagt bleiben: das Innenleben einer Figur und das Innenleben ihrer Leser/Zuschauer. Wie bei einem Funksender schaltet ein Unterbewusstsein auf die Frequenz des anderen, und unser Instinkt nimmt den inneren Aufruhr der Figur wahr. Der Literaturwissenschaftler Kenneth Burke hat das einmal so formuliert, dass Storys für uns das Rüstzeug seien, in der Welt zu leben, im intimen Austausch mit anderen, vor allem aber im intimen Austausch mit uns selbst.
Diese Kraft verleihen uns Autoren, und zwar in einer Reihe von Einzelschritten: Zunächst einmal erschaffen sie jene Metaphern der menschlichen Natur, die wir »Figuren« nennen. Dann dringen sie in die Psyche dieser Figuren vor, um bewusste Bedürfnisse und unbewusste Wünsche freizulegen, Sehnsüchte, die das innere wie das äußere Ich antreiben. Gewappnet mit diesen Einblicken, lassen sie die dringendsten Wünsche ihrer Figuren im Brennpunkt eines Konflikts aufeinanderprallen. Szene für Szene verknüpfen sie die Aktionen und Reaktionen ihrer Figuren zu Wandlungen, Wendepunkten. Im letzten Schritt lassen sie ihre Figuren sprechen, allerdings nicht in Form repetitiver Alltagsmonotonie, sondern in der Beinahe-Poesie, die wir als Dialog kennen. Wie Alchemisten brauen und formen sie ihre Mixtur aus Figur, Konflikt und Wandel, um sie schließlich mit Dialogen zu verzieren und aus dem wertlosen Metall des Daseins das glänzende Gold einer Geschichte, einer Story, zu gewinnen.
Einmal ausgesprochen, tragen Dialoge uns auf Wellen der Wahrnehmung und des konkreten Inhalts dahin, die vom Gesagten über das Ungesagte bis hin zum Unsagbaren nachschwingen. Das Gesagte besteht aus den Ideen und Empfindungen, die eine Figur anderen gegenüber äußert; das Ungesagte besteht aus den Gedanken und Gefühlen, die die Figur mit ihrer inneren Stimme äußert, allerdings nur sich selbst gegenüber; das Unsagbare schließlich sind die unbewussten Triebe und Wünsche, die eine Figur nicht einmal vor sich selbst in Worte fassen kann, weil sie stumm sind und jenseits der Wahrnehmung liegen.
Egal, wie aufwendig die Inszenierung eines Theaterstücks auch ist, wie lebendig die Schilderung eines Romans und wie opulent die Kameraführung eines Films: Die tiefgreifende Komplexität, die Ironie und das »Innere« der Story werden durch die Figurenrede geformt. Ohne ausdrucksvolle Dialoge verlieren die Geschehnisse an Tiefe, die Figuren werden eindimensional, die Story verflacht. Mehr als jede andere Charakterisierungstechnik (Geschlecht, Alter, Kleidung, Gesellschaftsschicht) haben Dialoge die Kraft, Storys durch die vielschichtigen Sedimente des Lebens ans Licht zu holen und eine bloß komplizierte Erzählung ins volle Spektrum der Komplexität zu erheben.
Merken Sie sich auch immer Ihre Lieblingssätze, so wie ich? Ich glaube, wir lernen Dialogpassagen nicht nur deshalb auswendig, weil beim Zitieren das lebendige Wort-Bild, das sie malen, immer wieder neu entsteht, sondern auch, weil wir im Widerhall der Gedanken einer Figur unsere eigenen hören:
»Und morgen und dann morgen und dann morgen,
So kriecht’s im Schleicheschritt von Tag zu Tag
Zur letzten Silbe hin im Lebensbuch;
Und alles Gestern hat nur Narrn geleuchtet
Beim Gang zu Dreck und Tod.«1
Macbeth im gleichnamigen Shakespeare-Stück
»Von allen Spelunken dieser Welt muss sie ausgerechnet in meine kommen.«2
Rick in Casablanca
»Schlingernd halt ich auf dich zu, o Wal, der du alles vernichtest und doch nichts besiegst; bis zum Letzten ring ich mit dir, aus dem Herzen der Hölle stech ich nach dir, dem Hass zuliebe spei ich meinen letzten Hauch nach dir!«3
Ahab in Moby Dick
»Nicht, dass dagegen was zu sagen wäre.«
Jerry in Seinfeld
So wie diese vier Figuren hat auch jeder und jede von uns schon das Brennen der Ironie ertragen müssen, die blitzartige Einsicht in das, was die Welt uns angetan hat, oder – schlimmer noch – was wir uns selbst angetan haben, diesen zweischneidigen Moment, wenn das Leben sich auf unsere Kosten amüsiert und wir gar nicht mehr wissen, ob wir lachen oder leiden sollen. Aber wie sollten wir die köstlichen Geschmacklosigkeiten solcher Ironie angemessen würdigen, wenn die Schriftsteller sie nicht für uns mit Worten würzen würden? Wie sollten wir all die Paradoxien in Erinnerung behalten, ohne die Gedächtnisstütze von Dialogen?
Ich liebe die Kunst des Dialogs in all ihren Variationen. Diese Zuneigung hat mich bewogen, das vorliegende Buch zu schreiben und dem krönenden Akt beim Entwickeln einer Story auf den Grund zu gehen: wie man seinen Figuren eine Stimme gibt.
* Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)