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1.1.2 Filmdramaturgie
ОглавлениеDie Auffassung, Filmdramaturgie auf klassischer Dramentheorie aufbauend herzuleiten, wird hauptsächlich vom Personal an Bildungseinrichtungen zum Film bzw. Theater vertreten, deren Schriften teilweise im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert wurden. Zur Filmdramaturgie gehören handwerklich-gestalterische Anteile genauso wie das analytisch-beschreibende Wesen von Dramaturgie. Konzeption, Umsetzung, Wirkung, aber auch die analytische Reflexion des filmischen Erzählens werden – wie generell bei Dramaturgie – auch in der Filmdramaturgie maßgeblich von Auffassungen zur Ästhetik beeinflusst. Dazu kommen aber die bei dieser Kunstform zu berücksichtigenden komplexen ökonomischen Rahmenbedingungen der Produktions-, Aufführungs- und Vermarktungsabfolge, in denen Film als Produkt normalerweise auf eine bestimmte, unterschiedlich definierte Weise erfolgreich sein muss. Filmdramaturgie zeigt sich sowohl in der Anwendung von sehr weit zurückreichenden Gesetzmäßigkeiten, als auch in ganz neuen Formen der audiovisuellen Erzählkunst.
Poetische Ideen müssen sich im Falle des Films im Rahmen wirtschaftlicher und organisatorischer Bedingungen und meistenteils industrialisierter Produktionsmethoden verwirklichen lassen. Poesie und Ökonomie stehen sich dabei manchmal behindernd, manchmal anregend gegenüber. Auch hierauf beziehen sich Auffassungen zur Filmdramaturgie, die Film als Kunst und zugleich als Ware in der Lebenswelt der Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden positionieren. Gattungsbegriffe wie Autorenfilm, Mainstreamfilm, Arthouse und ähnliche zeigen diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Positionen, die in die Normen der Dramaturgie eines Films hineinwirken, bereits an.
Dramaturgie und die industriellen und technologischen Aspekte der Filmkunst sind mit dem Phänomen der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst- und Industrieprodukts Film verknüpft.17 Besonders in Zeiten der annähernd vollständigen Digitalisierung der Medienwelt sind die Reproduzierbarkeit und Formen der Präsenz eines Films neben den langen Erzähltraditionen in Literatur und Drama ein wesentlicher Aspekt der Filmdramaturgie. So gilt Film als einflussreiches wie stark beeinflusstes Massenmedium und hebt sich in diesem Ausmaß z. B. von der Theaterdramaturgie ab.
Filmdramaturgie rückt ein besonders heterogenes Publikum ins Zentrum dramaturgischer Strategien. Der ideale Zuschauer im Kino muss anders angesprochen werden als der ideale Leser eines Buches oder ein Theaterpublikum: Die unterschiedlichen Medien, Rezeptionsorte, Formen der Performativität18 und »Rezeptionsmodalitäten«19 beeinflussen generelle und spezielle Entscheidungen zur Filmdramaturgie, die hier allerdings nicht alle im Einzelnen dargelegt werden können.
Gegenstand der Filmdramaturgie ist auch die dramaturgische Bedeutung der Montage, d. h. das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der visuellen, verbalen und auditiven Gestaltungsmittel im Film, die somit Teil der Spezifik der Filmkunst sind. Hierzu gehört auch die besondere Beziehung zur »realen« Zeit, wie Tarkovskij schreibt:
»[…] hier war ein neues Prinzip entstanden. Dieses Prinzip bestand darin, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur die Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. […] Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. […] das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98 f.)
Filmdramaturgie beruht auf dem Erzählen mit eigenen bildgestalterischen und auditiven Elementen, zugleich aber auch auf Konzepten und Strukturen des Dramas und auf Mitteln des literarischen Erzählens. Zur Vergleichbarkeit des Films mit dem Drama schreibt Esslin:
»Daß das Theater (live, Drama auf der Bühne) sui generis ist und sich in vielen seiner Methoden vom Film (und von den filmischen Formen des Fernsehens) unterscheidet, daran besteht natürlich kein Zweifel. Dennoch erscheint mir ebensowenig Zweifel daran zu bestehen, daß beiden gemeinsam eine Basis zugrunde liegt, die des Dramas.« (Esslin 1989, S. 31)
Zu dieser gemeinsamen Basis gehören zunächst die in besonderer Weise an den zeitlichen Verlauf der Aufführung oder Vorführung vor Publikum gebundene Art des Erzählens sowie die meisten Formen des Handlungsaufbaus, der Figurendispositionen und -rede, Notwendigkeiten der Lokalisierung der Handlung, Gestaltung von Kontinuität und Diskontinuität und Perspektivierung. Film hat aber mit dem literarischen Erzählen gemeinsam, dass im Gegensatz zur Theaterbühne differenziertere bzw. indifferente Erzählinstanzen etabliert werden können. Mit den Möglichkeiten der filmischen Montage sind gegenüber Literatur und Theater vielfältigere Formen der Perspektivierung und zur Kreation und Imagination der erzählten Welt möglich.
Bernhard Asmuth sieht den Tonfilm als mediendramatische Form und damit als eine Art der Darbietung eines Dramas mit elektronischen Medien an.20 Mit dieser »szenisch-theatralischen Darbietungsform« sind »vier Produktionsbereiche bzw. die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt« (Asmuth 2004, S. 22), nämlich Theater, Literatur, elektronische Medien und Musik.
Die Ausführungen von Aristoteles, die zwischen Epos und Tragödie unterscheiden, können auch für Filmdramaturgie berücksichtigt werden. Im Film finden sich beide Arten des nachahmenden bzw. nachschöpfenden Handelns, die auch als dramatisches und als episches Prinzip bezeichnet werden können. Diese Vergleichbarkeit von Film und Drama lässt weitere Überlegungen zu, die auch den Einsatz und die Analyse von Filmmusik betreffen, z. B. dass auch lyrische Prinzipien Anteil an der Filmerzählung haben. Daher hier eine Zusammenfassung der drei Prinzipien:
1. Dramatisches Prinzip (mimesis, Zeigehandlung): Das Erzählen durch zeigendes, direkt nachschöpfendes Handeln mithilfe von Figuren in wirklichkeitsnaher Präsenz und meist konflikthaften Situationen ist konstituierend für eine Bühnenhandlung. Die Erzählinstanz »verschwindet« hinter den Figuren. Eine Handlung ergibt sich traditionell in logischer, kausal-temporal übersichtlicher Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die von den Eigenschaften, Motiven und Konflikten der Figuren und daraus folgenden Verdichtungen angetrieben werden (»und weil … und weil …«21). Formal sind Handlungen in Szenen und Szenen in Akten gebündelt.
Im dramatischen Prinzip ist Nachahmung besonders anschaulich, kann aber nicht auf das Theater beschränkt werden. Bei Aristoteles ist zu lesen, wie Modi der Nachahmung zu unterscheiden sind:
»Bei der Nachahmung gibt es ja diese drei Unterschiede, wie wir zu Beginn festgestellt haben: die Medien, die Gegenstände und den Modus der Nachahmung. Daher ist Sophokles im Sinn der einen Unterscheidung in der gleichen Weise ein nachahmender Dichter wie Homer, beide nämlich ahmen gute Charaktere nach, im Sinn der anderen Unterscheidung aber wie Aristophanes, denn beide [Sophokles und Aristophanes] verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem Personen ihre Handlungen selbst ausführen. Daher kommt auch, wie einige meinen, der Name ›Drama‹ {(Bühnen-)Aktion} für ihre Dichtungen, weil sie ihre Charaktere selbst agieren lassen.« (Aristoteles 2008, S. 5; Kap. 3, 1448a25)
»Charaktere nachahmen« bedeutet in Bezug auf das Erzählen, die charakterisierenden Handlungen von darstellungswürdigen Figuren im darstellenden Spiel zu zeigen oder aber von solchen Handlungen der Charaktere mündlich oder schriftlich zu berichten.22 Nachahmung muss von der antiken rhetorischen Kategorie der imitatio unterschieden und kann besser als »Nachschöpfen« bezeichnet und verstanden werden. Dies hebt den Lernaspekt und das kreative Aneignen der Welt in den Vordergrund.23
2. Episches Prinzip (diegesis, Schilderung/Erzählung/Bericht): Das indirekt nachschöpfende Erzählen, bei dem Handlungen in Formen des Berichts (auktorial oder figural) geschildert werden (»und dann … und dann …«24), ist konstituierend für Epen, Romane, Erzählungen oder Novellen. Das Wesen der Figuren und ihrer Konflikte zeigt sich nicht im dargestellten Handeln und Sprechen, sondern durch die Beschreibung der Figuren und Vorgänge, d. h. mit den durch eine Erzählinstanz übermittelten Taten und zugewiesenen Worten. In diesem Modus ist die formal ordnende Hand einer auktorialen oder figuralen Erzählinstanz erkennbar. Die Erzählinstanz verknüpft alle Handlungsteile, Orte und Zeitebenen bzw. -abschnitte, weswegen dies nicht zwingend logisch, sondern gegebenenfalls thematisch, assoziativ oder Figurzentriert, aus wechselnder Perspektive usw. geschehen kann. Formal typisch sind die weitschweifige Anlage, gliedernde Kapitel und Rahmungen.
In einem Drama bleibt die Erzählinstanz hinter ihren Figuren und szenischen Einfällen verborgen: Die Figuren zeigen uns durch direkte Nachahmung (zeigendes Darstellen), worum es geht. Im berichtenden Modus mit indirekter Nachahmung (erzählendes Darstellen) tritt eine Erzählinstanz vermittelnd zwischen Geschichte und Publikum und berichtet von den Handlungen der Charaktere, d. h. erzählt auf indirekt nachahmende und nachschöpfende Art und Weise. Daraus ergeben sich andere Möglichkeiten zur Anordnung der Handlung im Drama oder im Epos. Das Grundprinzip des Nachschöpfens mit zum Aufführungsort gehörenden oder das Medium kennzeichnenden Mitteln gilt aber für beide Modi.
Das Dramatische und Epische des Films betreffend schlussfolgerten schon Adorno und Eisler in ihrem Filmmusik-Buch:
»Zur Einsicht in solche Möglichkeiten [zur Erzeugung von Spannung] hilft die Besinnung auf die dramaturgische Form des Films als solche. Film ist eine Mischform von Drama und Roman. Gleich dem Drama stellt er Personen und Vorgänge unmittelbar, leibhaft vor Augen, ohne das Moment des ›Berichts‹ zwischen den Vorgang und den Zuschauer zu schieben. Daher die Forderung nach der ›Intensität‹ des Films, wie sie als Spannung, Emotion, Konflikt sich kundgibt. Auf der anderen Seite aber hat der Film prinzipiell selber ein berichtendes Element. Jeder Spielfilm mahnt an Bildreportage. Der Film gliedert sich nach Kapiteln eher als nach Akten. Er baut sich aus Episoden auf. Dass zu Filmstoffen Romane und Novellen eher sich hergeben als Dramen, ist nicht zufällig, sondern hängt […] auch mit der extensiven epischen Form des Films zusammen. Ein Drama muss, um filmgerecht zu werden, gleichsam erst mit romanhaften Zügen versetzt werden. Zwischen den dramatischen und epischen Momenten aber besteht im Film ein Bruch: der eindimensionale Zeitverlauf des Films, seine epische Kontinuität erschwert die intensive Konzentration, die von der dramatischen Gegenwart der Filmvorgänge gefordert wird.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33 f.)
Adorno und Eisler benennen hier die womöglich grundlegendste dramaturgische Rechtfertigung von externer Musik im Tonfilm, sofern Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit enthalten sein soll: Sie ist durch ihre eigene musikalische Kontinuität und ihren ergänzenden Wirkungsbereich in der Lage, die Brüche zwischen den sich abwechselnden Erzählmodi, welche den Erzählfluss fragmentieren und die »intensive Konzentration« behindern könnten, zu schließen.
Die beiden Modi entsprechen dem dramatischen bzw. epischen Prinzip, die in Hegels Ästhetik – ergänzt um die lyrischen Mittel – systematisiert werden.25 Hegel schreibt dem Epischen eine geistige, »einheitsvolle Totalität« zu, die den »allgemeinen Welthintergrund« und die »individuelle Begebenheit« miteinander verbindet (Hegel 1818–29/1984, S. 438 ff., Bd. 2). Er benennt die Eigenheiten des epischen Erzählens, die »einheitsvolle Totalität« und die Entfaltung ausufernder epischer Erzählformen, die sich dennoch in eine Gesamtform fügen müssen, in folgender Weise:
»[…] erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhangs der besonderen (individuellen) Handlung mit ihrem substanziellen Boden (dem allgemeinen Welthintergrund-)Willen zur Darstellung gelangen dürfen; zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise; drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.« (Hegel 1818–29/1984, S. 438, Bd. 2)
Im Kino gehen das dramatische und epische Prinzip abwechselnd ineinander über oder überlagern sich sogar, z. B. wenn die Figuren noch agieren (dramatische Aktion) und die Filmmusik bereits auf die epische Totalität anspielt und die Situation in einen größeren Kontext stellt. Für das Publikum kann durch die unterschiedlichen Modi eine jeweils andere Rezeptionshaltung entstehen. Rezeptionshaltungen sind entscheidend für die Plausibilität und Aufschlüsselung der Handlung. Diese Beobachtungen sind grundlegend, betreffen auch die Wahl der Terminologie zur Analyse von Filmmusik und rechtfertigen eine noch etwas weitergehende Erläuterung der Erzählmodi.
Im Film wechseln sich nicht nur beide Modi miteinander ab, sondern sind noch zusammen mit lyrischen Erzählmitteln wirksam. Jedoch können die drei Modi im Film weniger klar voneinander abgegrenzt werden als in Theater und Literatur. Dies zeichnet die Dramaturgie des Films auf grundlegender Ebene aus. Wesensmerkmal filmischer Erzählinstanzen ist demnach ihre Ambivalenz, die sich im flexiblen Umgang mit den Erzählmodi dramatisch, episch und lyrisch zeigt. Filmmusik gibt nicht selten Anhaltspunkte dafür, wie ein Bild oder eine Aktion verstanden werden soll, welche narrative Bedeutung ein Vorgang, ein Bild oder Dialogsatz haben kann, speziell dann, wenn dass Dargestellte etwas anderes meint, als es zeigt, d. h. als Metapher verstanden werden sollte, wie im lyrischen Prinzip des Erzählens.
3. Lyrisches Prinzip: Das Konstitutive des lyrischen Prinzips sind die inneren Anschauungen, Emotionen und Assoziationen aus subjektiver Sicht eines Autors bzw. einer Autorin. Es werden mehr die Zustände und Empfindungen präsentiert als Vorgänge geschildert. Das Erzählte bzw. Gezeigte ist allegorisch oder metaphorisch gemeint, d. h. als bildhafter Vergleich, der lange Umschreibungen unnötig macht oder Bedeutungslücken schließt. Die Mittel des Lyrischen sind keiner raumzeitlichen Ordnung verhaftet, sondern durch Zeitlosigkeit, Rhythmus (z. B. Versmaß), Symmetrien usw. gekennzeichnet und strukturiert.
Im Lyrischen Erzählen wird der Anspruch auf Objektivität und Allwissenheit, der gerade in der Totalität des Epischen steckt, oder auf Authentizität sowie das Naturalistische, das der Zeigehandlung im dramatischen Modus anhaftet, aufgegeben. Charakteristisch sind auch die gefühlte Zeitlosigkeit – ganz im Gegensatz zum prozessorientierten dramatischen Modus oder dem raffenden oder weitschweifigen Gestus des epischen Erzählmodus. Bei Platon ist schon zu lesen, dass im lyrischen Modus (dithyrambos) der Dichter selbst zu hören sei, im Drama der Dichter hinter seinen Figuren verschwinde und im Epos die Rede des Dichters mit den handelnden Figuren kombiniert werde (Platon, S. 394 a–c, 3. Buch).
Lyrische Mittel im Film sind durch Auswahl und Anordnung von Bildern, Sprache, Musik und Ton erkennbar, die nicht auf Figuren oder Handlungen, sondern mehr auf die Filmautoren und ihre Ansichten oder Assoziationen verweisen. Logik und Prozessualität werden ersetzt durch sinnbildhafte Assoziation und Dehnung eines Moments, um Bedeutung und Tiefe von Gefühlen oder Auffassungen auszuloten. Tarkovskijs Auffassung von filmischer Poesie scheint zu einem großen Teil vom lyrischen Prinzip geprägt zu sein, auch wenn er selbst gegenüber den Mitteln des Lyrischen Vorbehalte formuliert hat:
»Der poetische Film bringt in der Regel Symbole, Allegorien und ähnliche rhetorische Figuren dieser Art hervor. Und ebendiese haben nun nichts mit jener Bildlichkeit gemeinsam, die die Natur des Films ausmacht.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98)
Seine Werke zeigen eine »poetische Logik«, die im hier verwendeten System der Unterscheidungen der Poesie als zum großen Teil »lyrisch« bezeichnet werden müsste. Poesie versteht Tarkovskij nicht als Gattungsbegriff, sondern als »eine Weltsicht, eine besondere Form des Verhältnisses zur Wirklichkeit« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 35), die der »Banalisierung der komplexen Lebensrealität«, die nach seiner Meinung durch die Logik der klassischen Dramaturgie entsteht, am ehesten entgegenwirken könne.26
Schon allein die fotografische Objektivität der filmischen Abbildung birgt in sich die Gefahr der Banalisierung. Formalisierungen der Dramaturgie vergrößern aber zweifellos diese Gefahr auf einer weiteren Ebene. Die »poetische Logik« stellt hierzu eine Alternative dar:
»Doch es gibt auch andere Möglichkeiten zur Synthese filmischer Materialien, bei der das Wichtigste die Darstellung der Logik des menschlichen Denkens ist. Und in diesem Fall wird dann sie die Abfolge der Ereignisse und ihre Montage, die alles zu einem Ganzen zusammenfügt, bestimmen. […] Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die Logik der klassischen Dramaturgie.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 33)
Die Unterscheidung zwischen dramatischen, epischen und lyrischen Modi des Erzählens findet sich prinzipiell schon in der Antike. In Hegels Vorlesungen zur Ästhetik begegnet uns diese Unterscheidung ebenfalls.27 Das Konzept der Erzählmodi kann auch auf den Film angewandt werden, der erzähltheoretisch sowohl aus dem Drama als auch aus dem Roman, außerdem aus anderen literarischen Gattungen seine Mittel nimmt. Hegels Ausführungen sind nicht nur auf die Dichtkunst beschränkt, sondern betreffen die Grundprinzipien aller Künste. Sie eignen sich aus dieser Sicht auch für die Übertragung auf Filmdramaturgie, da es zum Wesen des Films gehört, die Mittel verschiedener Kunstformen in besonderer Weise integrieren zu können.28 So werden dramatische Darstellung, epischer Bericht und lyrische Prinzipien mit den visuellen und auditiven Mitteln des Films kreiert und in Kombination, sich gegenseitig ergänzend, für Strukturen und Wirkung des filmischen Erzählens bedeutsam.
Auf die Filmdramaturgie haben nicht nur die Dramentheorien und Modelle von Aristoteles und weiteren klassischen Autoren, von Lessing, Freytag und anderen Einfluss genommen, sondern auch das aus der Mythenforschung des 20. Jahrhunderts kommende Modell der Heldenreise.29 Campbell und Frye (Campbell und Frye 1949) bilden mit dem Modell der Heldenreise etwas ab, das Filmschaffende in vielfältigen Varianten bewusst oder intuitiv nutzen, und lieferten zugleich Analyse- wie Strukturvorgaben, die für moderne Varianten der Filmdramaturgie anwendbar sind. Ihr Modell ist aus der tiefenpsychologischen Sicht auf die Bauform von Märchen30 und mythologischen Geschichten entstanden und verbindet Struktur und Psychologie in der für Dramaturgie bedeutsamen Weise, die das Publikum als Zentrum der Erzählstrategien sieht: Die Rezipierenden können nachvollziehen, wie eine Figur stellvertretend die Stationen der Heldenreise durchlebt und mit ihnen essenzielle, immanente und transzendente Erfahrungen simuliert werden.31
In der Filmdramaturgie sind pragmatisch ausgerichtete Strukturmodelle wie das 3-Akt- bzw. 5-Akt-Modell geläufig, aber auch ein sogenanntes 8-Sequenzen-Modell.32 Niedergeschlagen hat sich dies inzwischen in etlichen Fachbüchern zum Verfassen von Drehbüchern, z. B. von Syd Field (Field 1979) und anderen.33 Christopher Voglers Buch (Vogler 1998) zeigt prominent, wie die epischen Anteile der Heldenreise und die dramatischen Anteile der 3-Akt-Struktur nach aristotelischem Vorbild für den Film miteinander kombiniert werden können.
Die Autorinnen und Autoren von DramaQueen34, die einen pragmatischen, auf das Schreiben für Film fokussierten Zugang zur Thematik haben, formulieren folgende Definitionen von Dramaturgie. Sie bauen erkennbar auf historisch überlieferten Prämissen auf:
»Dramaturgie ist die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte. Als Technik des Geschichtenerzählens basiert sie auf Analysen von Erzählungen. Seit der Antike begannen sich die Erkenntnisse über Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen zu Maximen zu verdichten. Auf diese Weise kristallisierten sich überkulturelle, mit dem menschlichen Bewusstsein korrespondierende Erzählmuster heraus. Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie. […]
Filmdramaturgie liefert die Prinzipien für eine möglichst ›effektvolle‹ Komposition einer Geschichte. In einem Film stehen die Narrationskanäle Bild und Ton zu Verfügung, wobei sich die tonale Ebene wiederum in Sprache, Geräusche und Musik unterteilt. Daraus ergeben sich vielfältige erzählerische Möglichkeiten, die das Medium Film von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreien. Dieser prinzipiellen Schrankenlosigkeit setzt Dramaturgie die Forderung nach Selektion und Effektivität entgegen.«35
Wenngleich sich die Terminologie der verschiedenen Modelle der klassischen Dramaturgie und die unterschiedlichen Ansätze zur Drehbuchliteratur voneinander unterscheiden, finden sich auffallend viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Strukturmodellen, egal ob sie in Akten, Stationen oder Sequenzen organisiert sind. Vergleicht man die Modelle miteinander, zeigt sich, dass vergleichbare Ereignismomente mit prinzipiell gleicher dramaturgischer Qualität in ihrer zeitlichen Organisation bezeichnet und angeordnet werden, wie Becker (Becker 2014) bereits feststellte.36 (s. Abb. 1)
Berücksichtigt man die vielen Formen »offener« Dramaturgien im Kino, müssen die Schematisierungen verschiedener Drehbuchratgeber trotz teils erhellender Kategorien fast zwangsläufig als eine Reduktion der filmischen Vielfalt erscheinen. Auch entgegen vieler Modelle für die geschlossene Form sind z. B. plot points (Dreh- oder Wendepunkte der Handlung, die unumkehrbar sind und die nachfolgende Handlung richtungsgebend beeinflussen) nicht nur in bestimmten Akten oder Phasen eines Sequenzmodells anzutreffen, sondern können an vielen Stellen auftreten.
Abb. 1: Vergleichbarkeit der dramaturgischen Strukturmodelle (nach Campbell, Aristoteles, Freytag, Field und Vogler)
Robert McKee versucht neben konventionellen Strategien (»archeplot«) auch offene (»miniplot«) bzw. nichtlineare Dramaturgien (»antiplot«) zu erfassen (McKee 1997). Das von Peter Hanson und Paul Herman 2010 veröffentlichte Buch Tales from the Script (Hanson und Herman 2010) lässt 50 Drehbuchautorinnen und -autoren selbst zu Wort kommen. Die Herausgeber belegen so Vielfalt, Komplexität und gegenseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Kino- bzw. Erzähltraditionen und widerlegen zugleich die vermutlich aus kommerziellen Gründen erwachsene Idee vom erfolgreichen Drehbuch, das lediglich auf schematisierten Mustern beruhen würde, und die von den meisten Drehbuchratgebern aufrechterhalten wird.37
Daneben finden sich deutschsprachige Veröffentlichungen zur Filmdramaturgie in der neueren medienwissenschaftlichen Literatur, die einen starken Einfluss der nordamerikanischen Drehbuchratgeber zeigen oder eine daran orientierte Filmanalyse betreiben (Eder 1999/2007, Krützen 2004, Beil, Kühnel und Neuhaus 2012), selten mit ausgeprägter praktischer Erfahrung im Hintergrund (Wagner 2015). Stutterheim und Kaiser (Stutterheim und Kaiser 2009/2011) sowie Lang und Dreher (Lang und Dreher 2013) wenden erstmals das bereits in der Musikwissenschaft (Dahlhaus 1992) und in der Theaterwissenschaft (Rohmer 2000) angewandte Konzept zur Differenzierung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen auf Filmdramaturgie an.38 Einen meist nur am Rande betrachteten Teil von Filmdramaturgie, die Erschaffung und Entwicklung von Figuren, rückt Jens Becker (Becker 2012) ins Zentrum.
Für den englischsprachigen Raum ist Bordwells (Bordwell 1985) und Thompsons (Bordwell und Thompson 1979) Theorie zum Film als viel zitierter Ansatz zur Filmdramaturgie zu nennen. Bordwell und Thompson kommen allerdings ohne den Terminus »Dramaturgie« (dramaturgy) aus und verwenden den Begriff narration für die in weiten Teilen vergleichbaren Sachverhalte. Sie akzentuieren durch die Bezeichnung narration die im Werk angelegte strategische Informationsdistribution und kognitive Arbeit während der Rezeption.39
Bei der Frage nach der Unterscheidung zwischen der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme muss festgestellt werden, dass im Gegensatz zur Spielfilmdramaturgie kaum Literatur zur Dramaturgie des Dokumentarfilms vorliegt.40 Bei genauerer Betrachtung weisen beide Gattungen grundsätzlich gesehen viele Gemeinsamkeiten auf:
»Ein Autor/eine Autorin will aus einem spezifischen Anliegen heraus über einen von ihm oder ihr gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit erzählen – mit wirklichen Menschen und mit Materialien, die vor Ort aufgenommen werden. Und: Erzählen ist – im Unterschied zur Mitteilung und der Rede – eine künstlerische Tätigkeit. Von der Regie und Kameraperson werden für einen solchen Film zunächst Motive ausgewählt, die genau dieses Anliegen auf die treffendste und bildhafteste Weise vermitteln. Ein Dokumentarfilm ist kein spiegelndes Dokument der Wirklichkeit – auch nicht der des Direct Cinema, das oft als vermeintliche Folie dafür angeführt wird.« (Stutterheim 2011, S. 2)
Auch die Analyse von Filmmusik im Dokumentarfilm bestätigt, dass grundlegende Gemeinsamkeiten in der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme bestehen.41 Wichtige Unterschiede sind z. B. darin zu finden, wie konkret ein Drehbuch verfasst ist, welche Intentionen die Filmschaffenden haben und dass im Dokumentarfilm eine Verantwortung gegenüber den Protagonisten besteht, deren Leben nicht nur der Vorwand für eine Geschichte ist. Interessant wäre die Frage, wie Aristoteles den Dokumentarfilm bewertet hätte. Vermutlich würde er seine Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Poesie heranziehen: Die Mittel sind ganz ähnlich, aber der eine ahmt die Welt nach, wie sie ist, die Poesie ahmt die Welt nach, wie sie aus Sicht der Dichtenden sein sollte.