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1.1.6 Die »Fabel« (mythos, story)

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In den folgenden beiden Kapiteln wird der ursprünglich sehr alte, aber auch in einem modernen Verständnis taugliche Begriff »Fabel« eingehender erläutert. Zudem soll das Fabel-Sujet-Begriffspaar neu diskutiert werden. Eine Systematisierung unterschiedlicher Fabelkonzepte und Beispiele für den Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik wird später in den Kapiteln 4.4. und 4.5 vorgenommen.

Als Fabel kann die für die Wirkung einer Geschichte entscheidende Handlungskomposition bezeichnet werden. Bedeutende, theoretisch und praktisch untermauerte Fabelkonzepte stammen von Aristoteles (Aristoteles ca. 335 v. Chr./2008), Lessing (Lessing 1767/69), Brecht (Brecht 1964a) und Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009). In der Filmpraxis werden individuelle Fabelkonzepte z. B. von Antonioni, Buñuel, Bergman u. a. Autorenfilmern realisiert oder aus literarischen Werken oder von Bühnenwerken übernommen. Deren grundlegende Fabelideen finden sich nicht selten in filmisch erzählten Geschichten wieder.

Da »Fabel« auch als literarischer Gattungsbegriff (z. B. Tierfabeln) verwendet wird, hier aber – den genannten Autoren folgend – in seiner dramaturgischen Bedeutung eingesetzt wird, soll dieser Terminus nun definiert und näher erläutert werden.

Die Fabel (auch: Handlungskomposition; ursprünglich im Griechischen mythos, im Englischen meist story) ist als immaterielles, einheitsbildendes Prinzip zu verstehen und umreißt die Anlage der Geschichte bestehend aus Figur(en), Thema bzw. Konflikt und Grundzügen der Handlung.

Anders als die präsentierte Handlung (Sujet, discours oder plot), welche die Vorgänge, Begebenheiten und Tätigkeiten der Figuren zeigt, benennt die Fabel den inneren, spannungsvollen Zusammenhang aller Teile und der wesentlichen Vorgänge. Die Fabel enthält implizit den auf eine bestimmte Wirkung abzielenden Grund für die gewählte Disposition von Figur, Konflikt und Thema sowie essenzielle Anhaltspunkte zur Organisation des Ablaufs der Handlung. Dieser Zusammenhalt kann nicht nur über Chronologie und Kausalität hergestellt und nachvollzogen werden, wie etwa bei Bordwell und vielen anderen zu lesen ist. Wirkungsvolle Fabelideen beruhen vielmehr auf einem besonderen Blickwinkel auf die Geschehnisse. Ein besonderer Blickwinkel kann Nebenfiguren neu gewichten, Anachronien rechtfertigen oder nicht-logische Abläufe nach sich ziehen mit dem dramaturgischen Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die gewählte Disposition die passendste für die Geschichte oder neue Variante einer im Prinzip schon bekannten Geschichte sei. Die präsentierte Handlung konkretisiert Zeitsprünge lediglich, wohingegen die Fabel erklärt, weshalb sie vorgenommen wurden.

Erst im Laufe des Geschehens erklärt sich einem Publikum der innere Zusammenhalt und kann als Fabel rekonstruiert werden. Eine kunstvolle Fabel bewirkt die spannungsvolle, zwingend oder folgerichtig erscheinende raumzeitliche Anordnung und Entwicklung der Vorgänge. Gerade wenn die epischen Stoffe der antiken Mythen in Dramenfassungen umgewandelt werden sollten, war eine pointierte und schlüssige Fabelidee die Grundlage für herausragende Wirkungen bei den attischen Dramenwettbewerben. In einer Fabel steckt das bindende dramaturgische Element für die Verknüpfung der Handlung(en), weswegen sie oft mit der Kausalkette gleichgesetzt wird. Die Fabel bestimmt aber auch jene Bindungskräfte, welche nicht nur die kausalen, sondern auch unbewusst bleibenden, nicht-logisch gereihten Motive und Handlungen verknüpft. Sie bestimmt die spannungsvollen Konstellationen aus Thema, Figur, Konflikt und Ablauf der Handlung. Darin eingeschlossen ist die Perspektivierung und der folgerichtige Sinn von chronologischer oder nicht-chronologischer Anordnung der Vorgänge.

Im Einfall für eine Fabel stecken Disposition und Charakterisierung der Figuren, die Gründe für ihre Konflikte und die Grundrichtung dafür, wie sich die Handlung räumlich und zeitlich entfaltet. Die Fabel kann dabei bereits zentrale Elemente der Handlung enthalten, z. B. Wendepunkte (plot points). Daher ist auch der Begriff Plot im Sprachgebrauch zu finden, der allerdings die Gegenüberstellung von Fabel und Sujet (story und plot) unmöglich macht. Die Fabel trägt den inventionalen Kern der Geschichte in sich,74 z. B. einen Grundkonflikt. Sie bestimmt den generellen Blickwinkel auf das Geschehen bzw. die generelle Erzählperspektive so, dass die Erzählung spannungsvoll wirkt. Die Fabel beinhaltet die Grundlage für einen Konflikt und gibt ihm eine Richtung, sodass er – zumindest in der geschlossenen Form – folgerichtig zu einer glücklichen oder unglücklichen Lösung geführt werden kann. In offenen Formen gibt die Fabel den Rahmen, damit der Grundkonflikt oder das generelle Thema variiert anstatt durchgeführt werden kann.

Eine Fabel lässt sich erst rückblickend gedanklich zusammensetzen und erscheint dann als auf »ihrer temporalen Achse entlang entfaltet« (Eco 1979/dt. 1987, S. 152). Die Fabel ist nicht die Handlung, sondern stellt den Handlungszusammenhang her. Tarkovskij fand für solche Bindungsgesetze im filmischen Erzählen die Formulierung »Arrangement von Beobachtungen« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98), die vor allem für neuere, nicht-aristotelische Dramaturgien gelten sollte. Es wäre schwierig zu behaupten, die Elemente der Fabel in allen Fällen eindeutig benennen zu können. Dennoch kann eine überzeugend erzählte Geschichte meist auf einen solchen Kern der Erzählung zurückgeführt werden.

Wenn man den künstlerischen Schaffensprozess des Erzählens vor Augen hat, kann die Erfindung einer Fabelidee als Prozess verstanden werden, der die zu erzählende Geschichte vom vor-künstlerischen Stoff durch Abstraktion, eine Auswahl von Begebenheiten bzw. durch Nicht-Ausgewähltes abgrenzt und so einen »erzählbaren Teil« der Welt erschafft.75 Schon die bewusst oder unreflektiert angewendeten Kriterien der Auswahl und Abstraktion erzeugen eine werkimmanente Kohärenz, die sich in einer Fabelidee konkretisiert.

Das Fabelkonzept des Aristoteles für antike Tragödien, das in der Filmdramaturgie immer wieder Erwähnung findet, beruht bekanntlich auf dessen Beobachtungen bei einigen Autoren von Dramen, deren Werke in den öffentlichen attischen Dramenwettbewerben besondere Wirkung zeigten. Begebenheiten und Handlungen werden nach den Gesetzen der »inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451 a35) komponiert, d. h. sie sind unter den Bedingungen der Mythostragödie kausal verbunden und werden – sich daraus ergebend – in einer raumzeitlich überschaubaren Einheit organisiert.76 Im Falle des Dramas bzw. der Tragödie ist nach Aristoteles die Handlungskomposition für die Konstitution gegenüber den Figuren vorzuziehen,77 welche die Handlungen zwar vorantreiben können, die aber nur als Teil der Fabel überhaupt eine Daseinsberechtigung haben (z. B. Ödipus in der Tragödie von Sophokles, dessen Geschichte zugunsten der Bauform des Dramas rückblickend erzählt wird). Aristoteles stellt dem die Epen gegenüber, die aufgrund ihres Modus der erzählenden bzw. berichtenden Darstellung (diegesis) anders funktionieren: Sie haben unbegrenzt Zeit und teils mehrere zentrale Figuren als konstituierende Kraft.78 Da der Film poetische Gattungsanteile von Drama und Epos enthält, wäre die Definition einer Filmfabel dementsprechend zu erweitern.

Die Theoretiker der Neuzeit haben den Charakter der Fabel und die Bedeutung der Katharsis jeweils in ihrem Sinne interpretiert: im Barock und zur Zeit des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert bei G. Freytag als Manifestation einer zentralen Macht und ihrer Repräsentanten, von Lessing als Weg zu einem aufgeklärten Geist und von Brecht, der die Fabel als zentrales dramaturgisches Element anerkennt, jedoch die Katharsis als zu überwindendes Konzept ablehnt, weil die für sie notwendige Einfühlung den Blick auf die änderbaren, verantwortlichen Umstände verstellt.

Aristoteles selbst benutzte den Begriff mythos für das, was in der Regel heute mit dem dramaturgischen Begriff Fabel ausgedrückt werden kann. Erst in den lateinischen und französischen Übersetzungen der Poetik von Aristoteles in der Renaissance tritt der Begriff fabula überhaupt auf.79 Dass die Narratologie den Begriff Fabel auch als Gattungsbegriff nutzt, schließt im Falle der Filmdramaturgie nicht aus, ihn wieder im dramaturgischen Sinne zu verwenden:

»Nicht also um Charaktere nachzuahmen, lässt man {die Schauspieler auf der Bühne} handeln, sondern man umfasst die Charaktere durch die Handlungen mit. Daher sind die {einzelnen} Handlungen und der Mythos {als Einheit dieser Handlungen} das Ziel der Tragödie, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Außerdem kann ohne Handlungen eine Tragödie überhaupt nicht zustande kommen, ohne Charaktere aber sehr wohl.« (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450 a20)

In der Übersetzung von Fuhrmann, der in seinen Kommentaren zur Poetik den Vorrang der Fabel auch als »Primat der Handlungsstruktur« (Fuhrmann 1982, S. 110) bezeichnet, klingt der Abschnitt so:

»Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern Handlungen […]. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie [die Dichter, R. R.] Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von allem.« (Fuhrmann 1982, S. 21)

Die Theorien zur dramaturgischen Kategorie Fabel bauen auf dem hier formulierten Vorrang der Fabel vor den Figuren auf. Dieser Sachverhalt ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Erzähltheorien in einer Relation zu Relevanz und öffentlicher Wirksamkeit stehen, die eine Kunstgattung in der Gesellschaft hat. Besonders in der Anschaulichkeit des Dramas wird der Vorrang der Fabel gegenüber den Figuren deutlich: Ein Theaterstück sollte zwar eine Wirkung haben, die entstehenden Emotionen werden aber nicht um ihrer selbst willen hervorgerufen. Vielmehr wird dem Publikum die Gelegenheit gegeben, mitzuverfolgen, wie Konflikte erwachsen, Handlungen Affekte auslösen und diese sich auflösen, weil Konflikt und Handlungen zu ihrem logischen und letzten Ende geführt werden. Dieser Vorgang wird als Katharsis bezeichnet. Da Katharsis oft mit der Reinigung oder Läuterung von den dargestellten Affekten übersetzt wird, entsteht der Eindruck, dass allein dadurch, dass der Held oder die Heldin – gleichsam wie in einem Lehrstück – für uns ersatzweise leidet, die »Reinigung« von den Affekten möglich wäre.80 Kathartische Wirkungen sind aber eine Konsequenz der Fabel – auch daher der bei Aristoteles und anderen zu findende Vorrang der Fabel vor den Figuren. Mit anderen Worten: Katharsis ist möglich, weil sich für das Publikum ein Konflikt und die an ihn gebundenen und durch die konkrete Handlung ausgelösten Affekte dramaturgisch auflösen. Dieser Vorgang kann sogar zu Erkenntnis oder zumindest moralischer Erbauung führen.

Da der umgangssprachliche, wissenschaftliche, aber auch philosophische Gebrauch der Begriffe Fabel und Mythos anders geprägt ist, sind beide Begriffsvarianten nicht unproblematisch. Daher wäre z. B. die Formulierung »Fabel als dramaturgische Kategorie« oder »Filmfabel« angebrachter. Im Englischen wird mal plot, meist story synonym für Fabel verwendet (Schmitt 2008, S. 233). Auch die aktuelle deutschsprachige Musikwissenschaft kommt zu nicht immer eindeutigen Varianten.81 Wolf Schmid hält dagegen, dass in den mehr als zweistufigen Modellen, die über die beiden Ebenen Fabel und Sujet hinausgehen, story der äquivalente Begriff für Fabel sei.82Plot wäre dann das Äquivalent zum Sujet, wie auch Bordwell (Bordwell 1985, S. 50) meint.

Die Regeln für ein Drama (als »ernste« Gattung) verfestigten sich seit der Renaissance.83 Zur Zeit der großen Zentralmonarchien führte dies aus ideologischen Gründen auch zum Paradigma der drei Einheiten Handlung, Zeit und Ort. Im Falle von Fabelkonstruktionen, die komplexer und weniger geradlinig oder kausal funktionieren, wenn Fabeln z. B. ein »eher rhizomatisches Diagramm« der Geschichten repräsentieren, wie Eco den Fabelbegriff erweitert (Eco 1979/dt. 1987, S. 153), wäre der Fabelauszug sehr schwierig zu bewerkstelligen und stellt dann eher eine Form der »kognitiven Annäherung« an die Narration dar (Wuss 1993/1999, S. 94). Anstatt die Architektur zur Dramatisierung (Chronologie oder Logik der Handlung) vorzugeben, kann bei solchen (Film-)Fabeln die Handlung assoziativ oder thematisch bzw. über variierte Motive zusammengehalten werden. Auch die Rolle der Filmmusik ist dramaturgisch schwerer zu bestimmen, wenn die Fabel eher ein abstrahierendes Organisationsschema bleibt und noch weniger Niederschlag in der konkret präsentierten Handlung findet als bei klassischen bzw. geschlossenen Fabelkonzepten.

Um das Generelle einer Fabel und das Konkrete des Sujets zu veranschaulichen, kann der Vergleich von Original und Remake dienen sowie umgekehrt ein Vergleich von Filmen herangezogen werden, die zwar unterschiedliche Geschichten erzählen, aber auf der gleichen Anlage bzw. Fabelidee beruhen. Das jeweilige Sujet, das die Details der erzählten Welt und ihre Spielregeln bestimmt, kann trotz gleicher Fabelidee sehr verschieden sein. Historisch rückwärts lässt sich z. B. folgende Reihe bilden: IL MERCENARIO (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci) ist eine auch im Sujet sehr ähnliche Variante des viel bekannteren Films PER UN PUGNO DI DOLLARI (D/SP/I 1964, R. Sergio Leone). Leone aber hat die Fabel seines Films von Kurosawa und dessen Film YÔJINBÔ (J 1961) übernommen und zudem fast alle Szenen kopiert, sodass von einem Remake gesprochen werden kann. Der daraus resultierende Rechtsstreit konnte allerdings nicht gelöst werden, weil Kurosawa nicht nachweisen konnte, nicht selbst die Fabel-Idee aus Goldonis Stück Arlecchino servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) kopiert zu haben.84 So unterschiedlich die drei Milieus sind und die präsentierten Handlungen (Sujet) mal ganz unterschiedlich, mal fast identisch sind, erwächst der bestimmende Ansatz dafür, wie die Geschichten erzählt werden, jeweils aus der gleichen Fabelidee und dem daraus resultierenden dramaturgischen Potenzial.

Ein weiteres Beispiel: Die frappierende Fabel-Idee einer Kurzgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, An Occurrence at Owl Creek Bridge (Der Zwischenfall auf der Eulenflussbrücke) von Ambroce Bierce, wurde ebenfalls mehrfach in Filmfabeln überführt, so für CARNIVAL OF SOULS (USA 1962, R. Herk Harvey, M. Gene Moore). Diesen Film hat Christian Petzold für seinen Film YELLA (D 2007, R. Christian Petzold, M. Stefan Will) als Inspiration gesehen.85 In YELLA sind fast alle zentralen Handlungselemente aufgegriffen worden. Ähnliche Fabelkonstruktionen und Motivkomplexe wie in An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce liegen auch den Filmen STAY (USA 2005, R. Marc Forster), MULHOLLAND DRIVE (F/USA 2001, R. David Lynch, M. Angelo Badalamenti) und A BEAUTIFUL MIND (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) – in dessen erster Hälfte – zugrunde. Die Filme beziehen einen Großteil ihrer Spannung bereits aus der Anlage, mit anderen Worten: aus der Fabelidee. Sie beruht darauf, dass ein Großteil der Vorgänge sich als im Kopf der Figur abspielende Handlung erweist. Diese Fantasiewelt bzw. subjektive Perspektive kollidiert plötzlich (An Occurrence at Owl Creek Bridge) oder nach und nach (YELLA, STAY, MULLHOLLAND DRIVE) mit der als objektiv geltenden Perspektive und erzeugt Spannung sowie Überraschung beim Umschwung.

Der Filmwissenschaftler Peter Wuss entwickelte ein Modell der filmischen Narration, welches das Konzept Fabel in den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur aufgenommen, sondern filmisch geprägt und für neuere Erzählformen geöffnet hat. Er verbindet Narratologie und klassische Dramaturgie und erweitert den aristotelischen Fabelbegriff, um ihn für den Film anwenden zu können (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2005, Wuss 2009). Das Verständnis des Begriffspaares Fabel und Sujet von Wuss sieht im Detail anders aus als Thompsons und Bordwells Adaption der russischen formalistischen Terminologie. Dramaturgie, Narratologie und Filmästhetik fließen in sein Modell der Strukturbildung und der Wirkungsmechanismen filmischer Narration ein. Seine Untersuchungen sind außerdem durch Ansätze und Kategorien aus Psychologie und Emotionsforschung geprägt. Mit all diesen Disziplinen sind im Kontext der Filmdramaturgie antike, klassische und moderne Terminologie vereint und beeinflussen damit seinen Fabelbegriff:

»Die Fabel orientiert sich, wie Lessing es in seiner Interpretation des Aristoteles nannte, an ›Ketten von Ursachen und Wirkungen‹. […] Im Rahmen meines Modells handelt es sich hier eindeutig um konzeptuell geleitete Strukturen, die sich beim Erzählvorgang auf die Kausal-Ketten zwischen den dargestellten Ergebnissen stützen. Damit wird auch erkennbar, dass die traditionelle Dramaturgie im Grunde generell auf Überlegungen beruht, die sich an diesen Strukturtyp heften. Ihre hermeneutische Verfahrensweise legt nahe, den roten Faden des Films als eine homogene Erscheinung aufzufassen, als einen bewusst erlebten Sinnzusammenhang, der sich mit der Kausalkette der Geschehnisse zu entrollen scheint. Das vorgeschlagene Modell hingegen rechnet damit, dass der rote Faden der Filmgeschichten inhomogen und in sich differenziert ist, also potentiell auch unbewusste Komponenten enthalten kann, ja gelegentlich sogar auf solchen beruht. Eine umfassende Narrativik des Films hätte jedenfalls auch andere Verknüpfungsprinzipien als die Ketten von Ursachen und Wirkung in Erwägung zu ziehen und sie auf ihre Fähigkeit zur Kohärenzbildung zu überprüfen, etwa solche, die auf Strukturangebote im Perzeptions- und Stereotypenbereich beruhen.« (Wuss 1993/1999, S. 91)

Fabeln mit Kausalketten gehören im Modell von Peter Wuss zu den »konzeptgeleiteten« Strukturen mit maximaler Auffälligkeit. Die »perzeptionsgeleiteten« Strukturen beruhen auf unbewusst hergestellten Zusammenhängen mit zunehmender Auffälligkeit. Nach Wuss haftet diesem Strukturtypus eine »bemerkenswerte sinnliche Kraft« (Wuss 1993/1999, S. 58) an. Filmfabeln, die mehr auf perzeptionsgeleiteten Strukturen basieren, reihen z. B. Motive eines gemeinsamen Themas aneinander. Wuss führt dafür den Begriff der »Topik-Reihe« bzw. »topikalen« Reihe ein.86 In einer offenen Handlungskomposition werden Ereignisse durch mehrfache Wiederholungen und dabei unbewusst ablaufende Vergleiche und Invariantenbildung semantisch stabilisiert, von ihrer Vordergründigkeit abgelöst und im Sinne des Themas der Geschichte verallgemeinert. Bei Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009) findet sich ein weiteres offenes Konzept der Fabel, in welchem die »Logik des Poetischen«87 den Zusammenhalt herstellt und bei welchem über Assoziationen die Beziehung zwischen den Handlungselementen und zu einem generellen Thema entsteht. Eine Filmfabel nutzt laut dem Modell von Wuss für die Strukturbildung insgesamt drei Basisformen der Narration und Arten der Verknüpfung und Kohärenz, die je nach Geschichte oder Stil unterschiedlich stark gewichtet auftreten können:

 1. Stereotypengeleitete Strukturen beruhen auf permanenten kulturellen Lernprozessen. So können mit wenigen Mitteln, die mitunter auf Klischees reduziert werden, inhaltliche Komplexe abgerufen werden, die eine variable Stabilität aufweisen. So entstehen Stile und Gattungen, die durch Wiederholungen im kulturellen Repertoire verankert sind.

 2. Konzeptgeleitete Strukturen sind narrativ wirksame Ereignisse, die singulär in einem Film und dessen Handlungslogik funktionieren. Mit ihnen lassen sich Kausalketten bilden, ohne die eine traditionelle Erzählung kaum auskommt. Bei Wiederholungen von konzeptgeleiteten Strukturmomenten entstehen allerdings Redundanzen, die mitunter als Spannungsabfall empfunden werden. Daher bleiben Kausalketten nur dann interessant, wenn in einen solchen Handlungsablauf weitere, meist konventionelle Strukturelemente wie Intrige und Gegenintrige, Handlungsumschwünge (plot points) und retardierende Momente zu einer auf das Ende hin orientierten Spannungskurve integriert sind.

 3. Perzeptionsgeleitete Strukturen sind im Gegensatz zu den beiden anderen Typen wenig evident und bedürfen sogar der Wiederholung, um zunächst unbewusste Prozesse zur Aufschlüsselung der Vorgänge in Gang zu setzen, die nach und nach ins Bewusstsein treten. So entstehen Topik-Reihen, die in offenen Erzählformen Strukturen herausbilden, die als Ersatz für eine meist fehlende offensichtliche Handlung bzw. Handlungslogik dienen.88

Auch für neuere Dramaturgien und Filmdramaturgie ist der Fabelbegriff anwendbar, wenn er nicht nur auf die Kausalkette und ihre raumzeitliche Organisation begrenzt bleibt, was Wuss (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987) belegen. Das Universelle des Fabelbegriffs, das ihn für Filmfabeln geeignet werden lässt, liegt in der Möglichkeit, darunter ganz unterschiedliche Bindungsgesetze, Strukturtypen und Wechselbeziehungen zwischen Figur, Konflikt und Handlung zu verstehen. So ergibt sich die Fabel als ein Prinzip, bei dem sich verschiedene grundlegende Fabeltypen unterscheiden lassen. Die Eigenart und Entfaltungsformen einer Filmfabel sind insofern mediumspezifisch, weil sie durch Zusammenwirken visueller und auditiver Mittel mitbestimmt werden und inhomogene, in sich differenzierte Anteile einschließen. Das Konzept der Fabel eignet sich für die Filmanalyse und Filmmusiktheorie insbesondere deswegen, weil der »ganzheitliche Zusammenhang des Kunsterlebens im Auge […] behalten« werden kann,

»während man Teilmomente der Komposition betrachtet […]. Die Einsicht in die Dialektik von Teil und Ganzem wurde erleichtert durch das Zustandekommen von Sinnbezügen, die zur Kohärenz des Werkes führten, zugleich nachvollzogen, vergegenwärtigt und erklärbar gemacht.« (Wuss 1990, S. 91)

Dass für all die genannten Komponenten ein alternativer Begriff zu Fabel zur Verfügung stünde, ist mir bisher nicht bekannt. Trotz des historischen Ballasts soll der Begriff Fabel daher für die Musikdramaturgie im Film Verwendung finden.

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