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1.2.3 Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik

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In der angloamerikanischen Musikwissenschaft wird seit ca. 1990 über Analogien zwischen musikalischen und narrativen Prinzipien nachgedacht. In dazu gehörenden und anderen Untersuchungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, die von allgemeinen Vergleichen zwischen Handlung, Charakteren usw. und musikalischen Gestalten, Prozessen usw. bis hin zu sehr direkten Vergleichen reichen, die selbst Zeitformen und die Unterscheidung von erster oder dritter Person suchen.114

Fred Maus beruft sich auf Heinrich Schenker (Schenker 1935/1956), dessen Vergleiche zwischen alltäglichen Erfahrungen und deren künstlerischen Übersetzungen die Möglichkeit zulassen, musikalische Ereignisse als Teil einer »musikalischen Handlung« zu verstehen:

»Schenker’s remarks suggest the possibility of a generalized plot structure for tonal music; his list of ›obstacles, reverses, disappointments‹, and so on enumerates, informally, kinds of event in musical plots […].« (Maus 1991, S. 4).

Doch auch schon in seiner Harmonielehre (Schenker 1906) zeigt sich eine narrative Implikation: Die in einem Ton enthaltene Tendenz zur Hinzufügung der Quinte (gefolgt von der Terz als Ergänzung zum Dreiklang) kann als prozessuale, in die Zukunft gerichtete Analogie gelesen werden. Dagegen wäre die »Inversion« (Schenker 1906, S. 44 ff.) zur Unterquinte bzw. zum Quintfall als »Vergangenheit« des Tons zu verstehen. Damit steht Schenker allerdings einer anderen Tradition entgegen: der Rameau’schen Fundamenttheorie, die sich seine Zeitgenossen Simon Sechter, Anton Bruckner und Arnold Schönberg zu eigen machten, welche genau umgekehrt die Tendenz zum bzw. Auflösung mit einem Quintfall als in die Zukunft gerichtete Erwartung auffasst.

Einige neuere Arbeiten zeigen Versuche, narrative Kategorien möglichst direkt zu übertragen, z. B. die grammatikalischen Fragen nach der ersten oder dritten Person oder dem Vorhandensein verschiedener Zeitformen, insbesondere einer Vergangenheitsform in musikalischen Strukturen.115 Raymond Monelle behauptet, dass harmonisch oder thematisch fest gefügte Abschnitte (insbesondere Themen und Themenblöcke) der Schilderung von Vergangenheit entsprächen, Entwicklungsteile (Überleitung, Modulation, Durchführung, rhythmische oder harmonische Verdichtung) dagegen mit der Schilderung von gegenwärtiger Handlung vergleichbar wären (Monelle 2000, S. 102).

Schon Heinrich Christoph Koch hatte in seinem 1802 veröffentlichten Musikalischen Lexikon den Versuch unternommen, musikalische Logik anhand der Zuweisung von Subjekt und Prädikat fassbar zu machen, nahm davon aber aufgrund der nicht zu leugnenden Beliebigkeit bei der Zuordnung wieder Abstand.116

Musikalische Prozesse könnten zwar nach Auffassung von Nattiez, der immer wieder im Zusammenhang von Narrativität und Musik zitiert wird, die prozessuale Gestalt einer Handlung annehmen, aber nicht mit Bedeutung gefüllt werden:

»If, in listening to music, I am tempted by the ›narrative impulse‹, it is indeed because, on the level of the strictly musical discourse, I recognize returns, expectations and resolutions, but of what, I do not know.« (Nattiez 1990, S. 245)

So blieben nur Metaphern, schlussfolgert Nattiez weiter (Nattiez 1990, S. 257).

Musikalische Narrativität ist in der angloamerikanischen Forschungslinie, die auch von Kanada ausgeht und in Frankreich rezipiert wird und teils das Vokabular der russischen Formalisten aufgreift, durch entweder sehr direkte Analogien zu literarischen Kategorien geprägt oder wird wegen der Begrenztheit dieser Versuche kritisch hinterfragt, besonders wegen der schwer zu klärenden Frage nach Inhalt, Bedeutung oder der Botschaft von Musik und worin musikalische Logik außerhalb der motivisch-thematischen Arbeit begründet sei.

Im deutschsprachigen Raum greifen Markus Bandur117 und Hartmut Fladt118 die Idee auf, Begriffe der Filmtheorie musikwissenschaftlich zu beleuchten. Plot – das englischsprachige Wort für Handlung bzw. Sujet119 – steht bei Bandur allerdings für das, was ich als Fabel bezeichnen würde:

»Der Ausdruck Plot, der in der Literaturwissenschaft und davon ausgehend in der Filmtheorie zur Bezeichnung einer Handlung beziehungsweise ihres Kerns, ihrer kausalen Stimmigkeit und ihrer strukturellen Logik dient, kann dementsprechend in der Musik den in Sprache übersetzbaren ›Angelpunkt‹ oder die umfassende Grundidee eines musikalischen Gebildes bezeichnen, aus dem beziehungsweise der heraus sich seine individuelle Formung verstehen und erklären läßt. […] Wie jeder Beschreibung musikalischer Sachverhalte durch Wortsprache haftet der Herausarbeitung eines Plots in der [musikalischen – R. R.] Analyse dabei der Charakter des Metaphorischen und Analogischen an.« (Bandur 2002, S. 69)

Mit »Angelpunkt« und »umfassende Grundidee« beschreibt Bandur eigentlich den für die Fabel charakteristischen inneren Zusammenhang, den geeigneten Ausgangspunkt, aber auch das Entwicklungspotenzial des Materials und sich daraus ergebende Beziehungen der Teilelemente untereinander. Der erste zitierte Satz von Bandur ist allerdings ungenau: Plot heißt Handlung, der sogenannte Kern der Handlung wäre die Fabel bzw. story.120 Der frühere musiktheoretische Begriff dafür ist »Anlage« von Heinrich Christoph Koch (Koch 1782/1787/1793), der – wie Hartmut Fladt bemerkt (Fladt 2009, S. 13) – seit Ende des 18. Jahrhundert in Philosophie und Musiktheorie geläufig ist.121

Das Konzept vom »ästhetischen Subjekt« (Danuser 1975, S. 15) überbrückt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Analogiebildung zwischen literarischer und musikalischer »Narrativität«. Es tritt nicht nur als moralische Instanz auf, sondern kann auch ähnlich einer narrativen Instanz musikalische Vorgänge strukturieren und sogar kommentieren.

Beispiel: L. v. Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, 2)

Ludwig van Beethovens Musik »kommentiert« die von ihm provozierten Umbrüche – seinen vielzitierten »neuen Weg«122 – zuerst in den Klaviersonaten, dann auch in den Sinfonien. So beginnt z. B. der erste Satz Largo – Allegro in Beethovens Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, Nr. 2) mit einem arpeggierten A-Dur-Sextakkord, der die Assoziation an ein Rezitativ weckt. Es ist eine Form innerhalb von Vokalwerken, in der die Figurenrede oder aber der Bericht oder Kommentar eines Erzählers vorgetragen wird. Innerhalb der einleitenden 20 Largo-Takte erklingt die Gestalt des Sextakkordes ein weiteres Mal. Im Übergang zur Durchführung erscheinen in T. 93–98 drei weitere solcher Sextakkorde mit der Rezitativ-Assoziation. In der Reprise kehren die ersten beiden Sextakkorde wieder, nun erweitert durch etwas, das als wortloses, mit dem Klavier »gesungenes« Rezitativ bezeichnet werden kann. Es setzt sich deutlich von der Umgebung ab (T. 143–158) und ist mit con espressione e semplice überschrieben. Spätestens an dieser Stelle ist Raum für die Assoziation zu jenem Gestus, der für die Eröffnung von Rezitativen typisch wäre. Durch das eingefügte Klavier-Rezitativ und die rezitativisch anmutenden Sextakkorde als versetzt eingestreute Begleitakkorde verschafft sich inmitten des musikalischen Prozesses gleichsam ein »Erzähler« Raum und Gelegenheit zum Kommentar. Das scheint auch insofern in diesem Fall notwendig zu sein, da der erste Satz der Sonate die tradierten Auffassungen zur musikalischen Form ignoriert: Die barocke und klassische Idee der Affekteinheit innerhalb eines Satzes, die z. B. noch bei Haydn obligatorisch war, wird negiert, und die Ergänzung musikalischer Teile mit Taktgruppen, die einen Ausgleich von harmonischer und motivisch-thematischer Spannung bewirken, bleibt unvollkommen. In seinem persönlichen Experimentierfeld der Klaviersonate markiert Beethoven somit einen kompositorischen Neuanfang,123 der Außergewöhnliches in seiner musikalischen Dramaturgie offenbart. Im erwähnten Beispiel steht noch relativ deutlich und mit den genannten musikalischen Mitteln markiert das »ästhetische Subjekt« als imaginärer »Erzähler« oder »Moderator« vermittelnd zwischen Publikum und Werk.

Für musikalische Formen wurden vonseiten der Musiktheorie und Musikwissenschaft immer wieder Analogien zu den narrativen Künsten hergestellt. Ein durch narrative Metaphern124 gestütztes Formdenken wirkte wiederum auf den musikalischen »Inhalt« und seinen »Sinn« zurück. Um die Funktions- und Konstruktionsprinzipien musikalischer Teilmomente sowie den Zusammenhalt von Musik zu beschreiben oder – wie Dahlhaus formulierte – um »das Bleibende im Transistorischen der Musik« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 609) zu fassen, entlehnte man als Metaphern immer wieder Begriffe aus Rhetorik und Poetik. Analogien zur sprachlichen Syntax, Figurenlehre bzw. Rhetorik und zur Dramentheorie waren am nachhaltigsten.

Die Analogiebildungen zwischen sprachlicher und musikalischer Syntax dienten vor allem der Differenzierung der gliedernden musikalischen Mittel und führten 1787 bei Heinrich Christoph Koch zum Begriff der »interpunctischen Form«.125 Zur Abstufung unterschiedlich stark gliedernder Kadenzen oder melodischer Formeln wurde der Vergleich mit den Satzzeichen und Sinneinheiten der geschriebenen Sprache bzw. dem Sprechen gezogen (so auch mit dem Heben oder Senken der Stimme bei Fragen oder Aussagen). Auch verglich schon 1739 Johann Mattheson (und in der Folge einige andere Musiktheoretiker) die Gesamtstruktur eines Musikstückes mit Strukturen und Wirkungsmechanismen der allseits geläufigen Rhetorik.126 Dies führte speziell zum Vergleich musikalischer Abschnitte und Mittel mit dem Aufbau und den Mitteln der antiken Gerichtsrede (Mattheson 1739/1999, S. 349f.). Der seit Nikolaus Harnoncourt wieder genutzte Begriff der »Klang-Rede« (Harnoncourt 1982) versucht dies zu erfassen und steht seit den 1980er Jahren für ein Musikverständnis, das sich einer historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet.127

Um zu belegen, dass Komponisten und Theoretiker im 18. Jahrhundert »rhetorisch dachten und fühlten (sie hatten in der Regel das Fach ›Rhetorik‹ im Rahmen ihres Latein-Unterrichts)« (Fladt 1998/2000, S. 458), soll ein Zitat aus Matthesons Abhandlung Der Vollkommene Capellmeister von 1739 deutlich machen, wie grundlegend Rhetorik und Dichtkunst bei der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Musik war: Um »bis auf den Mittelpunct« der Musik durchzudringen,

»müssen wir uns die Mühe geben, die liebe Grammatic sowol, als die schätzbare Rhetoric und werthe Poesie auf gewisse Weise zur Hand zu nehmen: denn ohne von diesen schönen Wissenschafften vor allen die gehörige Kundschaft zu haben, greifft man das Werck, ungeachtet des übrigen Bestrebens, doch nur mit ungewaschenen Händen und fast vergeblich an.« (Mattheson 1739/1999, S. 279)

Noch deutlicher – wie Dahlhaus bemerkt – zeichnet sich der Zusammenhang von musikalischem Formendenken und rhetorischer Konzeption eines Vortrages oder einer Rede bei Johann Nikolaus Forkel ab, der 1788 in der Einleitung seiner Allgemeinen Geschichte der Musik schreibt:

»Die Hauptempfindung, der Hauptsatz, das Thema … muss vorzüglich genau bestimmt werden; daher bedient man sich 1) der Zergliederung, um sie auf allen möglichen Seiten zu zeigen; 2) passender Nebensätze, um sie damit zu unterstützen; 3) möglicher Zweifel, das heißt im musikalischen Sinn, solcher Sätze, die der Hauptempfindung zu widersprechen scheinen, um durch die darauf folgende Widerlegung derselben den Hauptsatz desto mehr zu bestimmen; und endlich 4) der Bekräftigung durch Vereinigung, oder nähere Zusammenstellung aller Sätze, die vereint dem Hauptsatze die stärkste Wirkung verschaffen können.« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 612)

Obwohl die Rhetorik zu einem Großteil als Rechtfertigung für die nicht von einem Text bestimmte Formbildung in der Instrumentalmusik herangezogen wurde und damit ihrer Emanzipation von der Vokalmusik diente, wird doch deutlich, wie gemeinsame Wesensmerkmale von sprachlichem Vortrag und musikalischer Gliederung bzw. Verlauf benannt werden können. Die Anordnung und Unverrückbarkeit der Teile, ihre Funktion mit Hinblick auf eine zu erzielende Wirkung zeigen dabei in der Musik eine abstrakte Form von Narrativität und eigene Art der musikalischen Dramaturgie in »autonomer« Musik.

An ausgewählten Metaphern, die für die Theorie der Sonatenform verwendet wurden, kann exemplarisch gezeigt werden, welche Akzente für Pragmatik und Ästhetik der Musik gesetzt und welche narrativen Implikationen in »autonomer« Musik musiktheoretisch schon erörtert wurden. Interessant an diesen Deutungs- und Erklärungsansätzen für musikalische Form ist insbesondere, dass sie unterschiedlich mit dem Phänomen der Wiederholung umgehen.

Wiederholungsstrukturen besitzen zweifellos dramaturgische Relevanz. Dieser Sachverhalt ist auch für die Musikdramaturgie im Film bedeutsam. Musikwissenschaftlich sind Fragen nach der Funktion und Wirkung von Wiederholungen als Teil der Formenlehre thematisiert worden. Wiederholungen aber auch andere in der Zeit sich entfaltende Phänomene wie Rhythmisierung des Ablaufs, Tempoempfinden, Verdichtungsprozesse u. Ä. sind in ihrer Wirkung im Kino durch das Aufeinandertreffen der beiden ästhetischen Systeme Musik und Film geprägt und durch die Kontinuität der Zeitachse als Schnittstelle aufeinander bezogen.

Antonín Reicha hat 1826 den Sonatenhauptsatz mit dem Aufbau eines Dramas verglichen. Reichas Auffassung geht von dem in der Mitte liegenden Teil des Sonatenhauptsatzes, der Durchführung, aus. Er trennt mit einem Schnitt (coupe) am Ende der Exposition den Sonatenhauptsatz in zwei große Teile und spricht vom »zweiteiligen Drama«.128 Diese Mitte markiert das Ende der »Exposition«, welche die zwei »Mutterideen« (idée mère) enthält, und ist zugleich der Beginn der Durchführung. Der Schnitt kündigt den dramaturgischen Kulminationspunkt an, vergleichbar mit dem im Drama ebenfalls ungefähr in der Mitte oder spätestens am Ende des zweiten Drittels liegenden Handlungsumschlag (Peripetie). Die Durchführung wäre demnach beim Vergleich mit der aristotelischen Dramaturgie die Stelle der »äußersten Steigerung« (Aristoteles 2008, S. 25; Kap. 18,1455b25). Eindeutig auf die Terminologie von Lessing und Aristoteles zurückgreifend verwendet Reicha die Begriffe »Intrige« (intrigue, nach Lessing) bzw. »Knoten« (nœud bzw. Verwicklung, nach Aristoteles).129 Die heute als Durchführung (französisch: développement, englisch: development) bezeichnete erste Passage des zweiten Teils enthält demnach die Intrige oder die Schürzung des Knotens. Die heute im Deutschen Reprise, im Englischen recapitulation bezeichnete zweite Passage des zweiten Teils »entknotet« demnach die in der Durchführung aufgebaute Spannung:

»La première partie de cette coupe est l’exposition du morceau; la première section [de la deuxième partie] en est l’intrigue, ou le nœud; la seconde section en est le dénoûement« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Eine aus dramaturgischer Sicht notwendige Kritik dieser Dramen-Analogie Reichas setzt an der Übersetzung des aristotelischen Begriffs an: In der neuen Übersetzung der Poetik von Arbogast Schmitt (Schmitt 2008) heißt es »Verwicklung« anstelle von »Knoten«, wie auch schon Carl Czerny in seiner Übersetzung von Antonín Reichas Kompositionslehre schreibt:

»Der erste Theil dieses Rahmens [des Formmodells der großen zweiteiligen Form, R. R.] ist die Exposition des Stückes; Die erste Unterabtheilung des zweiten Theils desselben [mit heutiger Terminologie: Durchführung, R. R.] ist die Verwicklung (die Intrigue) oder der Knoten; Die zweite Unterabtheilung desselben [mit heutiger Terminologie: Reprise, R. R.] ist die Entwicklung oder Entschürzung.«; siehe: (Reicha 1824–26, S. 1162 – 10ter Theil).

Während »Knoten« sehr punktuell wirkt, zeigt das Wort Verwicklung die langwierige, vorbereitende Arbeit. Die »Entknotung« ist die Phase der »fallenden Handlung« (Freytag 1863) und erzeugt Spannung, weil in der Auflösung der Verwicklung die weit reichende bzw. psychologisch tief liegende Begründung der Verwicklung deutlich wird und die Lösung umso befriedigender erscheinen lässt. So entsteht ein Widerspruch innerhalb der Analogie, da im dramaturgischen Sinne die »Entknotung« spannungssteigernd funktioniert. Die Reprise als harmonisch ausgeglichene Wiederkehr der Exposition, in der auch widersprüchliche Identitäten durch die gemeinsame Tonart versöhnt erklingen, widerspricht dem. In der musikalischen Realität wird in der Reprise die durch thematische Verwicklung und harmonische Prozesse aufgebaute Spannung ausgeglichen und durch meist überschaubare Interventionen, die Redundanzen verhindern sollen, auf einem notwendigen Level gehalten. Sie als dénoûement zu bezeichnen, ist im engeren Sinne dramaturgisch gesehen falsch, weil im Drama die Spannung während der »fallenden Handlung« durch »Entknotung« erheblich steigt, dagegen im konventionellen Sonatensatz die Wiederkehr von »eingerichteten« musikalischen Strukturen in der Reprise das Moment des Wiedererkennens darstellt und ein Signal für den Abschluss des Satzes nach dessen Entwicklungsteil (der Durchführung) gibt.

Wie Dahlhaus erläutert, hat sich Carl Czerny der Sicht seines Lehrers Reicha wenig später angeschlossen und interpretierte aus scheinbar gesteigertem Interesse an dessen Theorie die Sonatenform in einem nunmehr offensichtlichen Widerspruch zum musikalischen Sachverhalt der meisten Beispiele, wie Dahlhaus ausführt:

»Die Metapher ›dénoûement‹, die für die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklungen in der Durchführung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erinnerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama presst und vom Anfang der Reprise als einer ›überraschenden Katastrophe‹ spricht.« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Das Ereignis »Reprise«, die Wiederkehr von Bekanntem als fundamentales musikalisches Gestaltungsprinzip, wird in der zugespitzten Interpretation Czernys kaum gewürdigt. Dennoch kann die Metapher der Sonatenhauptsatzform als Drama nachvollziehbare Analogien zwischen den musikalischen und den dramatischen Identitäten sowie den Prozessen der Verarbeitung von Material und Konflikten herstellen. Insbesondere die Akzentuierung des Widersprüchlichen, Dynamischen und Prozessualen wäre ein wichtiges Merkmal der Dramen-Analogie für den Sonatenhauptsatz.130 Mit Hinblick auf die Finalkonzeptionen vieler Sinfonien des (späteren) 19. Jahrhunderts ließe sich die Dramentheorie eventuell doch wieder als Analogie aufgreifen. Sie müsste dann aber auf Abfolge und Konzeption aller Sätze und nicht auf den Haupt- oder Kopfsatz bezogen werden. Die in romantischen Sinfonien über die Teilsätze hinweg ausgelegten musikalischen Gedanken, deren Verarbeitung und Aufgehen in einer Schlusswirkung bei gleichzeitiger Spannungssteigerung zum Ende hin passen nicht selten zu den erläuterten Konzepten der Dramentheorie.

Eine andere, bisher noch nicht musikwissenschaftlich untersuchte Analogie aus der Dramentheorie, die produktiv auf die musikalische Komposition angewendet werden kann, ist das »retardierende Moment«.131 Es ist ein musikalischer Abschnitt, der vom Innehalten, vom Anhalten der zuvor in Gang gesetzten Prozesse vor dem letzten, auf Schlusswirkung abzielenden Abschnitt eines Werkes geprägt ist. Das retardierende Moment liefert eine bisher unberücksichtigte Sicht auf Geschehen und Konflikte.

Das retardierende Moment hat die Aufgabe, die Spannung durch eine der Hauptrichtung entgegenwirkende Tendenz zu steigern. Bei einem tragischen Ausgang entsteht überraschend der Eindruck, dass plötzlich doch noch das Unglück verhindert werden könnte. Bei einem angestrebten glücklichen Ende erzeugt das retardierende Moment die Spannung durch Behinderungen der Lösung. Die so entstehende »Fallhöhe« lässt sich auf Musikstücke und deren angestrebte Finalwirkung übertragen. Der Erwartbarkeit thematischer, kadenzieller oder die Proportionen betreffender Redundanz in der Reprise einer Sonate oder den vergleichbaren Vorgängen bei der Abfolge von Variationen und einigen anderen musikalischen Gattungen wird etwas entgegengestellt. Daher kann ein retardierendes Moment auch außerhalb des Musiktheaters als musikdramaturgisches Mittel verstanden werden.

Ein weites Feld für Analogien öffnet sich bei Analysen der motivisch-thematischen Verarbeitung von musikalischem Material. Nicht selten zeigt sich hierbei ein scheinbar logischer Anteil, ähnlich der Kausalität einer sich aus inneren Notwendigkeiten und äußeren Wahrscheinlichkeiten heraus entfaltenden »Handlung«. Adorno bezeichnet solche Beobachtungen in den ersten Sätzen der 3., 5. und 7. Sinfonie von Beethoven als »Pathos des klassizistischen Symphonietypus«, den er von Mahlers romanhaftem »epischen Kompositionsideal« abgrenzt (Adorno 1960/1969, S. 88). Adornos Ausführungen zeigen, dass die Anlehnung an narrative Kategorien dann sinnvoll sein kann, wenn sich autonome Musik – wie im Falle von Beethovens und Mahlers Sinfonien – den tradierten Formkonzepten und damit auch den Rezeptionsgewohnheiten entzieht. Dies scheint produktiver als ein Hineinpressen von Musik entweder in eine zu begrenzte Sonatentheorie oder in Modelle der Dramentheorie. Wie Sponheuer am Beispiel des Terminus »Peripetie« zeigt, steht Adorno damit in einer – wenn auch noch relativ kurzen – Forschungstradition:

»Der Begriff ›Peripetie‹ als musikalische Kategorie ist wohl zum ersten Male in der Wiener Dissertation Heinrich Schmidts ›Formprobleme und Entwicklungslinien in Gustav Mahlers Symphonien. Ein Beitrag zur Formenlehre der musikalischen Romantik‹, Wien 1929, auf Mahlers Symphonien angewandt worden: Schmidt 81 ff. Er wird dort allerdings mehr psychologisch (›Betrachtung der psychologischen Steigerungen und Entwicklungen, die wie in jedem romantischen Werk auch in Mahlers Symphonien den Kern der Anlage bilden‹ Schmidt, 81) als strukturell akzentuiert. Der Adorno’sche Begriff des ›Durchbruchs‹ (vgl. Adorno, Mahler, 10–24, 60 ff.) entspricht weitgehend dem der Peripetie, allerdings ohne im geringsten dessen psychologische Motivation zu teilen.« (Sponheuer 1978, S. 52, Anm. 5)

Als ein interessanter neuerer Versuch, literarische Kategorien auf Musik zu übertragen, ist ein Kongress-Beitrag von Jens Marggraf zu nennen, der bereits folgendermaßen kommentiert wurde:

»Die Überführung von Analyse in Musikästhetik realisierte mustergültig Jens Marggraf (Halle), der eine Annäherung an den Kompositionsstil C. Ph. E. Bachs ausgehend von analogen Strukturprinzipien in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy suchte. Dabei gelang ihm eine verblüffende Parallelisierung von literarischen Techniken der englischen Empfindsamkeit mit kompositorischen Strategien in Bachs Rondos und Fantasien.« (Froebe 2006, S. 368)

Der von Marggraf angestellte Vergleich mit Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman132 ist auch insofern interessant, als dass Sterne ein Vorbild für Jean Paul war, der (wie im vorigen Kapitel ausgeführt) bedeutsam für die musikalischen Romantiker (allen voran E. T. A. Hoffmann, R. Schumann und H. Berlioz) war.

Bei allen bemerkenswerten Analogien in der Geschichte der Musiktheorie, die zum Drama, Roman oder aber zu Modellen der Rhetorik hergestellt werden können, geht jedoch keines der Analogiekonzepte vollständig auf. Die narrativen und dramaturgischen Implikationen, die von diesen Analogien angesprochen werden, sind aber von großem Interesse für die musikalische Analyse und für die von Dramaturgie thematisierten Fragen zum Zusammenhang von Struktur und Wirkung prozessualer Künste. Greifbar werden sie durch miteinander in Beziehung tretende und aus anderen Kunstgattungen vertraute Wirkungsmechanismen und Strukturähnlichkeiten. Durch Analogien verbalisierbare Ideen verbinden sich so mit einer abstrakt bleibenden musikalischen Welt, die viele individuelle Reflexionen und Resonanzen zulässt.

Musikdramaturgie im Film

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