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1.2.2 Programmmusik oder Ideenkunstwerk?
ОглавлениеAuffassungen und Begriffe zur Musikdramaturgie im Film scheinen erheblich von musikästhetischen Auffassungen zur Programmmusik beeinflusst worden zu sein. So haben – wohl in der geschichtlichen Entwicklung der Filmmusik begründet – Ansichten aus dem 19. Jahrhundert offenkundig auf die Filmmusik und Musikdramaturgie im Film eingewirkt.105 Die Ablehnung oder Umdeutung dieser musikästhetischen Positionen zeigte sich dann in neuen Kompositionstechniken (modulare Patterns, Techniken der sogenannten Neuen Musik, Verfremdungstechniken), in der Verwendung kammermusikalischer Besetzungen, verfremdender elektronischer Musikanteile, im Fehlen von Musik an erwartbaren Stellen oder durch das ausgefeilte Unterlegen von Filmen mit existierenden Popsongs (song scoring) anstelle von komponierter Filmmusik. Die Geschichte der Filmmusik geht dabei untrennbar einher mit der Filmgeschichte, d. h. mit Filmen, die andere Themen wählten oder andere Formen für ihre Geschichte gefunden haben. Doch auch hier gilt es, die Koexistenz unterschiedlicher Tendenzen im Auge zu behalten, um Musikgeschichte und Musikästhetik für die Theoriebildung berücksichtigen zu können.106
Die Untersuchung der Ursprünge und Fragen nach einer möglichen Narrativität von Musik ergibt folgendes Bild: Programmmusik ist das Verständnis von Musik in der Zeit des späten 18. und im 19. Jahrhundert, in der den Menschen Erfahrungen über die Welt hauptsächlich über die Literatur zukommen »und die Literatur über eine Sache von kaum geringerer Bedeutung als die Sache selbst ist« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 498). Literarische Texte (aber auch Bilder) können entweder als initiierende Impulse für oder als nachfolgende Reflexe auf den »Inhalt« von Musik angesehen werden.
Die Auffassungen zur Programmmusik sind im 19. Jahrhundert, in welchem die musikästhetische Debatte zu diesem Thema einen Höhepunkt hatte, davon geprägt, dass Musik zwar »beredt sei, […] sich aber dem Begreifen, der Vergewisserung des Inhalts der Musik immer wieder entzog« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 499). Von Narrativität in Programmmusik kann also nur indirekt gesprochen werden, da Musik uns zwar durchaus etwas »erzählt«, jedoch der konkrete Inhalt dieser »Erzählung« in unzählige individuelle Deutungen zerfällt, ja im Verständnis der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts vage bleiben soll.
Sobald man den Inhalt von Musik in Worte fasst oder den emotionalen Reflex auf Musik zu beschreiben versucht, verschwindet die Ambivalenz und damit der Wert, den musikalische Programmatik für den Gefühlshaushalt hat. Mit dem, was Worte beschreiben können, werden Empfindungen banalisiert, da sie meist alles drumherum Befindliche ausschließen. Eine »musikalische Erzählung« schließt dagegen unterschiedliche Deutungen mit ein und mit ihr die verwandten Empfindungen einer zentralen Inhaltsidee.
Beispiel: Debussy: Préludes für Klavier
Claude Debussy hat seinen Préludes für Klavier (1910–1913) programmatische Titel nachgestellt. Das Prélude Nr. 6, triste et lent aus dem 1. Band trägt beispielsweise den Untertitel Des Pas Sur La Neige. Nachdem also das Stück gespielt wurde, bietet der Komponist ein Programm an, das sich in einem möglichen Sujet (z. B. Spaziergang durch verschneite Landschaft) zeigt. Der schreitende Rhythmus, das Innehalten, der melancholische Grundton, die spürbare »Stille«, wie sie für Landschaften im Schnee, der akustische Reflexionen »verschluckt«, typisch ist, erscheinen plötzlich als treffende Assoziationen. Welche Facette dieser nur geringen Auswahl an narrativen Implikationen gültig ist, bleibt völlig offen, so offen, dass auch ein anderes Sujet zur selben Musik durch eine Unter- oder Überschrift benannt werden könnte. Für die Préludes Nr. 1, 3, 4, 7 und 8 aus Band 1 sowie Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10 aus Band 2 lassen sich immerhin konkrete außermusikalische Impulse belegen, die aus der Literatur, Sagenwelt, Architektur und Malerei stammen oder sich – wie im Falle von Nr. 6 (Band 2) General Lavine – excentric auf eine konkrete Person (einen amerikanischen Clown, der 1910/12 in Paris auftrat) beziehen.107
Ein Programm, das von Komponisten bei der Entstehung oder Veröffentlichung von Musik herangezogen wird, bleibt in seiner Wirkung auf das Publikum ambivalent, weil nie ganz geklärt werden kann, ob es Impuls oder Reflex auf die Musik oder ihre Rezeption ist. Dies gilt für Tendenzen impressionistischer Kunst ebenso wie für Charakterstücke aus Barock, Klassik und Romantik. Ein Programm kann die Wahrnehmung öffnen und das Verständnis fördern (und damit sowohl der Erkenntnis als auch dem Kunstgenuss dienen), solange es nur hindeutet und nicht versucht, dem Publikum eine einzig gültige Deutung aufzuzwingen und das Werk nicht letztgültig erschließen will.108
Die Sinfonische Dichtung ist eines der prominentesten Beispiele für Gattungen der Programmmusik. Doch auch an dieser Gattung zeigt sich, dass der »Inhalt« von Programmmusik musikalischer und nicht literarischer Natur ist.109 Sieht man das Programm als Impuls einer inneren Empfindung oder als Reflex auf einen äußeren Anlass, ist der außermusikalischen Stoff, das Sujet, nicht der schöpferisch-formende Teil des Werkes, sondern das Musikalische. Selbst bei stereotyper Nutzung von Werken der Programmmusik im Film scheint die »tönend bewegte Form« die schöpferische und ästhetische Kraft zu sein und nicht der Inhalt des Programms.
Gustav Mahler unterschied zwischen einem »inneren« und »äußeren« Programm, wie Dahlhaus zusammenfasst:
»Präsentiert sich das »äußere« Programm als Bilderfolge, so ist das ›innere‹ ein ›Empfindungsgang‹, allerdings einer, der sich dem Zugriff empirisch-psychologischer Kategorien entzieht.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 115).
Der Dirigent und Komponist Gustav Mahler sieht im Musizieren den »ganzen Menschen« sich ausdrücken, der vom Gang seiner Empfindungen in Bezug zu allem, was ihn bewegt, erzählt. In Mahlers Vorstellung sind andere Kunstformen im Musizieren vereinigt. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er:
»Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber WAS man musiziert, ist doch immer der GANZE (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch. Es wäre ja auch weiterhin nichts gegen ein ›Programm‹ einzuwenden (wenn es auch nicht gerade die höchste Staffel der Leiter ist) – aber ein MUSIKER muss sich da aussprechen und nicht ein Literat, Philosoph, Maler (alle die sind im Musiker enthalten). [alle H. i. O.]« (Mahler 1982, S. 293)
Gustav Mahler bewegt sich in einem Bereich der metaphysischen Musikästhetik. Das »äußere« Programm lässt sich zwar mit konkreten Bildern und sprachlichen Mitteln beschreiben, aber verbleibt im Bereich der literarischen oder bildenden Kunst. Das »innere« Programm, das Mahler als »Empfindungsgang« sieht, erzählt vom ethos seines Schöpfers und kann vom pathos, das im Illustrativen steckt, unterschieden werden. Die Ganzheit der Gefühls-, Lebens- und Gedankenwelt, die sich im Musizieren und in Musikwerken ausdrücken kann, legt es nahe, von Weltanschauungsmusik oder »Ideenkunstwerk« statt von Programmmusik zu sprechen.110
Fasst man die Diskussion über Programmmusik und sogenannte »absolute« Musik grob zusammen, lässt sich sagen, dass literarische Programme nicht die Substanz des musikalischen Werkes berühren. Sie können zu den Entstehungsbedingungen von Musik gehören, aber nicht das Wesen der Musik darstellen oder erfassen. Aus dieser Sicht bleibt Programmmusik – im Gegensatz zur Illustrationsmusik – autonome Musik. Richard Strauss ging so weit zu sagen, dass es gar keine Programmmusik gäbe.111 Dennoch schuf auch er Werke, die zweifellos schildernd sind, äußere Natur illustrieren oder eine Geschichte musikalisch bebildern. Neben Programmmusik als »hermeneutische Gleichnisreden« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 112) existieren auch Abstufungen, die bis hin zur Illustration einer äußeren Erscheinung reichen.
Adorno schreibt in seinem wegweisenden Mahler-Buch: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86). Dort beschreibt er auch den mimetischen Impuls, den Musik in unterschiedlichem Maße haben kann und der durch die musikalische Formung in eine Wechselbeziehung zum Musikalischen tritt. Mit dieser anschaulichen Formulierung ist nicht die Nachahmung eines Sujets gemeint, sondern seine Verarbeitung.
»Als ausdrucksvolle verhält Musik sich mimetisch, nachahmend, wie Gesten auf einen Reiz ansprechen, dem sie sich im Reflex gleichmachen. Dies mimetische Moment tritt in der Musik allmählich mit dem rationalen, der Herrschaft über das Material zusammen: wie beide aneinander sich abarbeiten, ist ihre Geschichte.« (Adorno 1960/1969, S. 34)112
In der Musikästhetik des späten 19. Jahrhunderts verbirgt sich der seltsame Widerspruch zwischen Nicht-Erfassbarkeit von Gefühl oder Idee und deren Bindungen an außermusikalische Impulse. Der erzählende Gestus und die Perspektive einer künstlerisch sich äußernden Person, die ein Sujet verarbeitet, ist zu einem Merkmal des Kunstsystems Musik geworden. Im Kino trifft es auf ein filmisches Kunstsystem, dem man eine ähnliche Qualität zuschreiben kann, sodass mit den Worten Bachtins von der »Polyphonie der Stimmen« auch im Kino gesprochen werden kann.113 Die vage Existenz eines »ästhetischen Subjekts« (Danuser 1975, S. 15), das sich durch Musik äußert, bildet einen Teil der rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen, die den Einsatz und die Wirkung von Filmmusik beeinflussen.
Die Affinität von Filmschaffenden für die Verwendung der Musik von Wagner und Mahler im Film hängt, so lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, mit der in ihrer Instrumentalmusik schon enthaltenen Wechselwirkung von musikalischer Form mit Ideen- und Gefühlswelt zusammen. Die Gedanken, Ideen und Gefühle, die sich in einem musikalischen Ideenkunstwerk niedergeschlagen haben, können bei zitierter, präexistenter oder an jene Tonsprache angelehnter Musik in die filmische Erzählung integriert werden, z. B. zur Strukturbildung, Sinnstiftung oder Illustration. Bis ins Letzte bestimmbar sind die Ideen jedoch – zumal in einem neuen, tatsächlich narrativen Kontext eines Films, der ihre ideelle Bedeutung allerdings auch einengen kann – nicht.