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„Nein, der Witz geht ganz anders!“ – Ein Witz und viele Versionen
ОглавлениеIch habe für dieses Buch sowohl alte als auch neue Witze ausgewählt, wobei die alten Witze meist Klassiker sind und bereits viele Jahre auf dem Buckel haben. Aber: Es gibt Witze, die muss man einfach kennen.
Besonders die älteren existieren oft in verschiedenen Versionen, und dann taucht die Frage auf: „Welche ist die bessere?“ Leidenschaftliche Witzeerzähler lassen in dieser Hinsicht keine Kompromisse gelten. Sie warten, bis die Pointe fertig ist, und sagen dann: „Nein, der Witz geht ganz anders!“ – und beginnen ihn neu zu erzählen.
Wenn man die äußerst umfangreiche wissenschaftliche Literatur über Witze und die Witzesammlungen durchsieht, fällt auf, dass einzelne Witze immer wieder in verschiedenen Abwandlungen auftauchen. Aber schon kleine Änderungen können einen Witz beschädigen oder völlig zerstören. In diesem Buch werden Sie einige Beispiele dafür finden.
Oft ist auch das subjektive Empfinden ganz entscheidend. Ich meine, dass sich Witze durch Kürze und Zielstrebigkeit auszeichnen sollen. Hans-Martin Gauger, ein langjähriger Professor für Romanistik an der Universität Freiburg im Breisgau und der einzige Wissenschafter, der sich in den letzten Jahrzehnten mit Sprachwitzen befasst hat, verlangt in seinem Buch Das ist bei uns nicht Ouzo von einem Witz folgende Eigenschaften: „Ein Witz sollte um des Hörers oder Lesers willen schnell sein Ziel erreichen. Andererseits muss alles – dann aber wiederum nur das – gesagt werden, was zur Realisierung der Pointe nötig ist. Es ist der Witz selbst, der Kürze will. Genauer: Nicht er selbst, sondern unser Bewusstsein von ihm. Metaphorisch aber ist es in der Tat ‚er selbst‘. Er will also möglichst schnell zur Pointe und – mit ihr und durch sie – zu der kleinen Explosion kommen, die das Lachen oder das Lächeln des Hörers sind.“ Gauger vertritt daher das Prinzip: „so lang wie nötig, so kurz wie möglich“, schränkt jedoch anschließend ein: „Zur nötigen Länge gehört aber auch (rien n’est simple) eine gewisse Farbigkeit, eine gewisse andeutend situierende Ausgestaltung, also durchaus nicht nur das rein logisch oder intellektuell Notwendige.“ (Gauger, 2006, S. 14–15)
„Witze, sind die kürzeste und präziseste Form erzählter Literatur“, meinte einmal Hellmuth Karasek, er war einer der vier Diskussionsteilnehmer des Literarischen Quartetts. Gute Witze unter Literatur einzureihen, wird nicht falsch sein – in einem gut erzählten Witz muss jedes Wort „sitzen“. Und manche Sprachwitze, die sich der Dialogform bedienen, sind eigentlich allerkürzeste Minidramen. Situationswitze sind allerkürzeste Kurzgeschichten.
Mit dem Satz „Nein, der Witz geht ganz anders“ könnte man auch die viel beachtete Polemik Friedrich Torbergs gegen Salcia Landmann und ihr 1960 im Schweizer Walter Verlag erschienenes Buch Der jüdische Witz überschreiben. Salcia Landmann, geboren in Żółkiew, damals Galizien, heute Ukraine, war die Tochter des Ehepaares Israel Passweg und Regina Passweg, geborene Gottesmann. Während des Ersten Weltkriegs übersiedelte sie mit ihrer Familie in die Schweiz nach St. Gallen. Sie promovierte in Philosophie und heiratete den Philosophen Michael Landmann. Ihre schriftstellerische Arbeit verstand sie als „stilles Requiem auf die untergegangene ostjüdische Kulturwelt“.
Das erinnert ein wenig an Friedrich Torbergs Bestreben, der jüdischen Kultur, die durch die Schoah vernichtet wurde, ein Denkmal zu setzen. Sein erfolgreichstes Buch, Die Tante Jolesch, trägt den Untertitel „Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten“.
Im Oktober 1961 erschien in der Zeitschrift Der Monat jene Polemik Torbergs, die in der Folge hohe Wellen schlagen sollte. Ihr Titel: „Wai geschrien!“ oder Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz. Anmerkungen zu einem beunruhigenden Bestseller. Torbergs Aufsatz wurde seither oft in Auszügen zitiert, ich wollte den gesamten Artikel lesen. Also bestellte ich in der Nationalbibliothek den 14. Jahrgang der Berliner Zeitschrift und las in Heft 157 den durchaus vergnüglichen Beitrag. Anhand einiger Beispiele zeigt Torberg, wie Salcia Landmann die Witze ruiniert hat. Der folgende Witz über das Witzeerzählen selbst war bereits in den 1930er Jahren publiziert worden, in einem Buch, das im Titel nicht das Wort „Witze“, sondern den Ausdruck „Schwänke“ stehen hatte.
Ein Bauer lacht dreimal über einen Witz: das erste Mal, wenn man ihn erzählt, das zweite Mal, wenn man ihn erklärt, und das dritte Mal, wenn er ihn verstanden hat.
Ein Pachtherr lacht zweimal: das erste Mal, wenn man ihm den Witz erzählt, das zweite Mal, wenn man ihn erklärt. Verstehen wird er ihn nie.
Ein Büttel (= Polizist) lacht nur einmal: wenn man ihm den Witz erzählt; denn er verbietet dir, den Witz zu erklären, und verstehen wird er ihn deshalb nie.
Erzählst du den Witz einem Juden, so unterbricht er dich: „Ach, was, ein alter Witz!“ und er kann ihn dir besser erzählen.
(Joffe, S. 37, basierend auf Olsvanger, S. 3)
Das ist ein schöner Metawitz, ein Witz über den Witz beziehungsweise über das Witzeerzählen, und er hat einen subtilen Inhalt. Die beste Interpretation dieses Witzes habe ich in Josef Joffes empfehlenswertem Buch über den jüdischen Humor mit dem Titel Mach dich nicht so klein … gefunden. „Die Gojim, also die Christen, sind aus Sicht des Erzählers grundsätzlich nicht besonders helle“, schreibt der angesehene Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, „aber der Landbesitzer und der Polizist, die Mächtigen, sind noch blöder als der Bauer, der in der Hierarchie nur knapp über dem Juden steht und deshalb schon fast ‚einer von uns‘ ist.“ Auf diese Weise „erhebt sich der Jude über seine Umwelt“. Für den osteuropäischen Schtetlbewohner, der selber fast nie Land besitzen durfte, „ist der Verpächter eine wirtschaftliche und der Polizist eine existenzielle Bedrohung, weil er eine willkürliche Staatsmacht vertritt. (…) Diesen Typen ihren geistigen Rückstand zu bescheinigen, bietet seelischen Trost in auswegloser Lage.“ Eine andere Interpretation könnte lauten: „Bleib auf dem Teppich. Du hast zwar die besseren Pointen, aber die haben die Macht.“ (Joffe, S. 37–38)
Landmann kannte die Quelle, aber sie veränderte den Schluss.
Erzählt man aber einem Juden einen Witz, so sagt er: „Den kenn’ ich schon!“ – und erzählt einen noch besseren. (Landmann, 1960, S. 510)
Dass Torberg diese Veränderungen sauer aufstießen, ist verständlich. „Nein! Nein! Erstens sagt er nichts, denn das würde bedeuten, dass er den Witz bis zum Ende anhört – er unterbricht ihn. Zweitens erzählt er nicht einen noch besseren, denn das würde bedeuten, dass er den ersten für gut hält – er hält ihn aber für schlecht. Und drittens erzählt er überhaupt keinen besseren, denn das würde bedeuten, dass er einen anderen erzählt – er erzählt aber den gleichen Witz anders, weil er überzeugt ist, ihn besser erzählen zu können.“ (Torberg, Wai, S. 49)
Ein Geschäftsmann kehrt von einer längeren Reise zurück und erfährt, dass in der Zwischenzeit einer seiner besten Freunde gestorben ist. Sogleich begibt er sich auf den Friedhof, um am Grab des Verstorbenen das Totengebet zu verrichten.
Hier ruht Samuel Kohn
Ein ehrlicher Mensch
Ein guter Kaufmann
lautet die Inschrift, die er auf dem Grabstein liest.
„Armer Sami“, murmelt er. „Mit zwei wildfremde Leut’ haben sie dich ins Grab gelegt.“ (Torberg, Wai, S. 49)
Ein großartiger Witz. Was hat Salcia Landmann daraus gemacht?
Eine Jüdin spaziert auf dem Friedhof umher und liest die Aufschriften auf den Grabsteinen. Sie liest unter anderem
Hier ruht Jossel Rosenblum, Kantor
Ein frommer Mann
Ein tugendhafter Mann
„Gott über die Welt“, ruft die Jüdin entsetzt, „drei Juden unter einem einzigen Stein.“ (Landmann, 1960, S. 214)
Torbergs Kommentar liest sich auch in diesem Fall amüsant: „… was soll damit gewonnen sein, dass Jossel Rosenblum Kantor ist? Seit wann werden auf den Grabsteinen die Ruf- oder Kosenamen der Beerdigten angegeben (Jossel statt Josef)? Seit wann ‚spazieren‘ Jüdinnen auf Friedhöfen? Und wer, vor allem, hat jemals von jüdischen Lippen den Ausruf ‚Gott über die Welt‘ gehört?“ (Torberg, Wai, S. 50)
Weil die von Torberg inkriminierten Witze im Original so großartig sind, noch ein drittes Beispiel, auf das ich in einem späteren Kapitel zurückkommen werde (siehe S. 245 f.).
„Ornstein, was ist los mit Ihnen?“, ruft aufgeregt ein Passant, der im Straßengewühl auf einen anderen zugetreten ist. Früher waren Sie groß – jetzt sind Sie klein. Früher waren Sie dick, jetzt sind Sie mager. Früher hatten Sie eine Glatze, jetzt haben Sie Haare. Früher …“ – „Aber ich heiße ja gar nicht Ornstein“, kann der Angeredete endlich unterbrechen. „Was?! Ornstein heißen Sie auch nicht mehr?“ (Torberg, Wai, S. 50)
Salcia Landmann lässt den Rufer seinen Text abspulen, nachdem er über den Irrtum informiert wurde.
„Hallo Ornstein!“ – „Ich heiße doch gar nicht Ornstein.“ – „Herr des Himmels! Wie kann sich ein Mensch nur so verändern. Die Figur ist verwandelt, die Haarfarbe, die Nase auch – und sogar der Name ist ein anderer geworden.“ (Landmann, 1960, S. 237)
Torberg kritisiert außerdem Fehler in Landmanns Buch, „über die sich nicht streiten lässt“: Falsche Sterbedate von Arthur Schnitzler und Henri Bergson, ein falsches Geburtsdatum von Sigmund Freud, der noch dazu, „man fasst es nicht (und nicht einmal Alfred Adler wird sich darüber freuen“, als „Individualpsychologe“ bezeichnet wird. (Torberg, Wai, S. 52) Hier der Landmann’sche Lapsus:
„Der Großteil wirklich guter Witze, die wir kennen, lässt sich leicht auf jüdischen Ursprung zurückverfolgen. Der Individualpsychologe Freud hat sich um diese Seite der Frage wenig gekümmert. Doch sind die meisten von ihm zitierten Witzbeispiele dem jüdischen Bereich entnommen. Auch dass er selber, der Analytiker des Witzes, Jude war, empfand er bestimmt nicht als Zufall.“ (Landmann, 1960, S. 33–34)
Dem streitbaren und brillant formulierenden Autor ist in vielen Punkten zuzustimmen: Salcia Landmann gibt Witze als jüdisch aus, die keine jüdischen Witze sind. „Einfach dadurch, dass man einen Popen oder einen Dorfpfarrer zum Rabbiner macht, werden russische, polnische oder böhmische Geschichten noch nicht jüdisch.“ (Torberg, Wai, S. 60) Salcia Landmann habe mit ihrer Sammlung den jüdischen Witz als solchen zur Unkenntlichkeit verstümmelt. „Sie hat ihn, wai geschrien, ermordet.“ (Torberg, Wai, S. 65) Torberg vermutet, dass „dieses schnöde Machwerk“ deshalb zu einem Bestseller werden konnte, weil es den Lesern „das Gefühl gibt, sie haben die Vergangenheit bewältigt und haben sich dabei auch noch gut unterhalten“. Obwohl es nicht ihre Absicht gewesen sei, habe sie dem Antisemitismus Vorschub geleistet. „Diese Unempfindlichkeit, die fundamentale Gefühl- und Instinktlosigkeit gegenüber allem, aber auch wirklich allem, was das Wesen des jüdischen Witzes ausmacht, musste zwangsläufig zum antisemitischen Effekt des Buches führen.“ (Torberg, Wai, S. 56)
Im Jahr 1971 erschien im Berliner Colloquium Verlag das Buch Der echte jüdische Witz. Der Autor, Jan Meyerowitz, geboren in Breslau, war in die USA emigriert und hatte sich als Komponist, Dirigent, Pianist einen Namen erworben. Meyerowitz teilte Torbergs Kritik, ja er verschärfte sie sogar. Die „Soziologie und Sammlung“ jüdischer Witze – so der Untertitel von Landmanns Buch – sei „der Aufgabe so ziemlich alles schuldig geblieben, und die weite Verbreitung des Buches ist ein großes, vielleicht unreparierbares Missgeschick. Wir würden gar nicht darüber reden, wenn es nicht eine solche historische Entgleisung wäre.“ Die einzige protestierende Stimme, jene Friedrich Torbergs, dürfte wirkungslos verhallt sein. „Auf viele Juden hat die ‚Soziologie und Sammlung‘ jedenfalls fast so abstoßend und schmerzlich gewirkt wie so manches in der Nazizeit Geschriebene …“ Salcia Landmann habe bei der Auswahl der Witze wenig Takt bewiesen. „Ihre besondere Vorliebe gehört anscheinend dem oft sehr unglücklich wirkenden Witz über die verschmutzten Gettos und der Einwohner und über jüdische Gaunereien.“ Viele dieser hässlich wirkenden Witze seien „echt“, also weder antisemitischer Herkunft noch unjüdisch, doch dürfen sie heute „keinesfalls ohne sorgfältige historische und psychologische Erklärung im Druck erscheinen“. (Meyerowitz, S. 13–15)
Meyerowitz spricht damit das Hauptproblem des Buches an. Der erste Teil mit dem Titel Einleitung enthält die historischen und psychologischen Erklärungen, der zweite Teil ist die Witzesammlung. Wer in dieser blättert, ohne die Einleitung gelesen zu haben, erfährt nichts über den Hintergrund. Meyerowitz hingegen hat einen durchgeschriebenen Text abgeliefert, in den die Witze als Belege eingebaut sind.
Salcia Landmann hat als Reaktion auf ihr Buch unzählige Witze von Juden aus aller Welt geschickt bekommen. Im Jahr 1972 veröffentlichte sie einen Ergänzungsband. Im Vorwort wies sie darauf hin, dass ihr erstes Buch über den jüdischen Witz mit Begeisterung aufgenommen worden sei. „Mit dem wachsenden Erfolg des Buches, es liegt heute in verschiedenen Ausgaben in über 500.000 Exemplaren vor, kamen natürlich auch Angriffe. Etliche aus den ehemaligen jüdischen ‚Witzezentren‘ – also Wien, Berlin etc. – aus der Feder jüdischer Kollegen. Sie übersahen unter anderm, dass es hierfür ziemlich solider Kenntnisse der jüdischen Geistestradition bedarf.“ Was Torberg als Problem des Buches ansah, definiert sie als seine Stärke. „Man empfand es als einen Schritt zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden. Man war erleichtert, nach den fürchterlichen Vorgängen der Nazizeit endlich auch wieder anders als nur mit Schreck und Gram an die Juden Europas denken zu dürfen.“ (Landmann, 1972, S. 7) Ihr ging es darum, möglichst viele Witze zu sammeln und für die Nachwelt zu dokumentieren; sie veröffentlichte im Anhang ihrer späteren Bücher Listen der „Spender von Witzen“.
In einem entscheidenden Punkt geht Torbergs Kritik ins Leere. Er klassifiziert die kurzen Sprachwitze in der Landmann’schen Sammlung als „die ödesten Kalauer“ (Torberg, Wai, S. 56). Auch die „Schirm-Scharm“-Witze, auf die ich später zurückkommen werde (siehe S. 98, S. 203), missfallen ihm.
Torberg hat diese Sprachwitze nicht gemocht und als witzlos abgetan, das ist sein gutes Recht. Aber er hat übersehen, dass sie spezifisch jüdisch sind und in einem Buch über den jüdischen Witz nicht fehlen dürfen. Armin Berg, den Torberg geschätzt und immer wieder lobend erwähnt hat, trug genau solche Witze unter dem Jubel des Publikums vor.
Torberg hatte sich schon Mitte der 1970er Jahre einem verwandten Thema gewidmet, den Anekdoten aus dem jüdischen Milieu. Sein Buch Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten sollte ein ebenso großer Bestseller wie Salcia Landmanns Witzesammlung werden, wobei sich auch Torberg einige Schlampigkeitsfehler zuschulden kommen ließ.
Für mein Buch Die Tante Jolesch und ihre Zeit studierte ich in der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek den Briefwechsel Torbergs mit Zeitgenossen. Gewissenhafte Leser seines Anekdotenbandes wiesen ihn auf zahlreiche Irrtümer hin (Sedlaczek/Mayr, S. 161). Verglichen mit jenen Böcken, die Salcia Landmann geschossen hat – wir erinnern uns: sie verwechselte Sigmund Freud mit Alfred Adler –, waren Torbergs Fehler grosso modo weniger gravierend. Schlimm ist jedoch ein falsch wiedergegebenes Karl-Kraus-Zitat, das eigentlich ein Sprachwitz ist. Zu finden in der Fackel, Nr. 381–383, 19. 9. 1913, S. 71. Im Original lautet es:
Einen Brief absenden heißt in Österreich einen Brief aufgeben.
Friedrich Torberg macht daraus:
Einen Brief befördern, heißt in Österreich einen Brief aufgeben. (Torberg, Tante Jolesch, S. 172)
Nicht die Post gibt Briefe auf, sondern der Absender. „Ich beknirsche mich ganz besonders wegen des falschen Kraus-Zitats; das hätte mir nicht passieren dürfen“, antwortete Torberg dem Leserbriefschreiber. (Torberg, zitiert in Sedlaczek/Mayr, S. 163) – und versäumte es in der Folge, das Zitat in den Nachauflagen zu korrigieren. Auch in der heutigen Taschenbuchausgabe findet sich das entstellte Kraus-Zitat – und der 2. Wiener Gemeindebezirk, „der fast ausschließlich von Juden bewohnt war“, wird in dem Buch fälschlich „Leopoldstraße“ genannt – statt richtig: „Leopoldstadt“. (Torberg, Tante Jolesch, S. 40) Das ändert aber nichts an meiner Einschätzung, dass Die Tante Jolesch ein geniales und zugleich vergnügliches Buch ist.
Für unser Thema nicht uninteressant ist der Einwand eines Leserbriefschreibers gegen die Pointe der folgenden Anekdote. Ich reduziere sie auf den Kern.
In Wien gab es vor 1938 zwei beliebte koschere Restaurants, das Neugröschl und das Tonello. Eines Tages bestellt ein Gast im Tonello zu früher Stunde ein Scholet. Als der Kellner aus der Küche kommt und bedauert, dass das Scholet noch nicht fertig sei, ruft der enttäuschte Gast: „Was? Halb eins und noch kein Scholet? Bei Neugröschl wird schon gerülpst!“ (Torberg, Tante Jolesch, S. 69)
Der Leserbriefschreiber wandte ein, dass der Gast im Tonello nicht das Wort rülpsen verwendet habe. Der Ausspruch sei anders verbürgt: „Bei Neugröschl prallen sie schon.“ Torberg rechtfertigte sich in seiner Antwort an den Leserbriefschreiber damit, dass er aus Gründen der sogenannten „guten Manieren“ den Ausspruch des Gastes absichtlich falsch zitiert habe, „weil in diesem Zusammenhang der von mir verwendete Ausdruck die gleichen Dienste tut wie der originale. Hier wird keine Korrektur erfolgen.“ (Torberg, zitiert in Sedlaczek/Mayr, S. 157)
Schon Jahre vor dem Erscheinen der Tante Jolesch erzählte Fritz Muliar die Geschichte als Witz – sie ist zu finden auf Preiser Records und im Buch Das Beste aus meiner jüdischen Witze- und Anekdotensammlung.
(…) Dort beim Tonello kommt herein um dreiviertel zwelf ein Mensch. Elegant, groiße Erscheinung, schmeißt den Hut auf dem Haken und schreit: „Kellner! Eine Bohnensuppe!“ – „Verzeihen Se, es is dreiviertel zwelf, die Bohnensuppe is nich fertig.“ – „Wos“, sogt er, „nich fertig!? Beim Neugröschl prallen se schon!“ (Muliar, S. 20)
Salcia Landmann bringt den Witz ebenfalls, aber sie siedelt ihn nicht in Wien an, sondern „in zwei koscheren Restaurants, Ascher und Milowicz“. Ihre Pointe lautet: „Bei Ascher grebezzn (= aufstoßen) sie schon.“ (Landmann, 2007, S. 222–223) Ohne die Einwände gegen Torbergs Version zu kennen, ist sie also in diesem einen Punkt einer Meinung mit ihm.
In einer Neuausgabe ihrer jüdischen Witzesammlung verzichtet Salcia Landmann bei einem anderen „Tscholent“-Witz hingegen nicht auf die Pointe mit dem volkstümlichen Ausdruck für Flatulenz.
Schmul musste sich einer Magenoperation unterziehen. Nachher schreibt ihm der Professor eine strenge Diät auf. Schmul möchte aber auf den herrlichen, fetten Tscholent nur ungern verzichten. Der Professor bleibt jedoch unerbittlich.
Schmul geht zu einem zweiten Arzt. Der lässt sich genau beschreiben, was Tscholent ist – und er verbietet ihn ebenfalls.
Da geht Schmul zu seinem jüdischen Hausarzt und klagt ihm sein Leid. Ein Jude wird doch Verständnis haben für seinen Kummer? „Iss Tscholent so viel du willst!“, sagt der Hausarzt. „Bloß: prallen wirst du schon im Himmel.“
(Landmann, 2010, S. 425–426; 2007, S. 220–221)
Witze haben üblicherweise keinen Urheber, keinen Autor. Im Reich der Witze gibt es kein Privateigentum. Witze werden in Umlauf gebracht und weitergereicht, sie kursieren und zirkulieren. Dabei werden sie adaptiert, verbessert, manchmal auch verschlechtert. Auch die erstmalige schriftliche Fixierung ist in der Regel nicht die Geburtsstunde eines Witzes. Außerdem werden Witze oft von einem Genre in ein anderes verschoben: Aus einem Burgenländerwitz wird ein Blondinenwitz, aus einem Frau-Pollak-von-Parnegg-Witz ein Graf-Bobby-Witz usw. Wenn ich in der Folge aus einer Sammlung zitiere, werde ich mir daher dann und wann das Recht herausnehmen, den Text geringfügig zu verändern.
Des Öfteren werde ich aus Salcia Landmanns Büchern zitieren. Diese liegen aktuell in zwei Ausgaben vor: einer Hardcoverausgabe Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung, lieferbar bei Patmos, und einer dtv-Taschenbuchausgabe Jüdische Witze. Der Klassiker von Salcia Landmann. In der neuen Hardcoverausgabe, erstmals 2010 erschienen, wurden die von Torberg aufgezeigten Fehler ausgebessert. Die Taschenbuchausgabe, erschienen 2007, enthält eine Kurzfassung der Einleitung und die besten Witze aus der ursprünglichen Hardcoverausgabe. Die Witze sind weiterhin nach Themenschwerpunkten geordnet, beim Kapitel Medizin und Hygiene gibt es zu Beginn den Hinweis: „Über den Wert der Hygienewitze vgl. Einleitung S. 60.“ Dort liest man unter anderem: „Ohne Zweifel sind die Badewitze nicht jüdischen, sondern antisemitischen Ursprungs. Aber die Bereitschaft der Juden zur Selbstkritik bringt es leicht mit sich, dass sie auch den unberechtigten Spott der Feinde in ihre Selbstverspottung einbauen.“
Die seinerzeit berechtigten Einwände von Torberg und Meyerowitz sind somit für den heutigen Buchkäufer nicht relevant. Beiden Witzebüchern von Salcia Landmann, dem Hardcover wie dem Taschenbuch, ist der große Erfolg zu gönnen. Das Buch von Jan Meyerowitz ist leider vergriffen. In Internetantiquariaten, zum Beispiel bei eurobuch.com, ist es aber erhältlich.
Andere wichtige Quellen waren für mich fünf kleine Bücher mit jüdischen Witzen. Sie sind unter dem Namen Avrom Reitzer um 1900 zunächst in Preßburg bei A. Akalay und dann bei J. Deubler’s in Wien erschienen. Im Titel findet sich oft das Wort „Lozelech“, im Untertitel „… für ünsere Leut’“. Es waren also Witze, die von Juden gesammelt wurden und für Juden bestimmt waren. Damals sprach man noch nicht von „Witzen“, erst in späteren Auflagen taucht das Wort am Cover auf.
Diese „Lozelech-Bücher“ waren hart gebunden und hatten jeweils hundertzwölf Seiten Umfang. Sie dürften reißenden Absatz gefunden haben. In der Buchhandelswerbung von J. Deubler’s wird der Bestsellercharakter der Titel hervorgestrichen. Den Buchhändlern wird empfohlen, sie in den Auslagen zu platzieren, um gute Umsätze zu machen.
Nicht weniger wichtig waren für mich Heinrich Eisenbach’s Anekdoten, gesammelt und vorgetragen in der Budapester Orpheumsgesellschaft in Wien – so lautete der Titel von vierundzwanzig kleinen Büchern, die ab dem Jahr 1905 innerhalb kurzer Abstände in der k. k. Universitätsbuchhandlung Georg Szelinski erschienen. Eisenbach war Schauspieler, Sänger, Komiker, Filmschauspieler und zwanzig Jahre lang Direktor der Budapester Orpheumgesellschaft in Wien. Jedes Büchlein mit kartoniertem Umschlag hatte sechzehn Seiten Umfang und kostete vierzig Heller – nach heutiger Währung wären das 2,60 Euro. Es waren nicht Anekdoten, sondern Witze mit Pointen. Da der Begriff „Witze“ noch nicht populär war, entschloss man sich, den Inhalt der Bücher als „Anekdoten“ zu bezeichnen. Die kleinen Bücher fanden reißenden Absatz. Als sie in zweiter Auflage erschienen, wurden sie sogar in die kaiserlich-königliche Hofbibliothek aufgenommen.
In den Büchern von Avrom Reitzer, vermutlich ein Pseudonym, und von Heinrich Eisenbach habe ich viele ursprüngliche und urtümliche Fassungen von Witzen entdeckt, die später bei Sigmund Freud, bei Salcia Landmann und anderen Autoren auftauchten – und noch heute erzählt werden. Die über hundert Jahre alten Bücher wurden bisher kaum beachtet, obwohl sie authentisch sind und einen Blick auf die Frühphase der Witzekultur freigeben.
Da Salcia Landmanns Bücher so erfolgreich waren, entschloss sich der Schweizer Walter-Verlag ein ähnliches Projekt mit dem Titel „Der klerikale Witz“ in Angriff zu nehmen. Das Buch erschien 1970, Herausgeber war Hans Bemmann, ein in der Nähe von Leipzig geborener Sohn eines evangelischen Pfarrers. In den 1950er Jahren arbeitete er als Lektor beim Österreichischen Borromäuswerk, mit dem Roman Stein und Flöte gelang ihm später auch ein literarischer Durchbruch. Der österreichische Kulturhistoriker und Linkskatholik Friedrich Heer stellte eine essayistische Einleitung zur Verfügung. Das Buch enthält jene Witze, „die sich häufig entzünden an den Auseinandersetzungen und Zwangslagen eines im Widerspruch zur übrigen Welt stehenden Berufes und Standes, an der Diskrepanz zwischen den Forderungen des Glaubens und der Unzulänglichkeit des Menschen“, so der Klappentext. Das Buch erzielte mehrere Auflagen, auch im Taschenbuch, ist heute allerdings vergriffen.
Im Nachlass Friedrich Heers, das im Literaturarchiv der Nationalbibliothek aufbewahrt wird, findet sich eine Erstausgabe von Salcia Landmanns Buch. Friedrich Heer hat vor Abfassung des Esssays sowohl die Einleitung als auch die Witzesammlung gewissenhaft studiert und einzelnen Zeilen unterstrichen, um sie später leichter zu finden.
Es ist erstaunlich, wie sich manche Witze im Laufe der Zeit verändert haben. Deshalb finden Sie da und dort die Fundstellen vermerkt. Dies dient dazu, Entwicklungsstränge sichtbar zu machen und historische Witze aus ihrem Kontext heraus zu verstehen.