Читать книгу Wissen, Weisheit, Wohlstand - Robert Seidl - Страница 8

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An einem kühlen Herbsttag wanderte ein Mönch durch ein Gebirge, auf dem Weg zu einem bekannten Kloster, in dem er während des Winters seine Studien vertiefen wollte. Der Weg war lang und beschwerlich, doch der Mönch genoss die Vielfalt der Natur und die Stille, die in seinem Kloster manchmal fehlte. Innerlich war er jedoch angespannt, weil er nicht wusste, was ihn auf der Reise und im neuen Kloster erwarten würde. Sein Mentor, der Abt seines vorigen Klosters, hatte ihm gesagt, es würden große Aufgaben auf ihn warten, wenn er bereit sei, dem Leben zu vertrauen und alles, was ihm begegne, als Chance für Wachstum anzuerkennen. Doch so ganz konnte er es nicht verstehen, denn seine Füße schmerzten von dem beschwerlichen Weg mit all den Steinen und Felsen. Manchmal musste der Mönch auf allen vieren klettern, um voranzukommen. Der kalte Nordwind, der ihm ins Gesicht blies – ein Vorbote des herannahenden Winters –, mahnte ihn zur Eile; er hatte erst ein Drittel seiner zweimonatigen Reise hinter sich.

Beim Aufstieg auf ein Hochplateau, wo er übernachten wollte, bemerkte der Mönch einen Höhleneingang. „Vielleicht wäre das ein idealer Schlafplatz“, sagte er sich und lief in Richtung der Höhle. Er fragte sich, was sich wohl darin befinden würde, insgeheim aber wünschte er sich einen Rückzugsort, um endlich nach Wochen an einem trockenen und windgeschützten Platz übernachten zu können. Doch als er auf den Eingang zuging, spürte er, dass sein Wunsch vergebens sein würde. Er fühlte die Präsenz von Menschen. Der Mönch erschauerte und sein Magen schnürte sich zu. Er schlich geduckt näher, um von eventuellen Bewohnern nicht entdeckt zu werden. Nun beflügelte ihn zwar die Neugier, aber die zunehmende Angst und das schaurige Gefühl lähmten ihn.

In der Nähe der Höhle versteckte er sich hinter einem großen Stein und observierte fürs Erste den Höhleneingang. Er sah, wie Menschen Dinge hin und her trugen und miteinander in erster Linie wortlos, mittels Zeichensprache, kommunizierten. Sein Instinkt verbot ihm, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, und so wartete er. Es musste etwas Wertvolles oder Gefährliches in dieser Höhle sein, vermutete der Mönch. Aber Geduld war seine Tugend, und so konnte er seine Neugier unterdrücken, bis der Abend dämmerte. Dann sah er, wie die Menschen die Höhle in Richtung Tal verließen. Dies war die Gelegenheit, sich unbemerkt umzusehen.

Ganz langsam tastete er sich zum Eingang vor, aus dem ein Licht herausschien, das nur bei zunehmender Dunkelheit zu erkennen war. Das Licht flackerte, die Lichtquelle war also mit großer Wahrscheinlichkeit ein Feuer. Der Mönch folgte dem Licht und drang tiefer in die Höhle vor. Tatsächlich: Dort entdeckte er ein Lagerfeuer, das durch eine Steinmauer in Richtung des Höhleninneren begrenzt wurde. Das Feuer knisterte und loderte hell, anscheinend waren harte Hölzer ins Feuer gelegt worden, damit es die ganze Nacht hindurch brennen konnte. Alles wies darauf hin, dass sich hinter der Mauer etwas verbarg, es war auch ein Stöhnen und leises Atmen zu vernehmen. Die Neugier war nun stärker als die Angst, die den gesamten Körper des Mönches erzittern ließ, sodass er immer wieder Stoßgebete an Gott und Schutzheilige entsandte. Er schlich am Rand der Höhlenkammer entlang, um einen Blick hinter die Mauer zu werfen. Da sich Mauer und Feuer in der Mitte der Höhlenkammer befanden, dachte sich der Mönch, er würde von den hinter der Mauer vermuteten Wesen nicht entdeckt werden. Umrisshaft konnte er menschenähnliche Gestalten wahrnehmen, die an Schenkeln und Hals gefesselt waren.

Mit dem Rücken zum Ausgang platziert, waren die Gefangenen genötigt, auf eine Wand zu starren, die durch das Feuer im Eingangsbereich der Höhle beleuchtet wurde. Andere, die der Mönch für sich als „Kerkermeister“ bezeichnete, bewegten Gegenstände vor dem Feuer hin und her, sodass sich deren Schatten auf der Wand abzeichneten, auf die die Gefangenen starrten. Aus ihrer gefesselten Position konnten die Menschen die Herkunft von Licht und Schatten unmöglich erkennen. Sie lebten in einer von anderen Menschen kreierten Realität, ohne Bezug zu einer umfassenden Wirklichkeit. Ihre körperliche Verfassung ließ darauf schließen, dass sie sich bereits seit ihrer Kindheit in dieser Position befanden.

Trotz eines intensiven Unbehagens beobachtete der Mönch mit all seinen Sinnen das Geschehen. Er konnte feststellen, dass die Kerkermeister nicht nur Schatten, sondern auch Geräusche verursachten. Die Gefesselten versuchten diese zu interpretieren, ein Muster herauszulesen, eine Weissagung über diese „höhere Macht“ zu treffen. Es herrschte unter den Gefangenen eine Religion des Aberglaubens, in dem jener Gefangene Lob und Ehre erhielt, der die besten Prophezeiungen über Schatten und Geräusche „vorhersah“.

Der Körper des Mönchs, der in seinem Versteck kauerte, schmerzte. Jetzt erinnerte er sich an seine Gelöbnisse der Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe, die er als Novize abgegeben hatte. Demnach wäre es jetzt seine Aufgabe, die Gefangenen zu befreien, doch er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. In einem Gebet befragte er sein Gewissen, was das Beste in dieser Situation für alle wäre. Daraufhin beschloss der Mönch fürs Erste unauffällig zu flüchten, denn er sah keine Möglichkeit, die Gefangenen alleine zu befreien. Als die Kerkermeister sich zum Schlafen hingelegt hatten, kroch er aus seinem Versteck hervor. Auch die Gefangenen waren bereits eingeschlafen und es herrschte Totenstille. Er reckte und streckte seine steifen Glieder, dann schlich er aus der Höhle und verschwand im Dunkel der Nacht …

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