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Timmrin wurde geweckt vom Geräusch eines Möbelstückes, das erneut am Boden scheuernd, Stück für Stück, beiseitegeschoben wurde. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch fühlte er sich müde und entkräftet. Die Luke öffnete sich.

„Kommt“, war die leise Stimme Skholopans zu vernehmen, der seine Hand nach unten streckte. Skhat griff nach ihr und zog sich nach oben. Endlich raus aus diesem beklemmenden Grab, dachte Timmrin. Selbst in der Gefängniszelle war mehr Platz gewesen. Gleich nach Skhat kletterte er aus dem Loch, dann folgte Drahesk.

„Kommt zu Tisch“, meinte Skholopan zu seinen Gästen.

„Wir essen kurz und dann werdet ihr die Stadt verlassen.“

Sie folgten Skholopan ins erste Stockwerk, wo ein Tisch bereitstand. Jener war gedeckt mit Brot, geräuchertem Schinken, Käse und Pökelfleisch. Eine Schüssel mit Lebertran stand in der Mitte der Tafel.

Die Gäste setzten sich schweigend. Als Timmrin das Essen gierig begutachtete – er hatte seit Tagen nicht richtig gegessen – viel ihm als nächstes sofort das Besteck auf.

Es war kostbar graviert und blitzblank. Er wusste nicht genau, wie er Messer und Gabel richtig einsetzen sollte, als er schließlich mit den Händen nach einem Stück geschnittenem Schinken griff.

„Keine Angst, mein Junge! Iss, wie du magst, Hauptsache du wirst satt und kommst wieder zu Kräften.“

Diese Worte kamen aus dem Mund eines gut betagten, wie betuchten Mannes aus dem ersten Bezirk. Timm wusste nicht genau, wie er darauf reagieren sollte.

„Es tut mir leid, mein Herr. Ich bin nur mit dem Messer zu Essen gewohnt“, gab er zurück.

Im Augenwinkel sah er Skhat geschickt mit Messer und Gabel Teile vom Pökelfleisch abtrennen und auf seinen Teller manövrieren. Der alte Meister aß wie ein Mann von Stand, doch er kämpfte wie ein Schlechter. Wieder einmal sann Timmrin insgeheim über die Vergangenheit des Alten nach.

Was ihn allerdings noch mehr beschäftigte, war die Tatsache, dass sie hier saßen und aßen. Jeden Augenblick konnte die Garde das Haus durchsuchen. Jeder Augenblick, den sie verstreichen ließen, bedeutete ein hohes Risiko. Timmrin entschied sich, nicht nachzufragen, zu groß war der Hunger. Außerdem riet ihm seine innere Stimme, dass es das Beste wäre, auf Skhat und die anderen zu vertrauen.

„Mein Bruder Skholopan riskiert sehr viel!“, ergriff Skhat das Wort. „Wenn sie ihn erwischen, oder ihm nachweisen können, dass er uns Unterschlupft gewährt hat, verliert er an deiner Stelle seinen Kopf!“, Skhat sah scharf zu Timm hinüber.

Als Timmrin etwas sagen wollte, antwortet Skholopan an seiner statt: „Hör nicht auf meinen starrköpfigen großen Bruder! Er hat zu lange gekämpft für Könige, die ihr Volk zur Schlachtbank führen. Mich wird man nicht an einer solchen finden, denn ich habe immer meinen Weg gefunden – und überlebt.“

Timmrin war verwirrt. Weniger von dem Sinngehalt der Worte Skholopans, als viel mehr von den Altersangaben. Er hatte Skhat auf etwa fünfzig geschätzt, Skholopan auf Mitte sechzig.

„Ihr seid jünger als Skhat“, fragte Timmrin gerade heraus.

Skhat lachte leise, während sein jüngerer Bruder beherzt schmunzelte.

„Ja, das ist schwer zu glauben. Ich bin 55. Skhat aber wird bald 58 Jahre alt.“

Timmrin blickte ungläubig in die Runde. Drahsek kaute langsam, bedächtig und ungestört auf einem Stück Schinken.

„Verzeiht, Herr, ich wollte Euch nicht beleidigen mit meiner Frage“, entschuldigte sich Timmrin.

Skohlopan erwiderte: „Wer könnte dir das verdenken? Iss, Bursche! Und mach dir nicht so viele Gedanken. Morgen wirst du weg sein von hier. Und ich wünsche dir von Herzen, dass dich ein besseres Leben erwartet.“

Skholopans Stimme klang beruhigend. Er wirkte ausgeglichener als Skhat, obgleich auch er um sein Leben zu fürchten hatte. Skholopan schien voller Güte, die Timmrin in diesem Moment beinahe wie väterliche Zuwendung empfand.

Wenn er väterliche Strenge brauchte, so hatte er sie von Skhat zu erwarten und seid dieser ihn vor dem sicheren Tod gerettet hatte, versuchte er sie als solche anzunehmen.

Der alte Meister war widerspenstig und hart, er war erbarmungslos, aber machte ihn das zu einem bösen Menschen?

Timmrin aß langsam, weil er sich solche Fragen während der Mahlzeit immer wieder stellte.

Skhat schien selbst sein Alter bekämpft zu haben. Wieso konnte sich ein Mann in seinen Jahren derart schnell bewegen, mit einer solchen Kraft kämpfen. Etwas trieb ihn an, verlieh ihm Stärke. Doch was es war, galt es für Timmrin noch herauszufinden.

Die Stimme des Meisters riss ihn aus seinen Gedanken:

„Ich danke dir, Bruder. Den restlichen Schinken werden wir mitnehmen. Weißt du, wie du uns hier heraus bringen kannst?“

„Darüber reden wir nach dem Essen!“, entgegnete Skholopan.

„Ich fürchte nicht den Tod“, meinte Skhat zu seinem Bruder, „aber es wäre nicht recht, wenn du meinetwegen---“, er wurde von seinem Bruder unterbrochen: „Ich fürchte den Tod nicht mehr als du, auch wenn du es denkst, auch wenn ich kein Soldat bin. Ich bin, wie du, der Sohn eines Händlers – und kein erfolgloser. Schwinge ich auch nicht das Schwert, so ist die Klinge meiner Möglichkeiten vielleicht genauso scharf wie die deinige. Und glaube mir, ich habe deine Kinder öfter gesehen als du! Ich betrauere den Verlust meiner Neffen nicht weniger. Und ich werde dir helfen, koste es, was es wolle!“

Skholopan hatte diese Sätze sehr direkt an seinen Bruder gerichtet, der ihm fest in die Augen sah, aber nicht antwortete, nur langsam weiter aß.

Dann schwiegen sie und verzehrten fast alles, was Skholopan aufgetischt hatte. Schließlich fiel Timmrins Blick auf das außergewöhnliche Gewehr von Drahesk, das er neben sich an seinen Stuhl gelehnt hatte.

„Was ist das für eine Waffe?“, unterbrach er die gezwungene Stille.“

Drahesk antwortete ihm, nachdem er hinuntergeschluckt hatte:

„Es ist ein Repetiergewehr. Es kann mehrere Patronen schnell hintereinander abfeuern.“

Timm starrte ihm ungläubig in die Augen, richtete seinen Blick dann wieder auf die Waffe.

„Wie ist das möglich?“

„Siehst du den Kasten über dem Schloss?“, gab ihm Drahesk zur Gegenfrage.

„Ja.“

„Das ist ein Kastenmagazin.“

„Befinden sich darin Patronen?“

„So ist es. Immer wenn ich den Repetierbügel nach unten drücke, wird der Verschluss geöffnet. Dann fällt eine Patrone aus dem Magazin ins Schloss. Wenn ich den Hebel nach oben drücke, wird das Schloss wieder verriegelt. Dann spanne ich die Zündnadel mit dem kleinen Hebel an der Seite und die Waffe ist wieder feuerbereit. Sechsmal hintereinander kann ich damit einen Schuss abgeben.“

Timmrin musterte noch immer die Waffe. Mit dem langen Hebel über dem Abzug statt einem Abzugsbügel wirkte sie wie eine neuartige Form einer Armbrust. Auch war sie kurz gehalten und der Kolben, aus rötlichem Wurzelholz gefertigt, war merkwürdig verkrümmt, sowohl nach unten als auch leicht zur Seite.

Timmrin kannte sich nicht wirklich aus mit Waffen. Immerhin aber hatte er in einer Munitionsfabrik gearbeitet und die Materie war ihm nicht fremd.

Der Magazinkasten befand sich dort, wo eigentlich das Kimme oder Visier sitzen musste, was Timmrin unweigerlich zu einer Frage veranlasste: „Wie kann man mit dieser Waffe zielen, mit dem Kasten auf dem Schloss?“

„Ganz einfach“, antwortete Drahesk. „Siehst du hier: An der Seite des Schlosses sitzt ein aufklappbares Visier. Man muss nur wissen, wo man hin zielen muss, um zu treffen. Der Kolben ist leicht gekrümmt, damit man beim Anlegen besser durch das Visier blicken kann.“

„Wie kannst du damit treffen? Und wie kommen die Patronen in den Lauf?“, erkundigte sich Timmrin interessiert.

„Beide Fragen habe ich dir schon beantwortet. Im Magazin sind fünf Papierpatronen, eine Erfindung aus eurem Heimatland. Eine ist im Lauf. Bei jedem Repetieren fällt eine nach unten ins Schloss, das ich dann wieder schließe und die Nadel spanne. Auch dieser Zündnadelmechanismus stammt von euch. Der Erfindergeist meines Volkes hat diese Waffe weiterentwickelt. Hier, nimm es ruhig einmal in die Hand und sehe durch das Visier. Du wirst erkennen, dass es eine ausgezeichnete Waffe ist!“, mit diesen Worten übergab Drahesk langsam und behutsam Timmrin seine wertvolle Büchse, als Skhat dazwischen griff und die Waffe festhielt:

„Jetzt aber Schluss mit dem Unfug. Für so etwas fehlt uns wahrlich die Zeit! Skhat nahm seine Hand wieder vom Gewehr, das Drahesk zurück zog und wieder an den Stuhl lehnte.

„Und was dich betrifft, Timm“, fuhr der Meister fort: „Falls du deine Chance darauf nicht verbauen willst, dass ich dich nicht wegschickte, wenn wir hier heraus sind, dann tust du genau das, was ich dir sage: Vor allem aber fasst du keine Feuerwaffen an!“

„Sie ist nicht geladen, Skhat“, versuchte sich Drahesk respektvoll zu verteidigen.

„Spielt keine Rolle“, gebärdete sich Skhat. „Ich habe schon Leute gesehen, die sich beim Putzen ihrer Waffe erschossen haben, weil sie vergessen hatten, dass sich noch eine Kugel im Lauf befindet.“

Drahesk antwortete nur mit einem halb fragendem, halb verständnislosem Blick.

Timmrin war sich sicher, dass der Skalte nicht zu der Sorte Schützen gehörte, denen ein solches Malheur passieren konnte. Vielmehr war es Timmrin, den Skhat wohl für unfähig hielt, ein Gewehr auch nur in die Hände zu nehmen, ohne es zu beschädigen oder abzufeuern, was den jungen Mann erneut aufstachelte. Schon im nächsten Augenblick besann er sich auf die Gefahren, die eine Flucht aus Ersthafen mit sich brachte und dachte nicht weiter über Skhats Worte nach.

„Wie werden wir hier heraus kommen?“, formte Timmrin seine Gedanken zu einer Frage, „die Tore werden bewacht. Sicher werden die Gardisten jeden Eingang kontrollieren!“

„Aber nicht die Handelsschiffe“, warf Skholopan ein.

„Mein bescheidenes Handels- und Speditionsunternehmen steht im engen Kontakt mit den Dampf- und Segelschiffgesellschaften. Meine Waren, vor allem Trockenwildfleisch, das ich weiter nördlich ankaufe, wird auf die Inselgruppen im Süden gebracht. Nicht, dass dieses Geschäft noch lukrativ wäre. Aber das Vermögen unserer Familie wird noch eine Weile reichen, um die Menschen auf den Inseln zumindest zu unterstützen.“

„Die Inselbewohner?“, fragte Timm.

Es gab zahlreiche Inselgruppen in thamhallschen Gewässern, aber diese Menschen hatten ob des Fischreichtums nie Hungersnot gelitten.

„Warum lasst ihr Fleisch auf die Inseln schaffen und dies zu eurem eigenen Verlust?“

„Die Gewässer sind leergefischt. Das Monopol der Inselfischer wurde aufgehoben, um das Festland zu beliefern. Niemanden kümmert es, was mit den Menschen dort drüben geschieht. Die Felderträge wurden durch Fäulen zunichte. Meine Frau verstarb vor sieben Jahren krank und entkräftet, hier in Ersthafen. Sie war eine schwarzhaarige Schönheit von den Inseln. Ihr gab ich mein Wort, für die ihrigen zu sorgen, noch am Sterbebett.“

„Und nun exportiert Ihr ohne Gewinn?“, Timmrin war verblüfft.

„Ohne oder fast ohne. Das Vermögen der Familie wird noch eine Weile reichen und viele Jahre habe ich nicht mehr vor mir. Außerdem habe ich keine Kinder. Was Skhat betrifft, er hat sich lange von diesem Leben abgewandt. Wo er hingeht, wird er keinen Reichtum brauchen.“

Ob absichtlich oder nicht, Timmrin fiel auf, dass Skholopans Worte zweideutig waren.

„Genug geredet!“, beendete Skhat die Erzählungen seines Bruders, „wie im Detail sollen wir hier heraus kommen?“

Skholopan ergriff wieder das Wort: „Wenn es am dunkelsten ist, kurz vor dem Morgengrauen, erfolgt der riskanteste Teil der Flucht. Wir gehen hinunter zum Fluss bis zum Hafen. Ihr werdet Röcke und passende Kleidung von mir erhalten, damit ihr nicht auffallt. Ich werde euch auf einem Schiff unterbringen, dass im Morgengrauen auslaufen wird. Sein erster Halt wird Adlersfels sein. Dort werdet ihr das Schiff verlassen.“

„Die Stadt liegt am Fuße des Dorngebirges“, warf Timm ein.

„Vielleicht suchen wir uns dort ein Versteck.“

„Dort gibt es Schrate, nicht wenige, aber vielleicht ist diese Idee in Betracht zu ziehen“, gab Skhat zurück.

„Wir können nur hoffen, dass wir keinen Patrouillen begegnen auf dem Weg zum Schiff und dass die Leute uns nicht erkennen.“

„Die Männer der Schiffsbesatzung sind alles Fremde“, beruhigte ihn Skholopan. „Keiner von ihnen weiß von den Geschehnissen in Ersthafen. Außerdem gibt es noch keine Steckbriefe. Die wenigsten Leute hier, selbst die Soldaten, sind genau über euer Äußeres im Bilde. Ihr werdet außerdem andere Kleider tragen. Wir können nur hoffen, dass im Hafen keine Gardisten sind.“

Obgleich es ein gefährliches Unterfangen war und Skhat nur mzögerlich in das Vorhaben einstimmte, das auch für seinen Bruder große Gefahren barg, wurde Skholopans Plan angenommen.

Viel Zeit blieb ihnen nicht. Skhat, Timm und Drahesk sammelten für eine sehr kurze Weile ihre Kräfte, während sich Skholopan um die Kleider kümmerte.









Herbstfeuer

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