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Als Timmrin schließlich erwachte, dämmerte es bereits. Er schlotterte am ganzen Leib. Seine Zähne begannen zu klappern. Sogleich entledigte er sich seines Obergewandes. Hätte er länger dagelegen, wäre er wohl im Schlaf erfroren. Wollte er diesem Schicksal entgehen, so musste er laufen, sich bewegen.

Als er sich aufrichtete, musste er laut husten. Seine Brust schmerzte, seine Augen brannten. Sein entkräfteter Körper sehnte sich nur nach einem: Ruhe! Aber er konnte sie ihm nicht gewähren. Timmrin begann langsam zu gehen, sah sich um, doch er wusste nicht, wo er sich genau befand.

Schließlich konnte er ein Schild an einem Haus erkennen. Er wusste nicht, was darauf stand, weil er nicht richtig lesen konnte. Jedoch konnte er sich denken, dass es sich um eine Taverne handeln musste.

In den Bettler- und Arbeitervierteln waren solche Schilder aus Holz, dieses aber war ein feiner Kupferstich.

Das Händlerviertel war das einzige Viertel diesseits des Ghor, das sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen konnte. Dort vermutete er sich.

Die Wohlhabenden, die Reichen und die Aristokraten wohnten auf der anderen Seite des Flusses, im ersten Bezirk.

Timmrin war versucht an die Tür zu klopfen, doch erstens würde die Gaststube um diese Uhrzeit nicht geöffnet haben und zweitens lief er Gefahr, sich Menschen zu zeigen, so nass wie er war. Vielleicht konnte man Rückschlüsse darauf ziehen, dass er den Aufständischen angehörte, welche die Festung angegriffen hatten.

Andererseits, wer konnte zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, was sich heute an der Dukorbrücke zugetragen hatte?

Er entschied sich dennoch, weiter zu gehen. Trottend setzte er einen Fuß vor den anderen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tag vollends erwachte.

Leise Schritte auf dem Pflaster rissen Timmrin aus seinen Gedanken. Am Ende der Gasse, in der er sich befand, konnte er Gestalten erkennen, die allerhand schweres Zeug zu tragen hatten – offensichtlich aber keine Soldaten.

Er lehnte sich gegen eine Hauswand, verhielt sich still und ließ seinen Blick scharf über die herannahende Gruppe gleiten. Sie trugen allerhand große Netzte: Es mussten Fischer sein, die frühmorgens mit dem Bot zum Fang hinaus fuhren.

Sie waren nur noch wenige Schritte entfernt, als Timmrin mit einem Satz auf die Mitte der Straße sprang.

Die Schlaftrunkenen erschraken sichtlich. Einer wich mehrere Schritte zurück, riss seine Pfeife aus dem Mund und rief: „Donnerwetter! Was wollt Ihr denn?“

„Ich…ich bin in den Ghor gestoßen worden“ stammelte Timmrin hervor.

„Was?“, der Fischer mit der Pfeife, es war ein älterer Mann mit einem dichten, grauen Bart, ließ seine Netzte zu Boden fallen und musterte den Fremden.

„In Ghor reingefallen!“, mischte sich ein jüngerer ein, der ein wenig zurückgeblieben wirkte. „Reingefallen in Ghor! Hihihi, bin auch schon mal reingefallen!“

„Ruhe, Vater redet jetzt!“, unterbrach ihn der Alte schroff. „Soll mich der Frogger holen! Wer hat dich in den Fluss gestoßen?“

„Es waren Männer…Männer, die…das Ufer entlang rannten, als ob sie verfolgt würden“, stotterte Timmrin. „Ich hörte auch Schüsse. Ich blieb erschrocken stehen, wusste ja nicht, was los war. Dann plötzlich rempelte mich einer von ihnen im vollen Lauf an. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Fluss!“

„Du wurdest also angerempelt. Dann bist du in den Fluss gefallen, schön. Dann mach doch, dass du ins Warme kommst, oder willst du dir den Tod holen?“, die Mine des Fischers formte sich zu einer verständnislosen Grimasse. Sein Sohn sah zu ihm herüber und versuchte seine Gesichtszüge grotesk nachzuahmen.

„Nun“, gab Timmrin zur Antwort, „die Sache ist die: Ich komme aus dem Grubenviertel und ich habe kein richtiges zuhause. Es ist schwierig genug, bei dieser Kälte draußen zu überleben, doch wenn man so nass wie ein Fisch ist, wird’s unmöglich.“

Der alte Fischer lachte kurz, aber beherzt.

„Nun gut, scheinst mir ja heute wirklich kein Glück gehabt zu haben. Aber was zum Henker treibst du denn hier unten am Ghor und nicht in den Gruben, hä? Vor allem nachts.“

„Ich wollte meine Angel ins Wasser werfen, ich hatte Hunger, ich dachte ich könnte---“

Timmrins Worte wurden von einem mehrstimmigen Gelächter unterbrochen.

„Angeln im Kanal!“, der Fischer beugte sich vor Lachen nach vorn, biss fest auf seine Pfeife und stammelte amüsiert: „Hast du viele Fische gefangen?“, wieder lachten alle, bis auf der Dümmliche, der offensichtlich nicht ganz begriff, worüber sich die anderen derart amüsierten.

„Junge, du bist hier draußen wahrlich nicht sicher. Meinem Sohn hier würde ich mehr Verstand zugestehen als dir. Lurz, du bringst ihn nachhause zu uns und kümmerst dich drum, dass er es warm hat, bis wir heute Nachmittag wieder kommen. Hast du das begriffen?“

Der Dumme sah ihn mit weiten Augen an. „Bringe ihn zu uns heim! Dann machen ich ihm warm!“

„Du bringst ihn nur heim und sagst Mutter, sie soll dafür sorgen, dass er trocken wird. Er kann sich bis heute Abend aufwärmen“, der Fischer klopfte seinem Sohn auf die Schulter, hob das Netz auf und schritt unbeirrt weiter, die anderen musterten Timmrin noch eine kurze Weile. Einer fuhr ihn an: „Hast verdammtes Glück gehabt! Mach ja keine langen Finger zuhause beim alten Peat, sonst werfen wir dich morgen als Köder aus! In Stücken!“

Dann trottete er den anderen nach.

„Komm, wir gehen wieder heim, wo warm ist“, hörte Timmrin den Dummen hinter sich sagen und folgte ihm ohne zu zögern.

Timmrin hatte in den letzten Minuten mehr Lügen erzählt, als in seinem ganzen Leben zuvor.

Er blickte den Fischern noch einmal nach, dann folgte er Lurz weiter in dessen Heim.

Nach wenigen Minuten fand sich Timmrin in einer kleinen verkümmerten Wohnung im zweiten Geschoss eines uralten Hauses wieder. Im Vergleich zu seiner Arbeiterbaracke, die er sich mit einigen Leuten teilen musste, wirkte es auf ihn sehr gemütlich. Eine kleine, betagte Frau brachte ihm einige Decken und ein altes, schmutziges Lammfell. Sie gebot ihm, sich auszuziehen und auf der Küchenbank lang zu machen, während sie seine Kleider trocknen würde.

Timmrin wiedersprach mit keiner Silbe und während er sich zudeckte und er die alte Dame noch auf sich einreden hörte, spürte er, wie seine Augenlieder schwerer wurden. Nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.

Timmrin erwachte erst Stunden später vom Geräusch knarrender Türen und vernahm laute Männerstimmen. Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war Lurz, der schweigend wippend auf einem Stuhl dicht neben ihm saß und auf den Boden starrte. Dann erblickte er zwei der Fischer. Wieder hatte der Alte eine qualmende Pfeife im Mund, deren Geruch so furchtbar war, dass Timmrin beinahe erbrach.

Er hustete vom Rauch und setzte sich aufrecht hin. „Wie…wie spät ist´s?“.

„Weit nach Mittag!“, du musst ja ziemlich erschöpft gewesen sein, was?“, der alte Fischer trat an ihn heran. „Hehe, die Pfeife scheint dir nicht zu taugen, was? Ist Klee drin und Sumpfdisteln. Solltest das Zeug erst riechen, wenn ich Dämmerpilze dazu mische.“

„Ich…danke Euch, ich danke Euch sehr!“, rang Timmrin verlegen nach Worten.

„Von deinem Dank kann ich mir nichts kaufen“, gab der Alte in hartem Tonfall von sich. „Haben heute schon wieder dürftigen Fang gemacht! Außerdem danke lieber meiner Frau hier. Ich hoffe deine Kleidung ist halbwegs trocken geworden, denn ich muss dich jetzt fort jagen. Meine Familie und ich sind hungrig und wir haben genug Mäuler zu stopfen!“

„Nun lass ihn doch wenigstens eine Schale Suppe mitessen“, hörte Timmrin die Alte klagen.

„Er ist ja völlig ohne Kraft. So kannst du ihn doch nicht wegschicken!“

„Hab schon Schlimmeres getan“, gab der Fischer schroff zur Antwort. „Aber wenn du drauf bestehst…“

„Ja, ich bestehe darauf!“

„Dann habe ich sowieso keine Wahl“, entgegnete der Alte. „Würde mir die heiße Suppe lieber in die Ohren gießen, als deine Launen zu ertragen, wenn´s nicht nach deinem Willen geht.“

Dann wandte er sich wieder Timmrin zu: „Du kannst bleiben und ein paar Löffel Suppe bekommen. Aber dann siehst du zu, dass du Land gewinnst!“

„Ich danke dir“, entgegnete Timmrin leise.

Die Frau legte seine Anziehsachen auf den Tisch.

„Sie sind nicht trocken, aber auch nicht mehr ganz so nass“, auffällig drehte sie sich weg.

Timmrin, dessen Unterleib noch zugedeckt war, decke sich zögerlich ab und griff nach seinen Klamotten, um seine Scham zu bedecken. Hastig zog er seine Hose an, dann das Hemd. Die Kleidung war feucht, seine Wolljacke noch triefend nass. Den Schaal hatte er im Fluss verloren. Hastig knöpfte er die Tasche der Jacke auf und ja: Seine zwei Thamen waren immer noch darin. Das war alles Geld, das er bei sich hatte.

Die Dame des Hauses stellte einen heiß dampfenden Topf mit Fischsuppe auf den Tisch und verteilte kleine Holzschälchen. Behutsam begann sie mit der Kelle die Suppe zu schöpfen: Zwei halbvolle Kellen für jede Schüssel, danach war kaum noch Suppe im Topf. Timmrin bekam einen hölzernen Löffel und begann langsam zu essen. Die Suppe war brühend heiß, aber das machte ihm nichts aus.

„Wer heiß trinken kann, kann auch schweigen, sagt man“, der alte Fischer blickte Timmrin ernst ins Gesicht.

„Schweigen?“, fragte Timmrin.

„Nehmen wir an, du wurdest nicht in den Ghor gerempelt. Vielleicht hast du ja was ausgefressen… Wir haben heute erfahren, dass es einen Überfall auf die Kaserne gab.“ Timmrin erschrak innerlich. Die alte Frau blickte ihn verstört an. „Sei es drum“, fuhr der Fischer fort. „Wir sind dir jedenfalls nie begegnet, weder ich, noch meine Söhne, noch meine Frau. Hast du das begriffen?“ „Ja.“ „Gut. Dann lass uns essen.“ Als sie gegessen hatten, stand Timmrin auf, zog einen Thamen heraus und legte sich die nasse Jacke über die Schulter. Er wendete ihn einmal, legte ihn dann auf den Tisch und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich wollt, es wäre mehr. Ich danke euch.“ Der Fischer sah ihn anerkennungsvoll an, griff langsam nach dem Geldstück und schabte es vom Tisch. Timmrin wandte sich um und ging hinaus. Er fand sich wieder in der Kälte eines frühen Spätherbstabends. Bald würde es dämmern und zu allem Überfluss fiel leichter Graupel. Timmrin entschied sich, dass Händlerviertel zu verlassen und trottete davon in Richtung Arbeiterviertel.



Herbstfeuer

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