Читать книгу Herbstfeuer - Robert Ullmann - Страница 5

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Timmrin starrte in seinen Krug und atmete die heißen Dämpfe ein, die daraus aufstiegen. Er hatte seinen letzten Thamen hergegeben für einen Krug heißes Wasser mit Brandwein. Die Mischung war stark. Er wollte trinken, hustete aber vorher vom heißen Alkoholdunst und setzte den Krug wieder ab. Es war warm in der Taverne zu „Aller Herren“. Bei dem Wort Herren schien es sich wohl um einen schlechten Witz zu handeln, oder um eine sarkastische Aufwertung. Die Gäste hier sahen schäbiger aus und die Einrichtung war noch heruntergekommener als in den wenigen Gasthäusern im Arbeiterviertel, in denen Timmrin schon gewesen war. Er wollte schneller trinken, damit der Inhalt des Kruges nicht kalt würde, hielt aber nach einem kräftigen Schluck wieder inne. Wenn er nicht trank, würde man ihn früher oder später hinauswerfen und Geld hatte er keines mehr. Anschreiben ließen die Wirte hier nicht, schon gar nicht von Leuten wie ihm. Dieses Getränk musste also noch eine Weile vorreichen, denn jede Minute im Warmen, in der Timmrins Kleider weiter trocknen konnten, war für ihn von unbezahlbarem Wert. Er wärmte seine Hände am Tonkrug und blickte in den Raum. Die Pinte war gefüllt. All die armen Teufel aus den Fabriken, zu denen er eigentlich auch gehörte, vertranken ihre Tageslöhne. Unter ihnen waren auch Frauen. Die Arbeit der einfachen Fabrikarbeiter begann um 6 Uhr morgens und endete um 7 Uhr abends, wenn es keine Sonderschichten gab. Es war Samstag, der Tag, an dem viele ihren halben Wochenlohn in einem der schäbigen Trinkhäuser der Stadt verprassten. Timmrin hatte seine Anstellung vor zwei Wochen verloren. Er war dazwischen gegangen, als einer der Schichtführer einen Arbeiter mit einer lehren Schnapsflasche niedergeschlagen und dessen Gesicht in die Glasscherben am Boden gepresst hatte. Man hatte von dem jungen Mann abgelassen, der eigentlich ein Knabe von etwa vierzehn Jahren war. Timmrin aber hatte eine Tracht Prügel erhalten, die er heute, zwei Wochen später, noch deutlich in den Knochen spürte. Er selbst war schon 23 und eigentlich hatte er Glück, in der Fabrik eine „kriegserforderliche Arbeit“ zu verrichten. Die meisten jungen Männer in seinem Alter mussten an die Front und nur die wenigsten waren inzwischen noch naiv genug, diesen Dienst als eine Ehre zu betrachten. Jetzt, wo er seine Arbeit verloren hatte, würde es ihn auch bald treffen. Vielleicht würde er aber auch zeitnah an einem Galgen enden. Er wusste nicht, für welche Möglichkeit er sich entscheiden würde, hätte er die Wahl. Es war nicht unüblich, dass die Arbeiter in den Fabriken beschimpft, oft auch geschlagen wurden. Aber in letzter Zeit waren die Willkür und die Strafmaßnahmen brutaler geworden. Den Leuten ihrerseits blieb keine andere Wahl: entweder die Front, der Hunger, der Bergbau oder die Fabrik. Die letzten beiden Optionen blieben sich gleich. Am besten unter den einfachen Leuten ging es in diesen Tagen jenen, die einen ertragreichen Hof hatten, als Knechte und Erntehelfer dort arbeiteten oder das Fischereirecht besaßen. Freilich konfiszierte der Staat große Mengen der Ernte. Doch Nahrung wurde gebraucht, im Land, wie auch an der Front. Die Alten, die Kranken, die Krüppel, die Geistesschwachen, sie alle hatten in den Städten das gleiche Los zu tragen. Sie mussten in den Fabriken schuften. Und diejenigen, denen die Werke gehörten? Man hörte oder sah kaum etwas von ihnen. Hier in Ersthafen lebten sie im ersten Bezirk auf der anderen Seite des Ghor. Der Zutritt war nur Soldaten und „Ehrenbürgern“ der Stadt gewährt – Ehrenbürgern, die das Leben von gut dreiviertel der Stadtbevölkerung zu einer Tortur machten, die manche das Leben kostete. Die Arbeitsunfälle hatten sich gehäuft, die Löhne waren erneut gesunken, die Arbeitsbedingungen noch unerträglicher geworden. Aber warum? Timmrin und viele andere kannten die Antwort: Es war der Krieg, ein Krieg, der schon seit mehr als zwölf Jahren den Kontinent in Atem hielt. Waffen wurden gebraucht, Munition, Kleidung und Stiefel für die Soldaten. Doch obgleich er die Geißel vieler war, schien niemand wirklich etwas zu unternehmen, diesen Krieg zu beenden - im Gegenteil. Einige gingen freiwillig an die Front, weil es für sie attraktiver schien als die Arbeit in den Fabriken. Andere wussten, dass sie, wenn sie lebend zurückkehrten, wenngleich als Krüppel, wenigstens geringe Abfindungen erhalten würden. Freilich reichten diese nicht zum Leben, aber die sonst so kaltherzigen Aristokraten und Kapitalisten waren zumindest dann gewillt, einen Thamen in eine Bettelschale zu werfen, wenn ein Veteran dahinter saß - ein Soldat, der dazu beigetragen hatte, den Krieg weiterzuführen, dem sie Reichtum und Wohlstand verdankten. Veteranen war es gestattet, sich im ersten Bezirk aufzuhalten und auch dort zu betteln. Was neben den entstellten oder im Geiste gebrochenen Kriegsheimkehrern die Alten, die Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter oder die jungen Knaben und Mädchen betraf, die oftmals bereits von Kind auf in den Fabriken schufteten: Sie alle hassten den Krieg mehr als alles andere. Doch wer würde etwas unternehmen, der Hochkönig? Die Könige, die seine engen Berater waren und denen es an Besitz, Land und Investitionen nicht mangelte? Das Parlament, dessen Abgeordnete bestochen waren von den Besitzern der Fabriken und denen, die Patente auf Waffen besaßen, die zu tausenden hergestellt wurden? Nein, wenn jemand etwas bewegen würde, dann das einfache Volk. Und so kam es, dass sich mutige Männer versammelt hatten, um die Kaserne von Ersthafen niederzubrennen. Sie wollten ein Zeichen setzten, zeigen, dass sie es nicht länger hinnahmen, dass dieser Krieg das Leben so vieler zerstörte, die Ressourcen des Landes verschlang und es seiner Söhne beraubte – der Söhne Tamhalls. Die Wachen überrumpeln, die Fenster einschlagen, die Fackeln hindurch werfen und sich so schnell als möglich aus dem Staub machen - so der Plan. Freilich war es fraglich, ob die Kaserne überhaupt Feuer gefangen hätte. Die Rekruten in der Festung hätten sich in Sicherheit gebracht, vorher womöglich sogar noch das Feuer gelöscht. Aber es war im Grunde auch gar nicht darum gegangen, dachte Timmrin bei sich. Es war wohl das Ziel, das jeder von ihnen im inneren verfolgte, ein Feuer anderer Art zu entfachen, ein Feuer, das sich über ganz Tamhall ausbreiten sollte: ein Feuer in den Herzen der Menschen. Doch nicht viele würden überhaupt davon erfahren, was sich in jener Nacht zugetragen hatte. Die Soldaten hatten die Rebellen bereits erwartet und zusammengeschossen. Erklärung konnte es dafür nur eine geben: Verrat. Aber wer? Wer hätte dazu fähig sein können? Der Nachtwächter, ging es Timmrin durch den Kopf. Er hatte nicht viel zu gewinnen bei dieser Sache. Er musste sich nicht jeden Tag in eine Fabrik schleppen. Freilich, sein ältester Sohn sei im Krieg gefallen, sagt man. Aber stimmte das? Timmrins Gedanken konnten nicht länger um diese Verdächtigungen kreisen, zu groß war der Schmerz über den Verlust seiner Freunde. Ganz besonders musste er an Torek denken, der sich für ihn geopfert hatte. Er war tot, er musste tot sein. Sie alle mussten tot sein. Wenn es Überlebende gab, waren sie sicher gefangen genommen worden und ihr Schicksal besiegelt. Timmrin ballte eine Faust. Waren sie alle umsonst gestorben? Torek hatte sein Leben gegeben, damit Timmrin fliehen konnte. Das Gewissen des jungen Mannes ließ Gedanken aufkommen, die er bis jetzt verdrängt hatte. Nun fühlte er sich schuldig, weil er Torek nicht zur Seite gestanden hatte, obgleich es nur seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Er fühlte sich schuldig, weil die anderen, möglicherweise alle, gestorben waren, er aber lebte. Doch was nützte ihm das jetzt? Wäre er doch nur mit den anderen umgekommen, dachte er. Vielleicht wäre es besser gewesen. Allein hatte Timmrin keine Chance mehr etwas zu bewegen, oder seine Kameraden zu rächen. Er konnte ja noch nicht einmal mehr für sich selbst sorgen. Sollte er die Stadt verlassen, so wie es vor vielen Jahren einige Männer und Frauen getan hatten, um sich als Landstreicher und Waldläufer durchzuschlagen? Auf Landstreicherei stand Gefängnisstrafe und Gefängnis bedeutete in diesen Tagen meist den Tod. Nicht einmal die Bauern hatten reichlich zu essen oder die Ernteknechte, noch weniger die Handwerker. Dienstleister konnten sich meist nur dann über Wasser halten, wenn sie für die Oberschicht arbeiteten. Am wenigsten hatten die niederen Fabrikarbeiter und Bettler. Was blieb da für den im Kerker inhaftierten? Nichts als schmutziges Wasser und Reste! Die „Verlorenen“ finden, irgendwo da draußen, sich ihnen anschießen, überlegte Timmrin. Es waren hauptsächlich Männer und einige Frauen, die vor Jahren die Stadt verlassen hatten, um sich im Dorngebirge zu verstecken. Sie waren heute nicht mehr als eine halbvergessene Legende. Doch ein Mann, der neulich in die Stadt kam, um etwas Salz zu kaufen, hatte für Gerüchte gesorgt. Er habe furchtbar ausgesehen, hatte Timmrin vor kurzem aufgeschnappt. Sein wuchernder, verfilzter Bart und seine langen, halb ergrauten fettigen Haare sollen kaum noch etwas von seinem Gesicht zu erkennen gegeben haben. Barfuß, seine Kleidung zerfetzt und schmutzig, seine Hände vernarbt, so hatte man ihn beschrieben. Auf die Frage nach seiner Herkunft soll er zur Antwort gegeben haben: „Aus den Bergen. Dort bin ich zuhause“. Vielleicht ein verrückter Bettler oder einfach ein verkommener Vagabund? Vielleicht ein Verlorener? Das Dorngebirge war ein Küstengebirge, nicht so hoch wie die Schneeberge im Landesinneren, auch nicht besonders weitläufig. Menschen gab es wenige dort. Ein paar wenige Bergbauern hatten sich in den Tälern niedergelassen, dort wo es Bäche gab. Es war zu felsig für den Ackerbau. Nur Schaf- und Ziegenbauern gab es dort. Neben seiner geringen Urbarkeit existierte ein weiterer Grund, das Dorngebirge zu meiden - Die Bergschrate: graupelzige Wölflinge, die in merkwürdigen Zungen sprachen, die niemand verstand. Vor vielen Jahren soll es Menschen gegeben haben, die ihre Sprache erlernt hatten. Heute sind sie scheu geworden und dennoch können sie sehr gefährlich werden, heißt es vielerorts. Behaarte Menschenähnliche hatte es auch in den Wäldern einmal hunderttausende gegeben. Als große Waldflächen gerodet wurden, um Holz für den Schiffbau zu gewinnen, schwand ihr Lebensraum. Es hatte schon immer Konflikte zwischen Menschen und Wölflingen gegeben, in jener Zeit aber große Kriege. Die Menschen benötigten zu dieser Zeit immer größere Mengen an Holz für den Bau von Städten, als Heizmaterial, später zur Errichtung ihrer Fabriken. Gewehre sollten hergestellt, heute schließlich auch die neuartigen Dampfmaschinen angetrieben werden, die mancherorts den Ackerboden der Großbauern bearbeiteten. Als immer größere Mengen von Bäumen, darunter auch die heiligen Riesenbäume der Waldschrate gefällt wurden, kam es vor fast zwanzig Jahren zum letzten großen Aufstand des Waldvolkes. Die Clans vereinten sich und schwarze, braune, wie rote Wölflinge des Waldes und ihre Mischlinge zogen in den Krieg. Sie verübten mehrere Massaker und machten die Waldstadt Bunthain dem Erdboden gleich. Für die Millitärs Tamhalls aber bedeutete dieser Konflikt keinen wirklichen Krieg, sondern viel mehr eine Gelegenheit, die Effizienz neuer Feuerwaffen an den Tiermenschen zu erproben. Die Schrate hatten den Salven der disziplinierten Schützenreihen nichts entgegenzusetzen und so flohen sie tiefer in die Wälder. Heute leben einige von ihnen in kleinen Reservationen, die sie nicht verlassen dürfen. Das sind meist mittelgroße Waldstücke, die von Wiesen umgeben sind. Außerhalb dieser darf Jagd auf sie gemacht werden, so wie auf gewöhnliche Tiere. Viele schon verhungerten, weil sie nicht genug Wild zu jagen hatten und nicht genug Früchte des Waldes finden konnten in den kleinen Reservationswäldern. Einige heißt es, verließen Tamhall in Richtung Osten, andere seien in die Berge geflohen, zu den grauen Bergschraten. Selten verirren sich Soldaten oder Jäger in die höheren Lagen des kargen Felsengebirges, wo sonst nur Wölfe, Luchse, Bären, Gämse und andere wilde Tiere leben. Tiefer im Dorngebirge soll es einige Höhlensysteme geben. Vielleicht hatten sich die Verlorenen in einem solchen verschanzt. Aber wie überlebten sie da oben? Von was ernährten sie sich und wie erwehrten sie sich der Schrate? Timmrin begann diese Gedanken zu vertreiben. Es waren Märchen, dachte er. Diese Leute waren alle tot. Ihm wurde klar, dass er sich diese Geschichten zurechtmalte, um der kalten Wirklichkeit zu entfliehen, in die er hineingeboren war. Sein Leben war entbehrungsreich gewesen. Von Kindheit an hatte es nur Arbeiten, Schlafen und sich um seinen jüngeren Bruder Kümmern bedeutet. Sein Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter war krank geworden. Sein kleiner Bruder war ein Krüppel gewesen von Geburt an. Timmrin und sein Onkel Torek hatten versucht, genug zu verdienen, um die beiden zu versorgen. Uranze, Timmrins Mutter, war vor einigen Jahren an Kummer, gebrochenem Herzen, an Krankheit und Hunger gestorben. Und nicht ganz einen Monat war es nun her, da hatte auch sein kleiner Bruder Tammrin für immer seine kleinen, unschuldigen Augen geschlossen. Eine kleine Träne kullerte über Timmrins Wange – und wieder ballten sich ihm die Fäuste! Und wer hatte Schuld? Er wusste es genau. Er kannte ihre luxuriösen Kutschen, in denen sie sich durch die Stadt bringen ließen, wenn sie sich ins Arbeiterviertel wagten, um ihre Werkshallen zu besuchen. Sie waren stets umgeben von Leibwächtern: finstere Männer, bewaffnet mit vierläufigen Pistolen und Faschinenmessern. Timmrin hatte auch von ihren technischen, kostspieligen Entwicklungen gehört: dampfbetriebene Maschinen kolossalen Ausmaßes, welche Pflüge ersetzen sollten, Kutschen ohne Pferde. Luxuriöse Bauwerke gab es im ersten Bezirk: Saunen, Bäder, Bordelle und Räumlichkeiten, in denen sich die Fabrikanten und Aristokraten trafen - zum Rauchen, zum Trinken, um sich geschwollene, hochgestochene Reden anzuhören. Mancherorts, so sagt man, gingen sie auch widernatürlichen Gelüsten nach. Sie mussten vernichtet werden, allesamt! Das war es, was Timmrin sich ersehnte. Sein Hass war beinahe größer geworden als sein Kummer, seine Angst und Verzweiflung. Timmrin trank wieder, diesmal lehrte er den Krug. Der Schankwirt wollte zu ihm herüberkommen, da tat er schnell so, als würde er weitertrinken. Wäre er an die Front gegangen, dachte er. Vielleicht hätte er Kriegsbeute mitgebracht, vielleicht genug um seine Familie zu ernähren. Von frühester Kindheit an hatte Timmrin in der Fabrik gearbeitet, mit seinen kleinen Fingern filigran die Papierpatronen mit Pulver gefüllt. Er war so schnell und gut in dem, was er tat, dass er auch später weiter in der Fabrik arbeiten durfte und nicht an die Front musste. In solchen Fällen zahlten die Fabrikmagnaten geringe Summen an den Staat, um sich Arbeiter, die eigentlich in wehrfähigem Alter und Zustand waren, für die Produktion zu „erkaufen“. Diese Fähigkeit, die beinahe alles war, was er beherrschte oder gelernt hatte, brachte Timmrin jetzt nicht mehr weiter. Was gab es überhaupt noch, an das er sich klammern konnte? Vom Hass allein schien er sich in diesem Augenblick zu ernähren, das wusste er. Doch was würde der ihm nützen? Den Kampf wieder aufnehmen? Wer würde ihm zur Seite stehen? Er wusste ja noch nicht einmal, woher er ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen bekommen sollte. Es gab NICHTS mehr für ihn in dieser kalten, unwirtlichen Welt. Sein Onkel Torek war tot. In die kleine Arbeiterwohnung konnte er nicht zurück. Er teilte sie mit elf anderen. Mehr als die Hälfte von ihnen fehlten jetzt und würden nie wieder zurückkehren. Der Stadtgarde konnte das genügen, um Rückschlüsse zu ziehen. Sicher wurden bereits die Wohnungen hunderter Arbeiter nach Waffen durchwühlt und Verhöre angestellt. Vermutlich wurde der eine oder andere ausgepeitscht, weil er die Ermittlungsarbeiten unzureichend unterstützte oder sich das nicht zur Anzeige bringen geplanter Straftaten nahelegen ließ. Und wenn es Kameraden gab, die überlebt hatten? Vielleicht hatte es außer ihm noch jemand anders geschafft. Aber dies brauchte schon mehr als Glück, dachte Timmrin. Die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen je wieder zu sehen, war mehr als gering. Und wieder überkam ihn tiefe, beißende Trauer. Plötzlich wurde er vom raunenden Gesprächston zweier Männer aus seinen Gedanken gerissen. „Hast du das mitbekommen? Die aus den Gruben und ein paar andere sollen eine Revolte angezettelt haben.“ Timmrin hatte sich von all den lauten Stimmen im Wirtshaus nicht aus seinem inneren Monolog ziehen lassen. Doch gerade der verhaltene Flüsterton des Mannes alarmierte ihn. „Das waren die Schüsse oder, letzte Nacht?“, erkundigte sich der Gesprächspartner. „Ja. Man sagt, die Soldaten haben nur wenige Salven gebraucht. Mich wundert nur ganz gehörig, wie sich die Gardisten so schnell formieren konnten. Immerhin haben die Jungs ja noch nicht mal die Kaserne erreicht. Die wurden alle auf der Brücke erledigt, wie´s scheint.“ „Nun, das ist glasklar. Die wurden erwartet. Irgendeiner hat gequatscht und die Gardeschweine wussten schon vorher, was gespielt wird.“ „Reiß dich mal zusammen“, empörte sich der andere. „Du kannst nicht schwätzen, wie dir das Maul gewachsen ist.“ „Wie ich schwätze bleibt sich gleich, solange ich keinen einfältigen Dung von mir gebe, wie du.“ Sein gegenüber wollte etwas erwidern, hielt aber inne, weil sich seine Aufmerksamkeit plötzlich auf die Tavernentür richtete. Ein Mann trat herein. Er war sehr hoch gewachsen. Sein schulterlanges Haar war vollständig ergraut. In sein Gesicht hatten sich einige Falten gegraben. Auch Timmrin bemerkte ihn sofort. Er schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Der Fremde trug einen langen, grauen Wollumhang mit einer Kapuze, die nach hinten geschlagen war. Unter dem Umhang konnte Timmrin den Griff eines Schwertes hervorragen sehen. Der Alte zog seinen Mantel vor sich zusammen und schritt geradewegs auf den Tisch zu, an dem Timmrin saß. Die übrigen Tische waren voll. Nur Timmrin saß allein an seinem. „Habt Ihr noch Platz für mich?“, erkundigte sich eine raue, gelassene Stimme. „Das fragt man nicht in diesen Vierteln“, entgegnete Timmrin. „Ihr seid nicht von hier, oder? Setzt Euch.“ Dieser Mann war gewiss nicht von hier, oder jedenfalls gehörte er nicht in diese Viertel. Timmrin hatte das beinahe gleich erkannt. Er war hier aufgewachsen und wusste es einem anzusehen, ob er diesem Teil der Stadt entstammte. „Was darf es sein?“, der Wirt war an den Tisch herangetreten. „Ein Becher Wein“, gab der Fremde zur Antwort. „Und du?“, wandte der Wirt sich zu Timmrin, der sich weit über seinen Krug gebeugt hatte, um das leere Trinkgefäß zu verbergen. „Also, ich…“, stammelte er. „Du hast nichts mehr im Krug. Bestell oder sieh zu, dass du hier raus kommst! Wir sind hier keine Schlafstube!“ Timmrin wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, weil der Fremde sprach: „Gib ihm auch einen Becher.“ Ungläubig starrte der Wirt ihn an, nahm Timmrins lehren Krug und schlurfte zum Tresen. „Also…vielen Dank, mein Herr“, Timmrin blickte verlegen zum Spender. „Na sieh mal einer an. Ich bezahle dir einen Becher Wein und schon bin ich dein Herr“, der Atle lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „So…so war das nicht gemeint. Ich wollte höflich sein“, rang Timmrin nach Worten. „Vorher klangst du nicht ganz so höflich“, der Alte lächelte ganz unscheinbar. Sie schwiegen eine kleine Weile, bis Timmrin´s Neugier siegte: „Darf ich fragen, woher ihr kommt?“ „Von hier.“ „Das möchte ich bezweifeln.“ „Wer hat dir eigentlich Manieren beigebracht, willst du mich Lügner nennen?“ „Nein.“ „Dann überleg vorher, was du sagst!“ „Es ist nur so, Ihr…wirkt nicht wie einer aus diesem Teil der Stadt, auch nicht wirklich wie jemand aus dem ersten Bezirk.“ Der Fremde schwieg und nippte bedächtig an seinem Wein. Schließlich antwortete er: „Ich bin im Händlerviertel geboren und ich war der Sohn eines Händlers.“ „Verstehe, dass erklärt einiges“, Timmrin hatte sich schon wieder dabei ertappt, aufstachelnd zu werden. „Das erklärt nichts und jetzt trink deinen Wein und frag mir keine Löcher in den Bauch.“ Der Fremde wandte seinen Blick in die Gaststube, weil einige Männer aufgestanden waren. Sie sprachen leise miteinander und spähten auffällig zu dem Tisch, an dem Timmrin und der Fremde saßen. Nach einer Weile kamen die drei langsam auf sie zu. „Sir, das sieht nicht gut aus. Die wittern, dass Ihr etwas besser betucht seid. Ich will nicht unhöflich sein aber---“, der Fremde unterbrach Timmrin: „Habe ich nicht gesagt, du sollst deinen Wein trinken?“ Kaum hatte er zu Ende geredet, waren die Männer herangekommen. Einer ergriff das Wort: „Also das Schwert da, das Ihr versteckt…nun Ihr wisst vielleicht, dass der Besitz von Edelmetallen verboten ist. Sie sind dem Staat zu übereignen und…nun ja, Ihr müsst euch selbstverständlich keine Sorgen machen. Wir sehen gern über solche Kleinigkeiten hinweg: Aber auch wir müssen von etwas leben, versteht Ihr das?“ Der Mann war füllig, groß und breitschultrig. Seine beiden Begleiter weniger. Sein Gesicht hatte harte Kanten, die ein Bart um den Kiefer noch hervorhob. Der Alte erhob sich blitzartig, sodass die anderen unmerklich zusammenzuckten. Als er vor den dreien stand, machte sich bemerkbar, dass er seinen gegenüber in der Größe noch übertrumpfte. „Sieh zu, dass du wegkommst.“ Der bärtige Rowdy sah den Fremden plötzlich mit großen, zornigen Augen an. Sein vorher scheinfreundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich zu einer böswilligen, überlegenen Grimasse. Einen Augenblick standen sie so gegenüber, schweigend. Plötzlich hob der Kerl den Arm, um zuzuschlagen. Was dann geschah, hätte Timmrin nie gedacht: Der Alte riss reflexartig den linken Arm nach oben, blockte den gewaltigen Fausthieb seines Gegenübers mit scheinbarer Leichtigkeit. Fast gleichzeitig schnellte seine rechte Faust nach vorn, während sein Oberkörper eine leichte Drehung beschrieb. Die Faust des Alten traf das Kinn des Angreifers, der, nach hinten geworfen zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und liegen blieb. Blitzschnell griff der Alte mit der rechten hinter seinen Rücken und riss einen langen Dolch hervor. Als hätte er es gewusst, hatte auch einer der Angreifer zeitgleich nach einem Messer gegriffen – zu spät. Als er zustach, griff der Alte schon mit seiner Linken nach dem Handgelenk des Angreifers und stieß ihm seinen Dolch durch den Oberarm. Ein Blutschwall drang aus der Wunde und besudelte ihm Hals und Wange. Der Getroffene stieß einen Schmerzensschrei aus. Als der Alte den Dolch aus der Wunde riss, brach der Verletzte auf die Knie zusammen. Er war kreidebleich und schien nicht mehr ganz bei sich zu sein. Dann krachte sein Rumpf bewusstlos auf die Dielen des Bodens. Der dritte war schnell zurückgewichen und stand mit dem Rücken zum Tresen. Mit einem Satz sprang er am Fremden vorbei in Richtung Tür. Der aber wandte mit einer Handbewegung den Dolch in seiner Hand, sodass er ihn an der Klinge fasste. Dann sauste die Waffe durch die Luft und traf den Flüchtenden in die Kniekehle. Er stürzte noch im Lauf. Kurz darauf war es still im Raum, nur ein Wimmern war zu vernehmen. Der Verwundete versuchte sich aufzurichten, da stand der Alte auch schon hinter ihm. Er bückte sich und riss den Dolch aus der Wunde. Ein gellender Schrei bohrte sich in die Ohren der Zuschauer. Der Kerl kroch auf dem Boden weiter, schleifte sich in Richtung Tür. Der Alte trat vor ihn hin und öffnete sie weit. Mühsam richtete sich der Verletzte auf, schliff sein Bein nach und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht aus der Taverne. Beinahe alle waren aufgestanden, jeder Blick ruhte jetzt auf dem Fremden. Es war totenstill. Mit langen, schweren Schritten ging der Alte zu seinem Tisch, ergriff sein Glas und trank den Wein in einem Zug leer. Danach zog er seelenruhig fünf Thamen aus einer kleinen Gürteltasche und legte sie, einen nach dem anderen auf den Tisch. Seinen Dolch säuberte er am Hosenbein des noch immer bewusstlosen großen Kerls vom Blute und steckte ihn wieder an seinen Platz. Dann ging er, langsamer als nötig, zum Eingang und verließ die Taverne. Kaum war er hinaus, begann ein Raunen und Zischeln, dann wurde lauthals drauflos geplappert. Ein paar Männer eilten zu den Verwundeten. Timmrin aber griff nach seinem Glas, lehrte es in einem Zug, stand auf und rannte zur Tür, um dem Fremden zu folgen. Erst als er wieder draußen in der Kälte war, begriff er, dass er töricht handelte. Was versprach er sich davon? Es war, als ob ihm eine innere Stimme sagen wollte, dass er dem Alten folgen musste, weil sein Schicksal mit dem seinigen verwoben war. Vielleicht war es auch einfach die Überlegenheit und Stärke des hochgewachsenen Mannes, die Timmrin in seinen Bann zog. Schnell hatte Timmrin ihn eingeholt und blieb wenige Schritte hinter ihm stehen, der Fremde ebenso. Plötzlich riss er wieder seinen Dolch hervor und hob ihn zum Wurf. „Halt“, brüllte Timmrin und hielt beide Hände erschrocken vors Gesicht. „Ich will nichts von Euch!“ „Warum folgst du mir dann“, der Alte ließ den Dolch nicht sinken. „Ich…ich denke, Ihr seid nicht sicher hier“, Timmrin wusste in Wahrheit nicht, was er antworten sollte. „Sah das gerade so aus für dich, als ob ich mich nicht verteidigen könnte?“, der Alte klang noch immer gelassen und kühl. „War das wirklich nötig?“, stammelte Timmrin. „Ich habe mich nur verteidigt“, der Alte senkte langsam die Waffe. „Und die sterben nicht dran, jedenfalls mit etwas Glück nicht.“ Timmrin blickte dem Alten fest in die Augen, welche wie verrosteter Stahl ihren alten Glanz verloren zu haben schienen. Und doch konnte man darauf schließen. „Was wollt Ihr eigentlich hier? Wer seid Ihr und warum tragt Ihr dieses Schwert?“, er betonte die letzten Worte deutlich. „Was geht es dich an“, brummte der Gefragte. „Nichts, es geht mich gar nichts an.“ „Na also, dann sieh zu, dass du verschwindest!“ „Das werde ich nicht. Ich kann es auch gar nicht, wüsste nicht, wohin.“ „Und was kümmert mich das?“ „Das weiß ich im Augenblick noch nicht.“ „Was soll das, bist du besoffen?“, jetzt war ein gereizter Unterton in der ruhigen, tiefrauen Stimme des Alten. „Vielleicht braucht Ihr Hilfe? Ich kenne mich in dieser Gegend aus, bin hier aufgewachsen. Ich kann auf eure Sachen aufpassen, während ihr schlaft“, Timmrin rang merklich nach Argumenten. „Du hast ja eine blühende Fantasie“, spottete der Alte. „Sie zu, dass du Land gewinnst.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. Da brüllte Timmrin ihm nach: „Warum seid ihr hier, gegen wen werdet ihr kämpfen!“ Jetzt drehte sich der Fremde noch einmal um und ging ein paar Schritte zurück auf Timmrin zu. „Wer sagt, dass ich gegen irgendwas kämpfen werde?“ Timmrin schwieg ihn an. „Weißt du etwas über die wichtigen Persönlichkeiten der Stadt?“, erkundigte sich der Fremdling. „Was genau wollt Ihr von mir wissen?“ „Du bist nicht dumm und du hast Mut“, der Alte lächelte kurz und kaum wahrnehmbar. „Sag mir, wer der Kommandant der Kaserne ist und wer die Stadtgarde anführt.“ „Tarjeff von Tarzo führt die Heimatgardisten in Ersthafen. Der Name des Kommandanten der Dukor-Feste lautet Argahl. Seinen Vornamen kenne ich nicht.“ Als Timmrin den Namen Argahl aussprach, schien es aufzublitzen in den Augen des Fremden. „Das ist…interessant. Stellt sich jetzt nur die Frage, was DU von mir willst?“ „Euch begleiten“, antwortete Timmrin. „Ihr braucht sicher einen Gefährten, einen…Diener.“ Er musste sich überwinden, das auszusprechen. Der Fremde sah ihm eine ganze Weile in die Augen. „Und was sollen deine Dienste kosten?“ „Einstweilen nur ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit am Tag.“ Da gab ihm der Alte schließlich zur Antwort: „Du bleibst drei Schritte hinter mir, immer! Du sagst nichts. Du gibst nicht mal einen Laut von dir, wenn ich es nicht sage. Meine Sachen fasst du nicht an. Und wenn ich sage, du sollst verschwinden, dann verschwindest du.“ „Ganz wie Ihr wollt“, Timmrin war angespannt und erleichtert zugleich. „Wo werden wir hingehen? Wir müssen diesen Ort schnell verlassen.“ „Wir gehen nirgendwo hin“, korrigierte ihn der Alte. „Ich gehe ins Händlerviertel und du folgst mir. Dort werden wir uns Quartier für die Nacht suchen…und einen Ofen, um deine schimmelnde Jacke zu trocknen.“ Seine Jacke war nicht schimmlig. Und außerdem fand es Timmrin alles andere als nötig, wie der Alte mit ihm umsprang. Aber er wusste, dass es eine Chance bedeuten konnte und so trottete er ihm nach durch die finsteren Gassen zurück ins Händlerviertel, wo sie sich im Gasthof „zum alten Brunnen“ einmieteten. Es war noch vor dem Morgengrauen, als Timmrin erwachte. Erschrocken drehte er sich im Bett um - seine Erinnerungen hatten ihn in den Träumen eingeholt. Er wusste zuerst nicht, wo er sich befand, doch er spürte, dass es warm war, warm und behaglich. Er lag in weichen Daunen. Es war fast dunkel, nur der Schein einer Kerze warf etwas Licht in den Raum. In jenem Schimmer konnte Timmrin seinen Begleiter erkennen, der auf dem anderen der zwei Betten im Raum saß. Er hatte seinen langen Pallasch über die Beine gelegt und polierte langsam und bedächtig die Klinge des schweren Degens mit einem Tuch. Weil sein Oberkörper nicht bekleidet war, konnte Timmrin jetzt sehen, dass er sehr muskulös war. Eine kleine Narbe zierte die rechte Schulter und eine andere verlief quer über die Brust. Unter dem Kinn fiel Timmrin noch eine weitere auf, die sich knapp über dem Kehlkopf vorbei den Hals entlang zog. Timmrin wollte leise etwas sagen, schloss dann aber die Augen und schlief sofort wieder ein. Als er abermals erwachte, fiel Licht durch die Fenster. Er war noch nicht ganz bei sich, als er die Worte des Alten vernahm: „Für einen aus dem Arbeiterviertel schläfst du aber ganz schön lange. Steh auf, es gibt viel zu tun.“ Was der Alte wohl meinte. Timmrim war neugierig, es zu erfahren. „Hatte ich dich schon nach deinem Namen gefragt?“, wollte der Fremde wissen. „Ich heiße Timmrin Adom. Und Ihr?“ „Timm also!“ „Man nennt mich nicht Timm“, Timmrin gab sich Mühe, nicht gereizt zu klingen. „Und warum?“ „Mein Vater hieß Timmrol. Wir redeten uns immer mit vollem Namen an.“ „Aber dein Vater lebt nicht mehr, oder?“ „Nein, er starb im Krieg.“ „Dann werde ich dich Timm nennen.“ Timmrin war gereizt. Die Grobheit des Alten passte ihm nicht. Er war vielerlei Grobheit gewöhnt. Respektlos oder herablassend behandelt zu werden war auch alles andre als fremd für ihn. Aber dieser Kerl hatte nicht wirklich einen Grund so mit ihm umzuspringen. „Nun, nennt mich wie Ihr wollt. Darf ich Euren Namen auch erfahren?“ „Skhat heiße ich“, antwortete der Alte knapp. Timmrin fragte nicht weiter nach dem Zunamen. Außerdem glaubte er keinesfalls, dass der Mann Skhat hieß. Dieser Wortlaut konnte bestenfalls eine Abkürzung sein, die wohl für Skhator stehen musste. Der Fremde schien nicht viel über sich preisgeben zu wollen. „Steh auf und zieh deine Sachen an“, Skhat deutete auf den kleinen Tisch in der Ecke des Raumes, wo Timmrins Klamotten lagen. „Ich habe sie heute Nacht trocknen lassen unten in der Stube. Danach wirst du dich zu einem Schneider begeben und dir etwas zweckmäßigere Kleidung besorgen.“ „Zweckmäßig?“, fragte Timmrin. „Ja“, antwortete Skhat. „Du wirst für mich ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Ich will nicht, dass du dabei unnötig auffällst.“ „Ich habe kein Geld für Kleidung!“, Timmrin richtete sich im Bett auf. „Auf dem Tisch liegt ein Beutel. Der Inhalt sollte ausreichen, deine Ausgaben zu decken“, der Alte ging rüber zum Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Timmrin stand auf, ging zum Tisch und zog seine Sachen an. „Was genau soll ich für Euch tun?“ „Das ist einfach“, Skhat wandte sich zu seinem Gesprächspartner um. „Ich werde dir einen Orden geben: den eines Veteranen, den Silberzahn, ein Tapferkeitsorden! Du wirst ihn tragen.“ „Das…das ist gefährlich…und wird hart bestraft!“, Timmrin gab sich Mühe, über ein solches Angebot schockiert zu wirken. „Wie kommt Ihr überhaupt darauf, dass ich so etwas tun würde – das Gesetz brechen?“ „Welches Gesetz?“ „Was ist das für eine Frage?“ „Das Gesetz, dass den Schwachen unterdrückt und den Starken fett und träge werden lässt?“, der Alte klang wie immer ruhig, beinahe monoton. Timmrin setzte sich aufs Bett, dachte nach. Dann antworte er: „Gesetz ist Gesetz! Warum verlangt Ihr so etwas von mir und was soll ich überhaupt mit diesem Orden?“ „Mit ihm gelangst du in den ersten Bezirk.“ Timmrin wurde hellhörig. Das Reichenviertel, ein Ort, an dem er noch nie gewesen ist, noch jemals zu träumen gewagt hätte, ihn zu betreten, ein Ort, der auf ihn ebenso abstoßend wie faszinierend wirkte. Timmrin hatte sich oft vorgestellt, heimlich hinüber zu schwimmen und die hohe Kaimauer hinaufzuklettern, um hinein zu gelangen. „Was soll ich im Reichenviertel? Und warum wollt Ihr mich zur Straftat anheuern? Ihr begeht einen schwerwiegenden Verstoß in diesem Augenblick!“, Timmrin hatte die Gedanken der Neugierde vertrieben und sich die Risiken wieder vor Augen geführt – Gefängnis in Ersthafen, eine mit dem Tod gleichzusetzende Strafe. „Du bist hier, anstatt einer Arbeit nachzugehen, obgleich du gesund bist. Das ist doch richtig, oder?“, fragte Skhat. „Was hat das denn damit zu tun?“, Timmrin wurde ungeduldig. „Ganz einfach, du hast keine Lebensgrundlage. Wahrscheinlich bist du ohnehin ein Dieb oder ein Halsabschneider oder warum bietest du einem Kerl deine Dienste an, der vor deinen Augen drei Männer niedergestochen hat?“ Die Worte des Alten gaben Timmrin zu denken, aber gleichzeitig erzürnten sie ihn erneut. „Ihr nennt mich einen Halsabschneider? Ich habe gearbeitet wie jeder andere, bevor man mich rausgeworfen hat, weil ich nicht mit ansehen wollte, wie man einen Jungen misshandelt!“ Timmrin hatte diese Worte sehr laut ausgesprochen, beinahe gebrüllt. Skhat entgegnete kühl: „Aber nun hast du keine Arbeit mehr, keinen Verdienst.“ „Und Ihr glaubt, dass mich das zu einem Verbrecher macht?“, Timmrin wurde noch zorniger ob der Tatsache, wie ihn der Alte einschätzte. Skhat aber blieb gelassen: „Nein, das glaube ich nicht. Auch weiß ich, dass du kein Verbrecher bist. Du bist einfach ein Knabe, der keine Arbeit hat und außerdem wütend darüber, was dieses System ihm Tag für Tag antut.“ „Woher wollt Ihr das wissen?“ „Ich sehe es in deinen Augen. Ich kann deinen Zorn sehen!“ Timmrin schwieg. Der Alte fuhr fort: „Du botst mir deine Dienste an. Ich hatte dich nicht danach gefragt. Wenn du nicht willst, dann sieh zu, dass du hier rauskommst. Behalte das Geld, meinetwegen, aber wage nicht, jemandem von unserer Begegnung zu erzählen.“ Timmrin sah dem Alten in die Augen - Augen die nichts verraten wollten. „Ich weiß nicht, wie man redet, wie man sich verhält im ersten Bezirk. Was soll ich sagen, wenn man mich nach dem Krieg frägt?“ „Das gleiche, was die anderen erzählen“, lautete die Antwort. „Was du davon bereits gehört hast. Oder du sagst, dass du nicht darüber reden willst, nicht darüber reden kannst. Stell dich stumm oder blöd, was weiß ich. Vermutlich wird dich niemand danach fragen.“ „Sehr hilfreich!“, spottete der frisch getaufte Timm und ging rüber zum Tisch um einen Blick in den Beutel mit dem Geld zu werfen. Es waren zahlreiche Fünf- und Zehn- Thamenmünzen, insgesamt etwa 200 Thamen. Skhat schien nichts auf Papiergeld zu geben. „Den Rest kannst du behalten“, erwähnte dieser beiläufig. Selbst wenn Timmrin sich mit stattlicher Kleidung eindeckte, würde ihm knapp die Hälfte bleiben – eine beachtliche Summe. Er dachte nach. Wenn er es einfach tun würde? Mit etwas Glück hätte er etwas Geld und eine Grundlage für die nächsten Tage. Vielleicht würde er wieder Arbeit finden – oder noch besser, die Stadt verlassen. Mit diesem Geld konnte Timmrin sich Vorräte kaufen, gutes Schuhwerk. „Nun, was genau soll ich im ersten Bezirk in Erfahrung bringen?“ „Das ist einfach: Ich will wissen, wo sich Argahl aufhält. Ich will wissen, ob er in der Kaserne wohnt, oder ob er einen Wohnsitz im ersten Bezirk hat.“ „Wieso sollte er denn nicht in der Kaserne wohnen? Er ist der Kommandant!“ „Weil es ihm dort zu unbequem geworden sein könnte.“ „Unbequem?“ „Stell dich nicht dümmer als du bist. Was denkst du halten die Rekruten, die an die Front müssen, von einem Mann, der selbst seit Jahren keinen Fuß in eine Schlacht gesetzt hat? Noch dazu, wenn er ihr Kommandant ist?“ Timm nickte verstehend. „Genau“, fuhr Skhat fort, „sie respektieren ihn nicht. Argahl ist zwar ein Veteran, aber kein Krüppel, wie viele Heimkehrer, nie ernstlich verwundet worden.“ „Und deswegen soll er sich nicht sicher fühlen?“ „Deswegen und weil er nicht alle Leute gleich behandelt, nicht alle Rekruten, nicht alle Väter. Aber das waren genug der Fragen. Geh und kauf dir etwas zum Anziehen. Geize nicht dabei, aber leiste dir auch nichts zu Nobles, Sachen eben, die ein Veteran tragen würde. Wenn jemand nach Wunden fragt: Du brauchst nicht unbedingt welche gehabt zu haben - du bist auf Heimaturlaub. Die Beurlaubung wurde dir als Belohnung erteilt für deine herausragenden Dienste im Feld.“ Der Alte hatte diese Dinge so erzählt, als wären sie wirklich passiert. „Wie lange bin ich beurlaubt?“, fragte Timmrin. „Zwei Monate sind üblich in solchen Fällen, um die „Helden“ ausreichend in der Heimat zu präsentieren.“ „Das wäre alles?“, erkundigte sich Timm. „Nicht ganz. Besorge dir außerdem noch ein Messer für den Notfall. Trage es aber nicht im Stiefel oder übertrieben versteckt. Veteranen dürfen Blankwaffen offen tragen. Mit einer verborgenen Klinge erregst du nur Verdacht.“ Timmrin lief ein kalter Schauer über den Rücken bei dem Gedanken, wieder eine Waffe in die Hand zu nehmen. „Wo genau soll ich in Erfahrung bringen, was Ihr wissen wollt?“ „In den Tavernen, auf der Straße! Fang ein Gespräch an, welches du auf dieses Thema lenkst. Das wirst du ja wohl fertig bringen! Vermeide den Kontakt mit anderen Kriegsheimkehrern. Die werden dir schnell auf den Zahn fühlen.“ „Das hört sich alles sehr leicht an, wenn Ihr es sagt!“, Timmrins Beunruhigung war ihm anzumerken. Der Alte aber verabschiedete ihn ebenso kühl wie schonungslos mit den Worten: „Ich erwarte dich heute Abend hier, nach Sonnenuntergang. Viel Erfolg!“ „Danke!“, verabschiedete sich Timmrin mit ironischem Unterton, „Bis später.“



Herbstfeuer

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