Читать книгу Herbstfeuer - Robert Ullmann - Страница 3
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ОглавлениеDie Nacht war kalt, aber nicht klar - der Nebel so dicht, dass man glaubte ihn schneiden zu können. Die Gassen waren menschenleer, nicht ein Schritt zu hören auf dem Pflasterstein, da schlug die Glocke. Ihr Klang hallte durch die Straßen und Viertel der Stadt.
Ein Pochen an der Tür; ein zweites; ein drittes; dann Schweigen. Plötzlich pochte es wieder: einmal, zweimal, dann noch dreimalmal, schnell aufeinander folgend. Schließlich öffnete sich die Tür.
„Wer?“, zischte es. „Feuer im Mondlicht“, antwortete die tiefe Stimme eines jungen Mannes. „Kommt“, lautete rasch die Antwort.
Zwei Männer traten herein, in dicke Wolljacken gehüllt. Die Tür wurde zugeschlagen, Licht entzündet. Die Leute in der Taverne blickten in die fahlen Gesichter der beiden Ankömmlinge, die man im Schein der Laterne sehen konnte. Sie sahen erschöpft aus, doch blickten sie entschlossen und in den Augen des einen, sein Name war Timmrin, loderte ein Feuer, das ihn geradezu verzehrte.
„Es ist ruhig, aber dunkel. Der Mond scheint nur schwach. Niemand an der Brücke“, sagte er leisen Tones.
Alle schwiegen. Es waren vielleicht dreißig Männer in dem engen Gastraum versammelt. Einige trugen lange Messer im Gürtel, andere hielten Knüppel in Händen, die meisten eine nicht entzündete Fackel.
Wieder nahm Timmrin das Wort: „Brawek und Jarell sind unterwegs zu Toreks Männern. Wir sollen aufbrechen, wenn die Glocke schlägt. Wir treffen uns am Brunnen.“
„Dann los“, gab ihm sein Gegenüber zur Antwort – ein kleiner Mann in schmutzigem Schurwollmantel. Er hatte einen leichten Buckel, eine Halbglatze und trug einen langen Stab in der Rechten. Er mochte die fünfzig schon überschritten haben und auch ein Großteil seiner Mitstreiter schien die Blüte ihrer Jugend bereits hinter sich gelassen zu haben. Nicht wenige waren von kleinem Wuchs. Einer hinkte und wieder einer hatte nur noch eine Hand, die den Griff eines kurzen Entersäbels umschloss.
Knarzend öffnete sich die Tür und der Bucklige mit dem langen Stock in der Rechten, der Laterne in der Linken, trat als erster hinaus auf die Straße. Der Nebel war nicht mehr so dicht als vorher, die Kälte biss umso stärker.
Die Männer entzündeten ihre Fackeln, einige zogen Kapuzen über den Kopf oder setzten ihre Hüte auf. Timmrin grub sein Gesicht tief in seinen Schal und hielt seine Fackel nach oben.
Sie überquerten eine breite Straße, bogen in eine kleinere Gasse ab, flankiert von schäbigen Häusern ohne ein Fenster zur Straße hin. Als sie das Ende der Gasse erreicht hatten, wandten sie sich um und gingen durch das bronzene Tor. Sie kamen auf einen großen Platz, umgeben von hohen Fachwerkhäusern.
Jetzt waren sie nur noch wenige Schritte entfernt vom großen Ghor, dem Fluss, der die Stadt Ersthafen teilte. In seiner Mitte war eine Insel, die durch mächtige Rundbogenbrücken mit beiden Ufern verbunden war. Auf der Insel stand eine Wehranlage - die Feste Dukor, die Kaserne der Stadt, wo sie die jungen Männer hinbrachten, bevor sie sie als Rekruten an die Kriegsfront schickten. Von dort kehrten sie meist nicht wieder.
Die Männer verlangsamten ihren Schritt und blieben schließlich stehen. An einem Brunnen in der Mitte des Platzes saß ein in einen weiten Mantel gehüllter Mann und wartete. Als er die Gruppe gewahrte, erhob er sich, zog seine unter dem Mantel verborgene Laterne hervor und trat auf sie zu. In der anderen Hand trug er eine Helmbarte - die Lanze eines Nachtwächters. Die Männer empfingen ihn wortlos.
„Niemand auf der Brücke, wie´s scheint“, brach er das Schweigen. „Torek wird gleich hier sein.“
„Und die anderen Nachtwächter?“, erkundigte sich Timmrin leise.
„Telgor ist eingeweiht, wie ihr wisst. Die anderen beiden schlafen - Dämmerpilze im Weinbrand.“
„Gut. Und die Jungs aus den Gruben…?“
„…Werden bald hier sein.“
Sie warteten eine kurze Weile. Bald darauf kamen andere Männer durch eine kleine Gasse auf den großen Platz hinaus. Es waren ihrer etwa fünfzig.
„Das sind Toreks Männer“, flüstere Timmrin zu dem alten Buckligen. Die Männer stießen leise hinzu, einige begrüßten sich mit gedämpfter Stimme.
„Wo bleiben die Jungs aus dem Grubenviertel?“, zischte der Alte halb zu sich selbst. Einen Augenblick später tauchten weitere Männer, etwa drei Dutzend, lautlos hinter einer Hausecke auf.
„Da kommen sie ja, die halben Portionen“, raunte ein hoch gewachsener Kerl.
„Kann nicht jeder ein Schmied sein und breit wie zwei“, gab einer der Ankömmlinge zurück.
„Torek?“, der alte Bucklige drehte sich suchend um.
„Ich bin hier!“, erwiderte eine leise, rauchige Stimme.
„Es sind alle gekommen, auf die man zählen kann.“
„Diese paar?“, empörte sich der Bucklige.
„Es wird reichen müssen“, entgegnete Torek. „Wir legen das Feuer und geben Fersengeld.“
Torek bekam nur ein missmutiges Knurren zur Antwort.
„Jetzt im Sturm!“, flüstere Timmrin ungeduldig. „Wir haben nur diese Chance!“
Da klemmte sich der Alte langsam seinen Stab zwischen die Achsel, hob seine Laterne so hoch er konnte und schritt eilends voran. Die anderen folgten ihm.
Bald waren die jüngeren, die schnelleren an der Spitze und erreichten die Brücke.
Als sie das Tor der Festung am Ende des Brückenbogens beinahe erreicht hatten, stoppte Timmrin in vollem Lauf und brüllte: „Halt!“
Einige hielten, einige liefen weiter. Doch bremsten auch sie und blieben stehen, als sie sahen, dass die Tore der Kaserne sich öffneten.
Einen Augenblick lang standen sie da wie erstarrt. Eine vorüberziehende Nebelschwarte trübte die Sicht.
Und dann sahen sie sie, die Soldaten, blickten in die Gewehrläufe zweier starrer Schützenreihen, die sich hinter dem Tor postiert hatten. Und während bereits die ersten der Festung den Rücken kehrten und davon rannten, andere sich zu Boden warfen und wieder andere noch immer regungslos, dem Tor zugewandt wie gefroren stehen blieben, wurde das Feuer eröffnet.
Etwa ein Dutzend waren es, deren Körper getroffen auf dem Brückenpflaster aufschlugen. Jene, die stehen geblieben und nicht getroffen waren, kehrten um und rannten. Die zweite Salve krachte und sie forderte ihren Tribut. Die meisten Flüchtenden hatten bereits den Bogen der Brücke überschritten und waren den Gewehrkugeln der Soldaten entronnen.
Timmrin grub seine Fingerspitzen zitternd in die Ritzen im steinernen Pflaster, während er regungslos auf der Brücke lag. Jede Sekunde wurde lang wie ein Menschenleben, in welchem er sich schlagartig nur noch als passiver Zuschauer fühlte.
Die dritte Salve krachte. Eine Kugel schlug direkt neben seinem Kopf ein. Kleine Steinsplitter schlugen ihm ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien alles wie ein Alptraum – die Fähigkeit, selbst zu handeln, oder etwas zu beeinflussen, ihm abhandengekommen.
Dann öffnete er seine Augen und sah in die des alten, buckligen Mannes, der neben ihm lag. Er zwinkerte, doch schien sein Geist nicht mehr bei ihm zu sein. Sein Mund öffnete sich und ein Blutstrom ran hervor, gesellte sich zu all dem Blut auf dem Brückenpflaster.
Und dann krachten wieder Schüsse. Aber sie kamen nicht von den Soldaten am Tor, sondern aus der anderen Richtung. Timmrin hörte Schreie, die Schreie seiner Kameraden, die geflohen waren. Als sie verklangen, drang Kampfeslärm an sein Ohr.
Man hatte sie abgefangen, in eine Falle gelockt. Die Soldaten mussten sich verschanzt haben in einem der Häuser, um rechtzeitig zuzuschlagen und die Flüchtenden von der anderen Seite der Brücke aus unter Feuer zu nehmen.
Wieder schloss Timmrin die Augen und war gewillt, liegen zu bleiben, aufzugeben. Ein Gefühl des Loslassens mischte sich mit der Angst, in die Hände seiner Feinde zu geraten.
Dann schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Verrat! Timmrin ballte die Fäuste, erhob sich und hielt sich an der Brückenmauer fest. Schüsse krachten. Eine Kugel schlug unweit seiner Hand in die Mauer ein. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz auf die Mauer, rollte sich ein Stück zur Seite und stürzte im freien Fall in den Ghor.
Die Wasseroberfläche verschloss sich glucksend über ihm, als der Fluss ihn verschlang.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Auftrieb einsetzte. Schließlich tauchte er wieder auf, japste nach Luft, sich mit wilden Schlägen über Wasser haltend.
Neben ihm sah er einen Gefährten von der Brücke stürzen: ob tot oder noch am Leben, konnte er nicht erkennen.
Vereinzelt knallten noch immer Schüsse. Wieder stürzte ein Mann von der Brücke unter einem markerschütternden Schrei ins Wasser. Timmrin wandte sich ab und begann zu schwimmen, mit gleichmäßigen, aber schnellen Bewegungen: so schnell er konnte, soweit er konnte.
Die Schreie vom Ufer her ebbten nicht ab, wieder knallten Schüsse. Timmrin beschleunigte seine Bewegungen noch weiter und verlangte seinem Körper alles Erdenkliche ab.
Einen Augenblick lang glaubte er sich im warmen Wasser eines Moorweihers.
Als Kinder waren sie in einem solchen Gewässer oft um die Wette geschwommen, das von der Sonne heißer Sommertage aufgeheizt war. Und für diesen Moment schien es, als würde er alles hinter sich lassen. Sogar diesem Augenblick würde er entschwinden, diesem eiskalten Spätherbstabend. Und als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Brücke nicht mehr. Jetzt wurde ihm schwindlig, ja beinahe schwarz vor Augen. Sein rechter Arm krampfte und es kostete ihn seine letzten Kräfte, sich über Wasser zu halten.
In einiger Entfernung konnte Timmrin jetzt plötzlich die Lichter eines großen Hauses sehen. Sie stachen wie Speere durch den dichten Ufernebel und die Silhouette begann langsam den Umriss einer Halbinsel zu zeichnen, auf der das Gebäude stand.
Timmrin schwamm darauf zu. Bald hatte er einen kleinen Strandabschnitt erreicht, an dem es keine Kaimauer gab. Seine Glieder bewegten sich mit letzter Kraft, ihn verzweifelt auf der Wasseroberfläche vorwärts tragend, als er plötzlich feststellte, wieder Boden unter der Füßen zu haben.
Ungläubig starrte er auf die Wasseroberfläche und wankte langsam in Richtung Ufer. Kaum hatte er das Land erreicht, brach er zusammen, verlor sein Bewusstsein.
Nach wenigen Augenblicken wachte er auf, zuckte zusammen. Plötzlich hörte er Stimmen. Unweit entfernt war das Licht einer Laterne zu erkennen. Da legte er seinen Kopf mit dem Gesicht zur Erde und auch seine Handflächen. Er atmete kaum, bewegte sich keinen Deut, hatte seinen Herzschlag bis auf das Nötigste gesenkt. Dann hörte er Schritte kommen und eine Stimme sagen: „Er war hier, hab ihn doch planschen hören.“
„Ich habe gar nichts gehört“, antwortete eine andere Stimme gereizt. „Hier ist nichts.“
„Vielleicht weil du taub bist! Lass uns den Strand absuchen“, beharrte der erste.
Sie mochten noch drei oder vier Schritte entfernt gewesen sein. Timmrins Herz pochte so fest, dass er meinte, es durchschlüge ihm die Brust. Schließlich sprang er auf, um zu fliehen.
„Halt!“, hörte er es brüllen. Als er sich umdrehte, sah er, wie einer der Verfolger - es waren Soldaten - seine Büchse anlegte um zu schießen. Timmrin warf sich noch im Lauf zu Boden.
Ein Schuss krachte. Mit aller Kraft riss Timmrin seinen Körper hoch, wollte weiter rennen, blieb aber wie erstarrt stehen, als er in die Mündung des Gewehrlaufes des anderen Soldaten blickte.
„Besser du bewegst dich nicht, oder ich schicke dir eine Kugel durch den Wanst, Rebell!“, der Soldat hatte den Hahn gespannt, legte den Finger an den Abzug.
„Na los, Herkommen! Wird´s ba---“, er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der Soldat zuckte plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, kippte vorn über und stürzte regungslos zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein langes Messer. Erschrocken riss der andere Soldat sein Gewehr herum und blickte nach dem Angreifer, der blitzschnell von hinten auf ihn zu raste.
Mit der rechten Hand nach dem Verschluss seines Gewehrs greifend, versuchte der Schütze zunächst, nachzuladen, doch ihm blieb keine Zeit. Im letzten Augenblick fasste er es am Schaft, um schreiend mit dem Gewehrkolben zuzuschlagen.
Als der Schlag erfolgte, war sein Gegner schon zu nah, als dass er ihn hätte niederstrecken können. Der Heranstürmende blockte den Hieb mit den Armen, packte das Gewehr und riss es mit einem Ruck dem Soldaten aus den Händen. Im nächsten Augenblick rammte er ihm den Lauf zwischen die Rippen, dass dieser nach Luft ringend zusammenbrach.
Timmrin war mit wenigen Schritten bei dem Angreifer und erkannte sofort die hoch gewachsene Gestalt mit dunklem, zerzausten Haar, dessen silberne Strähnen im Mondlicht glänzten.
„Torek!“, entfuhr es ihm.
Doch kaum konnte der Gefährte antworten, waren wieder Stimmen zu hören, dann Schreie: „Dort! Dort drüben!“
Torek wandte sich von ihm ab und nahm das Gewehr, das er noch immer in Händen hielt, wie eine Keule mit dem Kolben nach oben. Dann wandte er seinen Kopf noch einmal, ein letztes Mal zu Timmrin und brüllte aus vollen Lungen: „Lauf! LAUF!“
Einen Augenblick später rannte Timmrin, so schnell ihn seine Beine trugen. Er hörte einen Schrei, gefolgt von einem Schuss. Dann konnte er wieder die Rufe der Verfolger vernehmen.
Wie er sie verfluchte, diese Soldaten und ihre Gewehre! Doch obwohl er glaubte, sicher jeden Augenblick tot umzufallen und wie ein lebloser Sack auf dem Boden aufzuschlagen, obgleich er überzeugt war, dass seine brennenden, keuchenden Lungen ihm jeden Augenblick den Dienst versagen würden, rannte er. Und er rannte so lange, bis er keine Rufe mehr hörte, keine Verfolger. Schließlich sank er an einer Hauswand auf den Pflasterstein nieder, um in einen Schlaf zu fallen, der so tief war, dass wer ihn sah, hätte glauben müssen, er wäre tot.