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Phantom im Scheinwerferlicht Eine Einführung von Oliver F. R. Haardt

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Über Bismarck wissen wir nahezu alles – und doch fast nichts. Mit der Ausnahme Adolf Hitlers gibt es keine Persönlichkeit der modernen deutschen Geschichte, über die so viel geschrieben worden ist, wie über den „Eisernen Kanzler“. Einen klaren Blick auf diese historische Schlüsselfigur haben wir dennoch nicht. Sie ist umgeben vom dichten Nebel eines vielschichtigen Mythos, der schon zu ihren Lebzeiten heraufgezogen ist, sich seitdem immer wieder verändert hat und sich bis heute hält. Die Geschichtswissenschaft hat mindestens genauso viel dazu beigetragen, diesen undurchsichtigen Schleier zu verdichten, wie dazu, ihn zu durchdringen. In den vergangenen anderthalb Jahrhunderten haben Historiker – häufig von politischen Motiven geleitet – die historische Person und ihr Werk immer wieder neu gedeutet. Die borussischen Historiker des Kaiserreiches beschrieben Bismarck als heroischen Reichsgründer, der mehr oder minder im Alleingang die historische Mission der preußischen Monarchie zur Vereinigung des deutschen Nationalstaates erfüllte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich diese Verherrlichung fort. Die meisten Historiker der Weimarer Republik hielten am Leitbild der Monarchie fest und glorifizierten Bismarck als staatsmännisches Genie, das ein Vorbild dafür bot, wie das durch die Kriegsniederlage und den „Schandfrieden“ von Versailles geschmähte Deutschland wieder zu nationaler Größe geführt werden könne. Die Geschichtspropagandisten des Dritten Reiches trieben diesen nationalistischen Ansatz auf die Spitze, indem sie Bismarck völkisch umdeuteten und ihren Führer als seinen Erben darstellten.1

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten Historiker angesichts der Katastrophe, in die die Geschichte des deutschen Nationalstaats jüngst gemündet war, das Leben des Reichsgründers neu zu bewerten. Dabei verfolgten sie sachlichere, weniger nationalistische Ansätze als in der Vergangenheit, hielten aber das überwiegend positive Bismarckbild aufrecht. Die erste Bismarck-Biographie nach dem Krieg, die Wilhelm Mommsen 1959 vorlegte, setzte gleich den entsprechenden Ton. Angloamerikanische Historiker begannen dagegen, die widersprüchliche Persönlichkeit Bismarcks mithilfe der Psychoanalyse auseinanderzunehmen, allen voran der große A. J. P. Taylor. In den 1960er und 1970er Jahren verdrängte der Aufstieg der Sozialgeschichte vorübergehend die Beschäftigung mit der Person Bismarcks. Stattdessen rückten die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Strukturen in den Vordergrund, innerhalb derer Bismarck – wie jedes andere Individuum auch – agierte.2

Anfang der 1980er Jahre erwachte die biographische Forschung zu Bismarck wieder aus ihrem Winterschlaf. Seitdem haben sowohl deutsche als auch internationale Historiker alle paar Jahre umfangreiche Studien vorgelegt, in denen sie mithilfe neuer Forschungsansätze aus der Politik-, Sozial-, und Kulturgeschichte Bismarcks historische Rolle unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten kritisch durchleuchtet haben. Auf diese Weise ist in den vergangenen fünfzig Jahren eine große Vielfalt an unterschiedlichen Interpretationen entstanden, die in der Regel die Vielschichtigkeit des Staats- und Privatmannes, des Preußen und Deutschen, des Genies und – wie der Publizist Johannes Willms titelte – „Dämons“ betonen. Drei besonders berühmte Beispiele müssen hier genügen. In seiner mittlerweile zu einem Klassiker des deutschen Bildungskanons aufgestiegenen Bismarck-Biographie hat Lothar Gall 1980 einen „weißen Revolutionär“ porträtiert, der zum Erhalt und Ausbau der preußischen Monarchie angesichts der wachsenden Kräfte des Parlamentarismus und des Nationalismus den Status quo der deutschen Verhältnisse vollkommen umkrempelte. Der ostdeutsche Historiker Ernst Engelbert hat Bismarck dagegen im Einklang mit dem marxistischen Geschichtsnarrativ der DDR kurz vor der Wiedervereinigung als einen realpolitischen Erneuerer gezeichnet, der die Arbeiterklasse aufgrund seiner Wurzeln im preußischen Junkertum zwar nicht verstand und sie politisch verfolgte – Stichwort: Sozialistengesetze – , ihr aber gleichzeitig mit der Gründung des Nationalstaates die Plattform für ihren weiteren Aufstieg schuf. In einer erst vor wenigen Jahren erschienenen und seitdem viel beachteten Biographie hat Jonathan Steinberg Bismarck schließlich als einen „Magier der Macht“ beschrieben, dem man sich nur über seine widersprüchliche, von Emotionen zerrissene Psyche nähern kann.3

Angesichts dieser großen Bandbreite an Deutungen, die die Geschichtswissenschaft in den letzten anderthalb Jahrhunderten zum ersten deutschen Kanzler hervorgebracht hat, gibt es heute nicht nur einen Bismarck, sondern viele. In einem Artikel zum Thema „100 Jahre Bismarck-Biographien“ hat die in England lehrende Historikerin Karina Urbach diese Tatsache schon 1998 treffend beschrieben: „Mindestens sechs Generationen sind über Bismarcks Leben unterrichtet worden, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass fast jede zweite deutsche Generation eine andere Version von Bismarck kennengelernt hat.“ Die Frage bleibt also: Wer und was war Bismarck eigentlich? Wie Urbach überspitzt formuliert hat, gibt es in der historiographischen Debatte „zwischen Heilsbringer und Bösewicht“ nahezu jede Interpretation. Bemerkenswert ist dabei vor allem eines: Unser Bild von Bismarck ist mit der Zeit nicht klarer, sondern eher undeutlicher geworden. Je mehr Historiker die plumpe Verherrlichung früherer Jahre zurückgelassen und auf der Basis sauberer Quellenarbeit ausgewogenere Urteile gefällt, das heißt, nicht nur unhaltbare Apotheosen, sondern auch vorschnelle Verdammungen vermieden haben, desto komplexer ist die historische Figur geworden, die sie schildern. Der Nebel um den Reichsgründer hat sich gewissermaßen nicht gelichtet, sondern nur seine Gestalt geändert. Aus dem Dunst der mythischen Glorifizierung ist der Schleier widersprüchlicher Interpretationen geworden, die versuchen, den Mythos zu dekonstruieren. Dieser Substanzwandel ändert aber nichts an der Wirkung des Nebels: Die Person, die sich hinter ihm verbirgt, bleibt weiterhin ein Phantom, nach dem Historiker mit immer neuen Methoden fahnden, ohne es endgültig zu fassen zu bekommen.4


Bismarck mit den Diplomaten (v. l. n. r. Heinrich Abeken, Robert von Keudell, Rudolf Delbrück, Paul Graf von Hatzfeldt, Friedrich Alexander Graf von Bismarck-Bohlen). Aus einer Serie von Gruppenbildern zur Kaiserproklamation am 18. Jan. 1871 in Versailles.

Dieses Problem liegt in der Natur der Sache. Ob der vielschichtigen, vermutlich bipolaren Persönlichkeit Bismarcks, der komplexen Umstände seines Wirkens und des widersprüchlichen Charakters des Reiches, das er schuf, werden wir je nach Blickwinkel immer ganz verschiedene Umrisse seiner Person ausmachen. Der Ausschnitt dessen, was wir im Nebel erblicken können, ändert sich gewissermaßen mit jedem neuen Ansatz und mit jeder neuen Erkenntnis. Die gesamte historische Figur wird aber stets so schemenhaft bleiben, dass sie immer auch ganz anders interpretiert werden kann. Alles, was wir daher tun können, ist, uns dem Phantom immer wieder neu zu nähern, dabei unseren Blick zu schärfen und so zu versuchen, die Konturen, die wir im Nebel erkennen, so genau wie möglich nachzuzeichnen. Die Brille, durch die wir dabei schauen müssen, um überhaupt etwas zu sehen, sind die historischen Quellen, die Bismarck und sein Umfeld hinterlassen haben. Besonders aufschlussreich sind dabei die Erinnerungen der Leute, die eng mit Bismarck zusammengearbeitet haben. Denn sie geben uns die Chance, den „Steuermann“, der den deutschen Staat auf dem „Strom der Zeit“ manchmal mit und manchmal gegen die Strömung durch die Wellen und Wogen lenkte, wie Christopher Clark argumentiert hat, aus der Perspektive seiner wichtigsten Crewmitglieder zu betrachten.5

Zwei besonders wichtige derartige „Logbücher“ über Bismarck und seinen politischen Kurs gibt die Wissenschaftliche Buchgesellschaft nun anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung neu heraus: die Aufzeichnungen Robert von Keudells über Fürst und Fürstin Bismarck und die Bismarck-Erinnerungen Robert Lucius von Ballhausens. Wer waren diese beiden Männer? Und was können uns ihre autobiographischen Schriften über Bismarck sagen? Anders gefragt: Inwiefern können sie uns dabei helfen, ein klareres Bild von dem Phantom im Nebel zu erhalten?

Robert von Keudell wurde 1824 in Königsberg in eine wohlhabende Offiziersfamilie geboren. Sein Vater Leopold (1769–1831), Spross eines alten hessischen Adelsgeschlechts, diente als Major in der preußischen Armee, seine Mutter Wilhelmine (1789–1848) war die Tochter des preußischen Generalmajors Gottfried von Hartmann (1738–1807), der in den Revolutionskriegen gegen Frankreich mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet worden war. Die sicheren finanziellen Verhältnisse seines Elternhauses erlaubten Robert, von Kindheit an seinen musikalischen Interessen nachzugehen. Während seiner Studienzeit in Heidelberg und Berlin, wo er eine rechtswissenschaftliche Ausbildung absolvierte und Mitglied mehrerer Studentenverbindungen war, entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Konzertpianisten. Er verehrte den großen Robert Schumann, mit dem er später auch mehrere Jahre lang korrespondierte. Es waren dann auch nicht seine eher überschaubaren Leistungen im preußischen Verwaltungsdienst, in den er nach seinem Studium eintrat, sondern seine musikalischen Fähigkeiten, dank derer er Bismarck kennenlernte. Im August 1846 gab er in Berlin auf Einladung Johanna von Puttkamers ein kleines Hauskonzert, das auch deren Verehrer Bismarck besuchte. Anschließend entwickelte sich zwischen Keudell und der Gastgeberin eine Freundschaft, die sich bald auch auf Bismarck, der Johanna ein Jahr später heiratete, ausdehnte. Als Letzterer zwischen 1852 und 1859 Preußen im Bundestag des Deutschen Bundes vertrat, war Keudell regelmäßig Gast der Familie. Während der drei Jahre, die Bismarck anschließend als preußischer Gesandter am preußischen Zarenhof diente, reiste Keudell gar zwei Mal für einen Besuch nach St. Petersburg.6

1862 bescherte ihm die so genährte Freundschaft einen außergewöhnlichen Karrieresprung. Direkt nach Übernahme des preußischen Ministerpräsidentenamtes folgte Bismarck der Empfehlung seiner Frau und machte Keudell, der gerade erst Regierungsrat in Breslau geworden war, zu seinem persönlichen Sekretär. In dieser Position zählte Keudell während der gesamten Phase der Reichsgründung zu Bismarcks engsten Mitarbeitern. Dabei gab es durchaus Reibungen, weil Keudell mitunter liberalere Ansichten hatte als sein Chef. Letztlich beugte er sich dessen Vorstellungen jedoch zuverlässig. 1864 belohnte ihn Bismarck mit einer Beförderung zum Wirklichen Legationsrat und Vortragenden Rat im preußischen Außenministerium, wo er ihm zusätzlich zu seinen sonstigen Pflichten die Leitung der Personal- und Finanzabteilung anvertraute. 1870 heiratete Keudell die talentierte Pianistin Hedwig von Patow (1842–1882). Diese Verbindung mit der Tochter des ehemaligen preußischen Finanzministers Robert von Patow zementierte endgültig seinen Aufstieg in die politische Elite Preußens. Im selben Jahr zog Keudell quasi im Nebenamt für die Freikonservativen – Bismarcks zuverlässigste parlamentarische Stütze – ins Preußische Abgeordnetenhaus ein. Ein weiteres Jahr später wurde er auch Abgeordneter im ersten gesamtdeutschen Reichstag.

Die beiden Parlamentsmandate übte er allerdings nur kurz aus, da seine treuen Dienste ihm bald einen weiteren prestigeträchtigen Posten bescherten. Schon ein Jahr nach der Gründung des Nationalstaates ernannte ihn der Kaiser 1872 auf Vorschlag des Kanzlers zum Gesandten des neuen Reiches in Konstantinopel. Vier Jahre später kletterte er auf der diplomatischen Karriereleiter weiter nach oben und wurde Botschafter am Quirinal in Rom. Große politische Bedeutung erlangte er in dieser Stellung allerdings nicht. Im Gegenteil: In den Arbeitsbeziehungen zum Auswärtigen Amt zeigte sich bald, dass der Quereinsteiger Keudell als persönlicher Protegé des Kanzlers zwar akzeptiert, aber politisch nicht für voll genommen wurde. Sein Vorschlag, ein Bündnis mit Italien und Österreich anzustreben, fand in Berlin lange kein Gehör. Friedrich von Holstein, die graue Eminenz des Auswärtigen Amtes, verhöhnte die Idee im Herbst 1880 als „phantastischen Plan“. Als nur zwei Jahre später doch ein solcher Dreibund abgeschlossen wurde, blieb Keudell bei den Verhandlungen weitgehend außen vor. All seine Bemühungen, Anfang der 1880er Jahre auf einen leitenden Regierungsposten zurück nach Deutschland zu wechseln – 1880 war er als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes im Gespräch, drei Jahre später gar als Vizekanzler –, scheiterten am Widerstand des Berliner Ministerialapparates. Zwar genoss er nach wie vor das Vertrauen Bismarcks und diverser Kreise des Hofes, in die er über die Jahre vorgestoßen war. Die Funktionseliten im Auswärtigen Amt lehnten ihn aber rigoros als unqualifiziert ab, allen voran Holstein und Bismarcks Sohn Herbert, der 1886 selbst die Leitung des Ministeriums übernahm. Letzterer sorgte schließlich dafür, dass Keudell im März 1887 ganz aus dem diplomatischen Dienst ausschied.

Im Ruhestand widmete er sich wieder ganz der Muse der Musik. Bereits 1883 hatte er nur ein Jahr nach dem Tode Hedwigs erneut eine begabte Pianistin geheiratet. Die 37 Jahre jüngere Alexandra von Grünhof (1861–1933) war als Tochter des Herzogs Ernst von Württemberg abermals eine gute Partie. Gemeinsam mit ihr verkehrte und musizierte er in den folgenden Jahren regelmäßig mit Joseph Joachim, dem bedeutendsten Violinisten der Zeit, und Anton Rubinstein, dem berühmten russischen Pianisten und Dirigenten. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Neben der Tochter Hedwig umfasste die Familie zwei Söhne, Walter (1884–1973) und Otto (1887–1972), die später in der Weimarer Republik zum Reichsinnenminister beziehungsweise Ministerialrat aufsteigen sollten. Robert von Keudell verstarb schließlich 1903 im westpommerschen Königsberg in der Neumark.7

Sein Namensvetter Robert Lucius Ballhausen wurde am 20. Dezember 1835 in Erfurt als eines der jüngsten von elf Geschwistern in eine reiche Unternehmerfamilie geboren. Sein Vater war der Textilfabrikant Sebastian Lucius (1781–1857), der mit der Herstellung von Wollstrümpfen ein Vermögen verdiente, 1845 die Erfurter Industrie- und Handelskammer gründete und zahlreiche wohltätige Einrichtungen in der Stadt stiftete, darunter ein Krankenhaus, ein Altenheim und eine Erziehungsanstalt. Einer der älteren Brüder Roberts bezeichnete die Familie später einmal als die „Buddenbrooks von Erfurt“. Diese großbürgerliche Herkunft garantierte Robert eine exzellente Ausbildung. Nach einigen Jahren am Königlichen Gymnasium in Erfurt besuchte er das renommierte Gymnasium Paulinum in Münster und erhielt zusätzlich Privatunterricht. Anschließend studierte er Naturwissenschaften und Medizin in Heidelberg, wo er in der Studentenverbindung Corps Vandalia aktiv war. 1856 wurde er gemeinsam mit zwei anderen „Vandalen“ wegen eines Disziplinarvergehens zwangsextramatrikuliert und von seinen Verbindungsbrüdern mit allen Ehren im Rahmen eines sogenannten Comitats – des letzten in der Heidelberger Universitätsgeschichte – aus der Stadt verabschiedet. Daraufhin schrieb er sich an der Universität Breslau ein, an der er zwei Jahre später in Medizin promovierte.8

Nach seinem Studium folgte er in die Fußstapfen seines ältesten Bruders August, der nach seiner Kaufmannslehre fünf Jahre durch Nordamerika getourt war, und begann das Reisen. Zuerst nahm er 1860 für einige Monate als Mitglied des medizinischen Begleitpersonals am spanischen Marokkofeldzug teil, dann schloss er sich als Schiffsarzt der von Friedrich von Eulenburg geleiteten preußischen Ostasienexpedition an, die Freundschafts-, Handels-, und Schifffahrtsverträge mit den Ländern des fernen Ostens abschließen sollte. Diese Mission führte ihn zwischen 1860 und 1862 nach Ceylon, China, Hongkong, Korea, Siam und Japan, das sich gerade erst dem Westen geöffnet hatte. Zurück in Deutschland trat er nach wenigen Monaten im heimischen Erfurt in die preußische Armee ein. 1864, 1866 und 1870 nahm er als Leutnant beziehungsweise später Oberstleutnant an den drei Einigungskriegen gegen Dänemark, Österreich und Frankreich teil. Am Abend nach der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 begegnete er Bismarck zum ersten Mal persönlich, als dieser ihn im Vorbeireiten mit einen Bekannten verwechselte und ihm die Hand ausstreckte.9

1870 zog Ballhausen – nach einem erfolglosen Versuch bei den vorangegangenen Wahlen – für die Freikonservativen in das Preußische Abgeordnetenhaus ein. Im selben Jahr gelang ihm bei einer Nachwahl in einem der Erfurter Wahlkreise auch der Sprung in den Norddeutschen Reichstag. Nach der Reichsgründung wurde er auch in den gesamtdeutschen Reichstag gewählt und stieg 1879 zu dessen Vizepräsidenten auf. Mit diesem parlamentarischen Engagement war er in seiner Familie nicht alleine. Alle drei seiner älteren Brüder waren in den 1870er und 1880er Jahren ebenfalls Abgeordnete im Preußischen Abgeordnetenhaus beziehungsweise im Reichstag, und das bemerkenswerter Weise für drei unterschiedliche Parteien. August, der sich als Maler und Gutsbesitzer betätigte, war Reichstagsabgeordneter für das Zentrum. Ferdinand, der die Leitung der väterlichen Textilfabrik übernommen hatte, gehörte im Reichstag und im Preußischen Landtag wie Robert den Freikonservativen an. Eugen, ein erfolgreicher Chemiker, der die Farbwerke Hoechst mitbegründete, vertrat die Nationalliberalen im Preußischen Abgeordnetenhaus.

Letzterer war es auch, durch den Robert als junger Abgeordneter in engeren Kontakt mit Bismarck kam. Eugen hatte 1860 Maximiliane Becker geheiratet, eine Tochter des Frankfurter Malers Jakob Becker, bei dem Bismarck während seiner Zeit am Bundestag in den 1850er Jahren ein- und ausging. Über die gemeinsame Bekanntschaft zu den Beckers entstanden nach Roberts Eintritt in den Berliner Politikbetrieb bald ein vertrauensvolles Verhältnis und schließlich eine innige Freundschaft zu Bismarck. Tatsächlich wurde Robert zu einem fast täglichen Gast im Hause Bismarck, besonders bei den legendären nachmittäglichen Essgelagen des Kanzlers. Dabei spielte neben persönlicher Sympathie natürlich auch politisches Kalkül eine Rolle. Robert war für Bismarck ein wichtiges Bindeglied zum Parlament. Durch ihn konnte er nicht nur seine Hausmacht bei den Freikonservativen pflegen, sondern auch das Netzwerk der Lucius-Brüder ausnutzen und Bande zu den anderen großen Fraktionen knüpfen. So unterhielt Bismarck während der Zeit des Kulturkampfes über das enge Verhältnis zwischen Robert und August eine indirekte Verbindung zum Zentrum, die 1878 eine wichtige Rolle bei der Annährung zwischen ihm und dem Parteiführer Ludwig Windthorst spielte.

Ein Jahr später wurde Robert auf Wunsch Bismarcks preußischer Landwirtschaftsminister. In den Folgejahren kam es im Zusammenhang mit umstrittenen politischen Entscheidungen immer wieder zu durchaus ernsthaften Meinungsverschiedenheiten, die die Freundschaft der beiden Männer zuweilen belasteten, aber nie zerstörten. Während seiner mehr als zehnjährigen Amtszeit setzte sich Ballhausen besonders für Schutzzölle auf Getreide, die Urbarmachung der preußischen Hochmoore, den Ausbau des Veterinärwesens und die Regulierung der Jagd ein. Bei den Landwirten verschaffte ihm das viel Respekt. Wie sehr er in Produzentenkreisen geachtet wurde, zeigte sich zum Beispiel 1884, als die Berliner Baumschule Späth eine neue Birnensorte nach ihm benannte, die „Minister Dr. Lucius-Birne“. 1888 erhob ihn der 99-Tage-Kaiser Friedrich III. auf Bismarcks Vorschlag hin in den erblichen Freiherrenstand. Als der Kanzler zwei Jahre später im Streit mit dem jungen Kaiser Wilhelm II. zurücktrat, legte auch Ballhausen wenige Monate später sein Ministeramt nieder.

Politisch aktiv blieb er aber auch weiterhin. Sein Mandat im Abgeordnetenhaus behielt er bis 1893. Zwei Jahre danach wurde er zum Mitglied des preußischen Herrenhauses ernannt. Dort leitete er bis kurz vor seinem Tod die Haushaltskommission, den mit Abstand wichtigsten Ausschuss der Kammer. Neben seiner politischen Tätigkeit engagierte er sich außerdem in verschiedenen unternehmerischen Projekten. So war er nicht nur an der ersten Zuckerfabrik in Thüringen beteiligt, sondern auch an der Versicherungsgesellschaft Thuringia, die zu den Pionieren des deutschen Unfallversicherungswesens gehörte. Seinen Lebensabend verbrachte er mit seiner Frau Juliet Maria Souchay de la Duboissière (1835–1921), der Tochter einer reichen hugenottischen Kaufmannsfamilie aus der Nähe von Manchester, die er 1864 geheiratet hatte und über die er mit Alfred Weber, Theodor Mommsen und Felix Mendelssohn-Bartholdy verschwägert war. Mit ihr reiste er immer wieder nach England, aber auch nach Osteuropa. Gemeinsam hatten sie zwei Söhne, den Verwaltungsjuristen Otto Lucius von Ballhausen (1867–1932) und den Diplomaten Hellmuth Lucius von Stoedten (1869–1934), von dem später noch die Rede sein wird. Robert starb 1914 wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem nördlich von Erfurt gelegenen Rittergut Klein-Ballhausen, das ihm einst sein Vater geschenkt hatte.10

Sowohl Ballhausen als auch Keudell waren, was ihre Interessen angeht, nicht gerade typische Vertreter der höheren Beamtenschaft des Kaiserreiches. Ein weitgereister Abenteurer und ein hochbegabter Musikus waren in den Ministerialapparaten Preußens und des Reiches eher exotisch. Hinsichtlich mehrerer anderer Aspekte waren ihre beiden Lebenswege allerdings geradezu idealtypisch für die politischen Eliten des Kaiserreiches. So liest sich Ballhausens Biographie – großbürgerliche Herkunft, Eintritt in die Armee, Aufstieg durch die Offiziersränge, Nobilitierung und Aufnahme in das Herrenhaus auf Lebenszeit – wie ein Paradebeispiel für die „gewöhnlich überzogen vorgetragene marxistische These der Feudalisierung und Militarisierung des Bürgertums“, wie Ulf Morgenstern in einem Aufsatz über den Memoirenschreiber betont hat. Keudells Karriereverlauf steht hingegen beispielhaft für das die Reichsgründung prägende Patronagesystem der preußischen Monarchie und die danach stattfindende Professionalisierung des Staatsbetriebes im Kaiserreich. Konnte der mäßige Jurist trotz seiner fehlenden Erfahrung in politischen Fragen in den 1860er Jahren noch einfach auf Wink des neuen Ministerpräsidenten ins unmittelbare Zentrum der Macht vorrücken, vermochte er sich zwanzig Jahre später auch mit der anhaltenden Unterstützung Bismarcks nicht gegen die Funktionseliten im Auswärtigen Amt durchzusetzen, die ihm mit Hinweis auf seine vermeintlich mangelnde Qualifikation mehrmals eine Beförderung auf einen hohen Berliner Posten verbauten.11

Die Bedeutung von persönlichen Netzwerken für das politische System der Bismarckzeit spiegelt sich auch in Ballhausens Vita wider. Die Freundschaft zum Kanzler wäre ohne den gemeinsamen Kontakt zur Familie Becker wohl nie entstanden. Einige der mächtigsten Männer des preußischen Ministerialapparates lernte Ballhausen bereits als Teil der preußischen Ostasienexpedition kennen, nicht zuletzt deren Leiter Friedrich zu Eulenburg, der 1862 nach dem erfolgreichen Abschluss der Mission preußischer Innenminister wurde und diesen Posten bis 1878 bekleidete. Außerdem bildeten die in den beiden wichtigsten Parlamenten des Reiches sitzenden Gebrüder Lucius selbst eine mächtige politische Seilschaft, die quer durch das Parteienspektrum reichte. Insofern war jeder der vier wohlhabenden Unternehmersöhne ein Beispiel für die Verquickung von wirtschaftlichen und politischen Eliten im Kaiserreich, die vor allem in der Geschichtsschreibung der DDR stark kritisiert worden ist. Schließlich und endlich stehen der Abenteurer mit dem Medizinkoffer und der Diplomat mit dem Klavier auch exemplarisch für eine ganze Generation von Deutschen, die einerseits transnational agierten, sprich: viel und weit reisten, Freundschaften oder gar Ehen mit Ausländern schlossen und sich wie selbstverständlich auf internationaler Bühne bewegten, andererseits aber glühende Nationalisten waren.12

Die Erinnerungen, die Keudell und Ballhausen jeweils über Bismarck abfassten, gehören zu den Standardquellen der Forschung zum „Eisernen Kanzler“. Dennoch beziehungsweise gerade deswegen lohnt es sich, vor der Lektüre darüber nachzudenken, um welche Art von Quellen es sich eigentlich handelt und was sie zu unserem Bild von Bismarck eigentlich beitragen können. Keudell veröffentlichte seine Erinnerungen an Fürst und Fürstin Bismarck im Herbst 1901, also knapp drei Jahre nach dem Tod des Altkanzlers. Zu diesem Zeitpunkt waren die ersten beiden Bände von Bismarcks autobiographischen Gedanken und Erinnerungen, die 1898 posthum erschienen waren, längst ein Bestseller. Ausgewählte Briefe, Reden und Aktenstücke waren schon 1890 als Gesammelte Werke in vier Bänden publiziert worden. Außerdem waren in den Vorjahren verschiedene Teile von Bismarcks Privatkorrespondenz erschienen, allen voran die 1900 veröffentlichten Briefe an seine Braut und Gattin. Keudell fügte also einem rasch wachsenden Korpus an öffentlich zugänglichen Bismarckquellen ein weiteres Stück hinzu. Die Motivation dafür war angesichts der hohen Verkaufszahlen der genannten Publikationen sicherlich zumindest teilweise finanzieller Natur. Auch und vor allem scheint Keudell aber die Tatsache umgetrieben zu haben, wie er in seinem Vorwort betont, dass „die Zeugen [des] Wirkens [Bismarcks], welche ihm als Abgeordneten, Gesandten und jugendlichen Minister nahe standen, […] nach und nach fast alle verstummt [waren], ohne Berichte über ihn zu hinterlassen“. Deswegen sah er an sich „die Aufgabe [herantreten], zu erzählen, was [er] damals [im] Hause und […] Dienste [Bismarcks] erlebt habe“.13

Ballhausens Bismarck-Erinnerungen sind unter ganz anderen Vorzeichen entstanden. Während seiner Zeit als Abgeordneter und Minister führte der Tausendsassa akribisch Tagebuch über den Berliner Regierungsbetrieb. In diesen Aufzeichnungen spielte sein Chef und Freund Bismarck naturgemäß eine Hauptrolle. Nach Bismarcks Tod fasste Ballhausen 1899 daher den Entschluss, wie er in einer Vorbemerkung zu den Erinnerungen beschreibt, „die persönlichen Erinnerungen, welche [er] in einer langen Reihe von Jahren im Verkehr mit [Bismarck] gesammelt habe, an der Hand [dieser] Tagebuchnotizen und Briefe zusammenzufassen“. Um dies ohne Abstriche tun zu können, dachte er dabei von Anfang an „nicht daran […], [diese Erinnerungen] zu [seinen] Lebzeiten zu publizieren“. Diesen Luxus konnte er sich relativ einfach leisten, da er ob seines beträchtlichen Privatvermögens an einem finanziellen Gewinn aus seinen Begegnungen mit Bismarck kein großes Interesse haben musste. Nach seinem Tode 1914 veröffentlichte sein Sohn Hellmuth die Manuskripte sechs Jahre später. Dabei betonte er in einer Herausgebernotiz, dass der Druck schon vor dem Ableben seines Vaters fertiggestellt worden sei, da dieser so habe sicherstellen wollen, dass „nachträglich keinerlei Änderungen an seinen Aufzeichnungen mehr vorgenommen“ werden würden. Nur ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkrieges erschienen, wurde das Buch daraufhin bald Teil der „Hintergrunderzählung […] des Bismarck-Kultes“, die „in den 1920er Jahren in protestantisch-nationalen Milieus als Kompensationslektüre für den Verlust der Großmachtstellung des Deutschen Reiches diente und unter Verweis auf die Fehler der Wilhelminischen Epoche die Leistungen der Reichsgründungszeit betonte“, wie Ulf Morgenstern erläutert hat.14

Diese beiden Entstehungsgeschichten produzierten zwei sehr unterschiedliche Quellen über Bismarck. Bei Keudells Erinnerungen handelt es sich um einen retrospektiven Bericht, den dieser mit verschiedenen Dokumenten durchsetzte, um ihn authentischer zu machen. Darunter sind neben Ausschnitten aus verschiedenen Reden Bismarcks vor allem zahlreiche Briefe, die dessen Gattin im Laufe der Jahre an ihren engen Vertrauten Keudell schickte. Diese persönliche Korrespondenz habe er in seine Ausführungen aufgenommen, so Keudell in seinem Vorwort, da sie „Aufschlüsse über manche weniger bekannte Erlebnisse“ Bismarcks gebe und „viele Seelen zu herzlicher Verehrung“ anregen werde. Vor allem letztere Bemerkung ist aufschlussreich. Denn sie zeigt, wie sehr Keudell seinen Bericht mit Blick auf die direkt geplante Veröffentlichung und ihre Wirkung auf das sich langsam ausformende Bild der Öffentlichkeit über den verstorbenen Kanzler schrieb. Anders gesagt: Beim Abfassen seiner Erinnerungen an die Vergangenheit hatte Keudell mindestens ein Auge auf die Gegenwart. Dementsprechend erstellte er eine bunte Collage aus persönlichen Erlebnissen, die er zum Beispiel durch die häufige Verwendung der direkten Rede äußerst lebhaft, ja stellenweise sogar emotional schildert.15

Ballhausens Erinnerungen sind dagegen kein nachträglicher Report, sondern eine Zusammenfassung der Tagebucheinträge, die er einst über den Umgang mit Bismarck angefertigt hatte. Zu dieser Herangehensweise erklärte er in seinen einleitenden Bemerkungen: „Solche [Tagebuchnotizen] haben nur Wert, wenn sie auf Aufzeichnungen beruhen, welche damals in der Gegenwart gemacht wurden, weil solche, welche aus der Erinnerung nach langen Jahren gemacht, notwendig beeinflußt sein müssen durch die seitdem erlebten Tatsachen. Allerdings muß man dann auch die Selbstverleugnung üben, zur Zeit gefällte Urteile nicht zu modifizieren, sondern sie in ihrer Schiefheit bestehen zu lassen.“ Ballhausen wählte also im Vergleich zu Keudell einen geradezu gegenteiligen Ansatz, der versuchte, sich von der Gegenwart möglichst weit zu befreien und genau deswegen darauf verzichtete, die Erinnerungen noch zu Lebzeiten des Autors zu veröffentlichen. Das bedeutet natürlich nicht, dass Ballhausen seine Erinnerungen überhaupt nicht nachträglich einfärbte beziehungsweise versuchte, sein bevorzugtes Bild von Bismarck zu zeichnen. Auch seine Darstellung ist nicht frei von befangenen Lobgesängen. Insgesamt gesehen produzierte er jedoch ein sehr viel kritischeres Werk als Keudell, in dem er seine eigene Rolle bemerkenswert nüchtern betrachtet.16

Zusammengenommen decken Keudells und Ballhausens Erinnerungen den gesamten Zeitraum ab, in dem Bismarck an die Spitze der preußischen Regierung aufstieg, den Vereinigungsprozess steuerte und schließlich die Geschicke des neu gegründeten Reiches bestimmte. Keudells Darstellung umfasst die Jahre 1846 bis 1872. In zwölf chronologisch geordneten Kapiteln schildet er jeweils das erste Kennenlernen mit Bismarck, die Zeit beim Bundestag in Frankfurt, Bismarcks musikalische Vorlieben, die drei Jahre am Petersburger Hof, die Berufung zum preußischen Ministerpräsidenten, den Deutsch-Dänischen Krieg, das Auseinanderbrechen der Koalition mit Österreich, das Ende des Deutschen Bundes, den Deutsch-Deutschen Krieg, die Gründung des Norddeutschen Bundes, den schwierigen Ausbau des neuen Bundesstaates und schließlich den deutsch-französischen Krieg, die Einigungsverhandlungen und den Abschied aus den Diensten des Kanzlers.


Bismarck im Hauptquartier von Versailles 1871, rechts neben ihm sitzend Paul von Hatzfeld und Robert von Keudell, stehend v. l. n. r. Graf von Wartensleben, Wellmann, Graf von Bismarck-Bohlen, Blanquart, Delbrück (mit Zylinder), Zezulke, Bucher, Wiehr, Abeken, Willisch, Dr. Busch, Taglioni, Wagner und von Holstein.

Ballhausens Erinnerungen beschreiben hingegen die Zeit von der Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Reichstages 1871 bis zu Bismarcks Rücktritt 1890. Die insgesamt fast 600 Seiten starke Darstellung ist in zwanzig Kapitel gegliedert, die jeweils ein Jahr von Bismarcks Kanzlerschaft behandeln. Dabei kommt das Ringen um innen- und außenpolitische Entscheidungen genauso zur Sprache wie die zahlreichen Krisen und Intrigen des Berliner Regierungsbetriebes, Bismarcks häufige Strategiewechsel und Stimmungsschwankungen und seine zahlreichen Auseinandersetzungen mit Parlamentariern, Journalisten, Ministern und dem Kaiser.

Je nach persönlichen Interessen findet jede Leserin und jeder Leser in diesen reichhaltigen Erinnerungsdokumenten andere Schätze. An dieser Stelle möchte ich daher beispielhaft nur zwei Passagen nennen, die für mich als Verfassungshistoriker besonders faszinierend sind. In seinem Kapitel über die Gründung des Norddeutschen Bundes schildert Keudell eingehend, wie Bismarck im Herbst 1866 die Grundkonzeption für die künftige Verfassung des Deutschen Reiches entwickelte. Dabei durchsetzt Keudell die Beschreibung seiner eigenen Erlebnisse mit zahlreichen Briefen und Dokumenten. Darunter sind zwei der wichtigsten Aktenstücke zur Genese der Reichsverfassung überhaupt: die sogenannten Putbuser Diktate, die Keudell erstmals der Öffentlichkeit zugänglich machte. Bei diesen Schlüsseldokumenten der deutschen Verfassungsgeschichte handelte es sich um detaillierte Anweisungen, die Bismarck während eines Erholungsurlaubes im pommerschen Ostseebad Putbus vermittels Keudell nach Berlin schickte, um die dortigen Stellen darüber zu informieren, wie das politische System des sich nach dem Sieg über Österreich gerade formierenden norddeutschen Bundesstaates zu gestalten sei.17

Ballhausen gibt uns wiederrum in seinem Kapitel über das Dreikaiserjahr 1888 einen faszinierenden Einblick in die Erbfolgepolitik, die sich hinter den Kulissen des Berliner Politikbetriebes abspielte, sobald nach dem Tode des alten Kaisers Wilhelm klar war, dass dessen Sohn Friedrich, der Hoffnungsträger der Liberalen, wegen eines fortgeschrittenen Kehlkopfkrebsleidens nur kurz regieren und der Thron bald an den viel konservativeren, erst 29-jährigen Kronprinzen Wilhelm übergehen würde. Ausführlich beschreibt Ballhausen, wie sich Friedrich bemühte, wenigstens kleine Teile seines liberalen Programms in der ihm verbleibenden Zeit umzusetzen, und wie sich Bismarck mit allen Mitteln dagegen wehrte. Schonungslos schildert er dabei auch, wie der Kanzler unter Androhung des Rücktritts der gesamten Regierung den todkranken, schon seiner Stimme beraubten und im Rollstuhl sitzenden Kaiser dazu zwang, ein Gesetz, das dieser nicht hatte unterschreiben wollen, doch auszufertigen. Nicht ohne kritischen Unterton veranschaulicht Ballhausen die Motivation hinter derartigen Aktionen durch die Wiedergabe der Aussage seines Chefs, dass die gegenwärtigen Regierungsgeschäfte „schon mehr mit Rücksicht auf den Thronfolger“ abzuwickeln seien. Diesen Zusammenhang verdeutlicht Ballhausen noch zusätzlich dadurch, dass er kurz nach der erwähnten Episode einen Fall beschreibt, in dem Bismarck dem Kaiser sein Vetorecht nicht absprach, sondern ihn dazu ermutigte, davon Gebrauch machen, weil er hoffte, so den für das betroffene Gesetz zuständigen, zur bedrohlichen Clique des Kronprinzen gehörenden Minister bloßzustellen und idealerweise schon einmal vorsorglich loszuwerden, wozu es schlussendlich dann auch kam.18

Wenn wir solche Passagen lesen, müssen wir stets im Hinterkopf behalten, dass Keudell und Ballhausen natürlich nicht immer alles historisch akkurat schildern. Im Lichte des heutigen Forschungsstandes zu Bismarck und seiner Zeit erkennen wir schnell, dass die beiden autobiographischen Aufzeichnungen solch komplexe Ereignisse wie die Entstehung der Verfassung oder das Dreikaiserjahr mal überspitzt und mal nur ausschnittsweise darstellen. Vor allem im Fall von Keudell sind die Verzerrungen mitunter groß. So schildert dieser die Entstehung der Schlussversion des Verfassungsentwurfs als einen spontanen Geniestreich seines Chefs. Bismarck habe „mit der fürstlichen Gelassenheit […] die ersten, wichtigsten Abschnitte des Entwurfs, nämlich über den Bundesrat […], das Präsidium und den Reichstag […] angeblich teils im Wortlaute, teils in Anweisungen zur Ausarbeitung“ erst am Nachmittage vor der entscheidenden Sitzung des preußischen Kronrates einfach aus dem Kopf heraus diktiert. In Wirklichkeit ging der Verfassungsentwurf, den Bismarck einige Wochen später zuerst einer Regierungskonferenz der deutschen Einzelstaaten und dann dem konstituierenden Reichstag vorlegte, auf umfangreiche Vorarbeiten von verschiedenen Ministerialbeamten, Juristen und Beratern Bismarcks zurück, wie wir heute wissen.19

Angesichts derartiger Verzerrungen müssen wir Keudells und Ballhausens Erinnerungen – wie jede andere autobiographische Quelle auch – mit Vorsicht genießen und im Zweifelsfall mit dem aktuellen Forschungsstand abgleichen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie als Informationsquellen vollkommen kompromittiert sind. Im Gegenteil: Jede Verzerrung, die wir ausmachen, verrät uns etwas über den Bismarck-Kult, zu dessen Narrativ die beiden Werke nach ihrer Veröffentlichung beitrugen. So ist es durchaus vielsagend, dass Keudell den Drang verspürte, den ohnehin großen Anteil seines Chefs an der Ausarbeitung der Verfassung noch weiter zu überhöhen. Denn diese Übertreibung zeigt uns, dass bestimmte Kreise Bismarck nicht nur als Staatsgründer, sondern auch als Verfassungsvater verehrt wissen wollten.

Alles in allem gleichen die Bismarck-Erinnerungen Keudells und Ballhausens also einem Paar Scheinwerfer, die Licht auf das Phantom im Nebel werfen, dabei aber – wie jede andere intensive Lichtquelle auch – das, was sie beleuchten, zu einem gewissen Grade verzerren. Es liegt an uns, diese Unschärfe zu korrigieren, indem wir unseren Blick weiten und das, was wir im Schein des einen Lichtkegels erkennen, zusammen mit dem betrachten, was wir durch die Leuchtkraft anderer Lichtquellen sehen können. Tun wir das, so können wir mithilfe der Aufzeichnungen Keudells und Ballhausens das Phantom im Nebel ein ganzes Stück weit besser ausmachen. Das gilt nicht zuletzt insofern, als dass die beiden uns auf ihre jeweils eigene Weise vergegenwärtigen, dass für die so umstrittene historische Figur Bismarck ganz besonders die Schlussfolgerung gilt, die Thomas Nipperdey am Ende seiner epochalen Darstellung des Kaiserreiches für die Geschichte insgesamt gezogen hat: „Die Menschen unterschieden sich nicht in gute und böse, das Kaiserreich war nicht gut und nicht böse oder nach Gutem und Bösem deutlich unterscheidbar: Die Grundfarben der Geschichte sind nicht Schwarz und Weiß, ihre Grundmuster nicht der Kontrast eines Schachbretts; die Grundfarbe der Geschichte ist grau, in unendlichen Schattierungen.“20

Begegnungen mit Bismarck

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