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I.
Aus Berlin und Pommern. 1846 bis 1853.

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Im August 1846 sah ich zum ersten Mal Herrn von Bismarck-Schönhausen.

Fräulein von Puttkamer-Reinfeld, welche sich im folgenden Jahre mit ihm vermählte, hatte bei kurzem Aufenthalt in Berlin mich schriftlich eingeladen, ihr und einigen Freunden im Saale des damals berühmten Klavierbauers Kisting um 5 Uhr nachmittags etwas vorzuspielen.

An der Fensterwand standen ein Sofa und einige Stühle, quer davor der Flügel, so nahe, daß ich während des Spielens die Zuhörer genau sehen konnte.

Rechts neben mir, am ersten Fenster, saß Fräulein von Puttkamer, auf dem Sofa Herr von Blanckenburg, der später als ein Führer der Konservativen im Landtage hervortreten sollte. Er begrüßte mich als alten Bekannten, da wir früher einmal in der Schweiz zusammengetroffen waren. Neben ihm auf dem Sofa saß seine junge, auffallend schöne Frau und neben dieser am zweiten Fenster auf einem Sessel, in hellem Tageslichte, Herr von Bismarck, welcher gewöhnlich die Unterhaltung führte. Seine weiche Sprechstimme in Baritonlage war meinem Ohre wohlthuend. Kurz geschorene blonde Haare und ein kurzer Vollbart umrahmten das freundliche Gesicht; unter buschigen Brauen sehr hervortretende, hellstrahlende Augen. Er sah jugendlich aus, hatte aber das Wesen eines vollkommen gereiften Mannes.

Nach einleitenden Stücken spielte ich auf Verlangen von Fräulein von Puttkamer etwas von Beethoven. Bismarck erwähnte, daß er als Student lange mit einem Kurländer, Grafen Alexander Keyserling, zusammengewohnt und von diesem oft beethovensche Musik gehört habe, welche ihm besonders zusage. Darauf spielte ich eine lange Sonate (f-Moll) und sah bei deren leidenschaftlich erregtem letztem Stück eine Thräne in Bismarcks Auge glänzen.

Eine besondere Erinnerung mochte ihn bewegen; denn niemals habe ich später wahrgenommen, daß Musik so stark auf ihn wirke.

Als Minister hat er einmal nach demselben Stücke gesagt: „Das ist wie das Ringen und Schluchzen eines ganzen Menschenlebens“; damals aber sagte er nichts. Ich spielte noch ein ruhiges Stück und setzte mich dann zu den andern.

Zufällig sprach man von dem unerbittlichen deutschen Ehrgefühl. Bismarck erzählte von einem hochbegabten Göttinger Studenten, der abends beim Wein wettete, er würde auf seiner edlen Rappstute in einem Bach bis an das sich drehende Mühlrad galoppieren und über das Rad hinunterspringen.

„Vergebens bemühten wir uns am folgenden Tage, ihm die Ausführung dieser unsinnigen Wette auszureden. Er glaubte seine Ehre verpfändet. Viele Freunde waren an der Mühle versammelt. Das schöne Pferd kam im Mühlbach ruhig galoppierend an das schäumende Rad heran. Ohne zu stutzen, trug es den Reiter auf das Rad und in die Tiefe; aber beide standen nicht wieder auf.“

Nach einer kleinen Pause nahm Frau von Blanckenburg mit anmutiger Freundlichkeit das Wort, um mir von heiteren musikalischen Erlebnissen der letzten Tage zu erzählen. Die Anwesenden hatten zusammen mit mehreren sangeskundigen Damen und Herren der Familien von Mittelstädt und Wangemann soeben eine mehrtägige Reise durch den Harz gemacht und aus manchen schönen Punkten waren vierstimmige Lieder gesungen worden.

Als man aufbrach, um im Gasthaus das Abendessen zu nehmen, fragte mich Herr von Bismarck: „Werden Sie sich uns jetzt anschließen?“ Ich war leider verhindert.

Fräulein von Puttkamer-Reinfeld hatte ich ein Jahr früher in Pommern kennengelernt. Sie war befreundet mit Anna von Blumenthal-Quackenburg, deren Mutter, eine Schwester meiner Mutter, als Witwe in dem pommerschen Städtchen Stolp lebte. Ich hatte einige Jahre in Berlin studiert und war dann beim dortigen Stadtgericht eingetreten. Auf einer Ferienreise aus meiner ostpreußischen Heimat nach Berlin zurückkehrend, besuchte ich meine Tante und fand in deren Hause Fräulein Johanna von Puttkamer, eine junge Dame, welche von Verwandten und Freundinnen sozusagen vergöttert wurde.

Als einziges Kind gottesfürchtiger Eltern hatte sie eine sehr sorgfältige Erziehung erhalten. Sie stand im dreizehnten Lebensjahre, als einmal im Reinfelder Wohnhause Feuer ausbrach. Da bewies sie mehr Geistesgegenwart als alle andern Hausbewohner und rettete mit eigener Hand die wertvollsten Gegenstände. Das wurde in der ganzen Umgegend bekannt. Heranwachsend gewann sie die Herzen durch anmutige Bescheidenheit bei tapferem Freimut.

Ihre Gesichtszüge waren nicht regelmäßig schön, aber durch sprechende blaue Augen eigentümlich belebt und von tiefschwarzem Haar umschattet.

Für Musik hatte sie eine besondere Begabung. Ohne guten Unterricht genossen zu haben, spielte sie viele Klavierstücke auswendig und namentlich volkstümliche Melodien mit natürlichem Ausdruck.

Ungewöhnlich war ihre musikalische Empfänglichkeit. Triviales wie Schwülstiges schroff abweisend, wurde sie von warm empfundener Musik lebhaft ergriffen und nie ermüdet. Da es in ihrer ländlichen Abgeschiedenheit an neuen Musikstücken fehlte, übernahm ich gern, aus einer Berliner Bibliothek regelmäßig ihren Bedarf zu beschaffen.

Bald darauf kam sie einmal mit ihrer Mutter nach Berlin und besuchte meine Mutter, bei der ich wohnte. Dann führte ich die Damen zu Kisting und ließ sie dessen besten Flügel hören. Im folgenden Sommer machte Fräulein von Puttkamer mich in der erwähnten Weise mit ihren Freunden bekannt. Meine regelmäßigen Sendungen von Musikheften dauerten fort, bis sie im Juli 1847 das Elternhaus verließ. Im Januar hatte sie sich verlobt.

Zwanzig Jahre später sprach Bismarck einmal über den Eindruck, den seine Erscheinung auf die Damen der Nachbarschaft von Reinfeld gemacht hätte, denen er plötzlich als „Johannas Verlobter“ vorgestellt wurde.

„Die vielen Cousinen,“ sagte er, „nahmen es sehr übel, daß sie vorher gar nichts von der Sache erfahren hatten, und fixierten ihre Meinung bald übereinstimmend dahin: ‚Ja, haben möchten wir ihn nicht, aber er ist ja sehr vornehm‘. Nun ist doch ein pommerscher Gutsbesitzer nicht vornehmer wie der andere; aber man hatte gehört, daß ich öfters am Hofe gewesen war, und das gab mir in dem abgelegenen Ländchen ein Relief.“

Diese Worte ergänzten eine Nachricht, die ich bald nach der Verlobung erhalten hatte.

Die Cousinen und Freundinnen der Braut waren in ernster Sorge wegen ihrer bevorstehenden Verbindung mit einem Manne, der seit Jahren in Pommern der „tolle Bismarck“ genannt wurde. Man hatte gehört, „seine Verhältnisse wären sehr verwickelt und er wohl nicht ganz der Mann, sie in Ordnung zu bringen, viel unterwegs und viel mit andern Dingen als mit seiner Wirtschaft beschäftigt.“ Wer man fand einen Trost darin, daß seine Persönlichkeit den Eindruck ungewöhnlich vornehmer Gesinnung machte.

* * *

Bald nach dieser Verlobung erschien das königliche Patent, durch welches die Stände der einzelnen Provinzen Preußens zu einem „Vereinigten Landtage“ einberufen wurden.

König Friedrich Wilhelm III. hatte in verschiedenen Kundgebungen (1815, 1820, 1823) in Aussicht gestellt, die Machtfülle der Krone durch Reichsstände einzuschränken, namentlich (1820) für Fälle von neuen Belastungen der Staatsfinanzen. Es kam jedoch unter seiner Regierung nur zu gesetzlicher Einrichtung von Kreis- und Provinzialständen.

Die französische Julirevolution sowie deren Nachwirkungen in Polen, Belgien und einigen deutschen Staaten verstärkten die in Berlin obwaltenden Bedenken gegen Gewährung einer reichsständischen Verfassung.

Nach der Thronbesteigung Königs Friedrich Wilhelm IV. regten sich lebhafter in weiten Kreisen des Volkes die lange zurückgehaltenen politischen Wünsche. Aber während die Landtage der Provinzen Preußen, Posen und Rheinland bei jeder Gelegenheit um Gewährung der verheißenen Reichsstände petitionierten, warnten eindringlich davor die Landtage von Brandenburg und Pommern.

Der König verharrte einige Jahre in ablehnender Haltung. Da trat das Bedürfnis hervor, zum Zwecke der Eisenbahnverbindung Ostpreußens mit Berlin eine Staatsanleihe aufzunehmen oder wenigstens eine staatliche Zinsgarantie zu gewähren. Beides erwies sich unausführbar ohne die in dem Gesetze vom 17. Januar 1820 vorgesehene reichsständische Genehmigung. Diese Schwierigkeit gedachte man durch einmalige Vereinigung der Landtage aller Provinzen in Berlin zu beseitigen.

Bismarck war nur als Stellvertreter eines Abgeordneten der sächsischen Ritterschaft gewählt und hoffte das Frühjahr nicht in Berlin, sondern großenteils in Reinfeld zu verleben. Es sollte aber anders kommen. Der Abgeordnete war behindert, der Stellvertreter mußte im April dessen Sitz im Vereinigten Landtage einnehmen und fand am 17. Mai Anlaß, mitzusprechen.

Seine Erlebnisse bei diesem ersten Auftreten erzählte Bismarck mehrere Jahre später in folgender Weise:

„Der Landtag hatte eine Gesetzesvorlage über Rentenbanken aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Der Abgeordnete von Saucken kam zwei Tage später darauf zurück und sagte, die Gesetzgebung komme nicht vorwärts, weil im Volke das volle Vertrauen zu der Staatsregierung fehle, welche durch Einberufung des Vereinigten Landtages die alte Verheißung von Reichsständen nicht erfüllt habe. Man solle nur an 1813 denken; damals habe das Volk sich einmütig erhoben aus Dankbarkeit für die liberale Gesetzgebung von 1807.

„Ich sagte darauf: Ich und viele andere hätten nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen gegen das Rentenbankgesetz gestimmt. Ich müsse auch dem widersprechen, daß die Volkserhebung von 1813 anderen Beweggründen zuzuschreiben wäre als dem Zorn über die Schmach, daß Fremde in unserem Lande geboten; es heiße der Nationalehre einen schlechten Dienst erweisen, wenn man annehme, daß die Mißhandlungen, die die Preußen jahrelang durch fremde Gewalthaber erlitten, nicht hingereicht hätten, ihr Blut in Wallung zu bringen und ihren Haß zu entflammen.

„Ich wurde mehrfach durch lautes Murren unterbrochen. Zwei Redner gaben Saucken recht und sagten, ich dürfe gar nicht mitreden, weil ich 1813 noch nicht gelebt hätte.

„Als ich wieder die Tribüne bestieg, wurde ich von Pfuirufen begrüßt. Ich kehrte der Versammlung den Rücken, zog die Spenersche Zeitung aus der Rocktasche und las ruhig, bis der Lärm aufhörte.

„Dann sagte ich trocken: Ich kann allerdings nicht in Abrede stellen, im Jahre 1813 noch nicht gelebt zu haben. Ich habe immer aufrichtig bedauert, daß mir nicht vergönnt gewesen ist, an der damaligen Bewegung teilzunehmen; mein Bedauern ist aber vermindert worden durch die heute erhaltene nicht sehr dankenswerte Belehrung.

„Als ich die Tribüne verließ, erneutes Toben.

„Bald nachher äußerte zu mir beim Essen ein älterer Verwandter: ‚Du hattest ja ganz recht; aber so etwas sagt man doch nicht‘. Ich erwiderte: wenn du meiner Meinung warst, hättest du mir beistehen sollen. Nur dein eisernes Kreuz hindert mich, dir einen verletzenden Vorwurf zu machen.

Bismarck fügte hinzu:

„Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut; aber Sie werden nicht selten finden, daß es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt.

„Dieses erste Erlebnis auf parlamentarischem Boden steigerte meine natürliche Kampflust wie meinen Haß gegen die landläufigen hohlen Phrasen.“

Die vorstehende, nach einer im Sommer 1864 gehörten Erzählung geschriebene Darstellung der Vorgänge vom 17. Mai 1847 stimmt mit dem stenographischen Sitzungsbericht im Wesentlichen überein; die kurze Erwähnung derselben in den fast dreißig Jahre später diktierten „Gedanken und Erinnerungen“ (I, S. 18) lautet etwas abweichend.

Nach Uebernahme des Ministerpräsidiums war Bismarck inmitten einer überwältigenden Masse täglich herantretender Geschäfte fast ununterbrochen thätig in schöpferischem Erfinden und Gestalten künftiger Bildungen; auf Einzelheiten der Vergangenheit zu ruhen, lag dem immer vorwärtsdrängenden Geiste fern. So erkläre ich mir, daß trotz seines vielfach als ungewöhnlich stark bewährten Gedächtnisses bald nach 1866 in seinen Vorstellungen von vergangenen Dingen mitunter Lücken wahrzunehmen waren, deren er sich nicht bewußt zu werden schien, weil eine rastlose Phantasie ihm jederzeit Bilder zur Verfügung stellte, welche in die Lücken paßten. Einmal, im Herbst 1868, klagte er selbst über Nachlassen seines Gedächtnisses. Er hatte zufällig in Varzin viele an ihn gerichtete Briefe eines Engländers aufgefunden, dessen er sich in keiner Weise erinnern konnte.

Ueber die Vorgänge des 17. Mai 1847 äußerte sich nach Blanckenburgs Zeugnis dessen Gutsnachbar, der damals als politischer Schriftsteller bekannte Herr von Bülow-Kummerow, in folgenden Worten:

„Ich habe den Bismarck doch für einen gescheiten Menschen gehalten; ich begreife nicht, wie er sich so blamieren konnte!“ Blanckenburg erwiderte: „Ich finde, daß er recht hatte, und freue mich, daß er Blut geleckt hat. Sie werden nun den Löwen bald noch ganz anders brüllen hören.“

Wirklich zeigte sich Bismarck schon in den nächsten Wochen als ein bedeutender Redner und als ein ernster Staatsmann, welcher seine der Majorität antipathischen Ueberzeugungen umsichtig vertrat.

Der Vereinigte Landtag lehnte die ihm zugemutete Genehmigung einer Anleihe für die Ostbahn ab, weil ihm weder Einsicht in die gesamte Finanzlage gewährt noch Periodicität seiner Sitzungen zugesagt worden war. Bismarck führte neben dem Freiherrn Otto Manteuffel die Minorität, welche die Anleihe bewilligen wollte. Er vertrat zwar in keiner Weise die Ansicht vieler Märker und Pommern, daß Reichsstände ein Unglück für das Land sein würden, aber er wollte die Krone nicht drängen. In England, sagte er, sei 1688, in Frankreich 1815 das Volk in der Lage gewesen, die Krone zu verschenken und an dieses Geschenk Bedingungen zu knüpfen; in Preußen aber sei die Machtfülle des Monarchen seit Jahrhunderten unbeschränkt gewesen; und wenn die Krone manche politische Rechte zum Wohle des Landes freiwillig abgetreten habe, so dürfe man vertrauen, daß sie darin auch weiter gehen werde. …

Ueber die Beschaffenheit unseres Rechtsbodens gingen die Ansichten weit auseinander; man möge aber die Blume des Vertrauens nicht ausreißen und wegwerfen wie ein Unkraut, welches den Rechtsboden verdecke.

Ich darf erwähnen, daß ich, in ostpreußischen Anschauungen aufgewachsen, die mehrfach verheißene reichsständische Verfassung für eine gesunde Entwickelung unseres politischen Lebens ersehnte und daher Bismarcks Stellungnahme, bei aller Bewunderung seines Talents, tief bedauerte. Sein Anschluß an die Majorität würde – so schien es mir – deren Drängen unwiderstehlich gemacht haben. Diese Hypothese war aber ein Irrtum. Denn, wenn Bismarck es wirklich mit seiner Ueberzeugung hätte vereinigen können, sich der Majorität anzuschließen, so würden Manteuffel und die anderen Mitglieder der Minorität dem Neuling nicht gefolgt sein.

Heute meine ich, daß die Haltung Bismarcks auf dem Vereinigten Landtage politisch nützlich gewesen ist, weil sie das besondere Vertrauen hervorgerufen hat, womit der König ihn in den folgenden Jahren, zum Heile des Landes, beehrte. Wenn er 1847 mit der Majorität ging, so wäre er wahrscheinlich weder im Herbst 1848 in die Lage gekommen, das Ministerium Brandenburg-Manteuffel zusammenzubringen, noch hätte er 1851 den Frankfurter Posten erhalten, welcher ihn auf die Lösung der Aufgabe Preußens in Deutschland vorbereiten sollte.

Anfang September 1847 kam er auf seiner Hochzeitsreise nach Venedig, wo der König zufällig verweilte, und wurde sogleich zur Tafel gezogen.

* * *

Einige Wochen früher kam ich in die Gegend von Pommern, in welcher Bismarck von 1839 bis Ende 1845 gewohnt hatte und auch nach Uebernahme des altmärkischen Stammgutes Schönhausen bis zur Verpachtung der Güter Kniephof und Jarchelin (Ende 1846) oft gewesen war.

Der aus Ostpreußen gebürtige Präsident des Oberlandesgerichts in Cöslin hatte mich nämlich eingeladen, nach Ablegung des Richterexamens die vor der letzten juristischen Prüfung notwendigen praktischen Arbeiten unter seiner Leitung zu erledigen, um schneller als in Berlin möglich zum Ziele zu kommen.

Auf dem Wege nach Cöslin besuchte ich einen Bruder, welcher seit Kurzem bei dem damals in Treptow (jetzt in Thorn) stehenden Ulanenregiment als Rittmeister diente, und blieb einige Wochen bei ihm.

Wir ritten fast täglich nach dem an der Regamündung gelegenen Seebade Deep, wo ich häufig mit dem Landrat des Kreises, Herrn von Marwitz-Rützenow, zusammenkam. Dieser liebenswürdige und gescheite Mann fand Vergnügen an meinem Klavierspiel und belohnte mich gelegentlich durch ausführliche Mitteilungen über „Otto Bismarck“, der schon als Schüler in Berlin einige Zeit mit ihm zusammen gewesen war und kürzlich mehrere Jahre im benachbarten Naugarder Kreise gewohnt hatte.

Er erzählte:

„Wenn ich nach langer Fahrt auf schlechten Wegen bei ihm in Kniephof ankam, wurde ein einfacher Imbiß aufgetragen; er nahm Porter und Sekt aus dem Wandschrank, setzte die Flaschen vor mich hin und sagte: Help yourself. Während ich mich stärkte, sprach er viel und anregend. Er hatte Reisen in Deutschland, England und Frankreich gemacht und las gewaltig viel, meistens Geschichtswerke. Er vertiefte sich auch gern in Spezialkarten, namentlich von Deutschland und in die alte zwanzigbändige „Erdbeschreibung“ von Büsching, welche ausführliche Angaben über die meisten deutschen Landschaften enthält. Von sehr vielen Gütern in Pommern, in der Mark und im Magdeburgischen kannte er die Bodenverhältnisse, die Größen und sogar die zu verschiedenen Zeiten dafür gezahlten Kaufwerte.

„Auch über Politik sprach er gern; und was er sagte, klang manchmal ziemlich oppositionell, weil ihm die schleppende Geschäftsbehandlung bei den Regierungskollegien in Aachen und Potsdam mißfallen hatte. Aber sein Soldatenherz kam bei jedem Anlaß zum Vorschein.

„So betonte er im vorigen Jahre gegenüber mehreren älteren Herren, welche mit den aufständischen Polen sympathisierten, daß diese Posener als eidbrüchige Hochverräter hätten bestraft werden sollen.

„In früher Jugend hatte er Soldat werden wollen, seine Frau Mutter aber wünschte ihn dereinst als wohlbestallten Regierungsrat zu begrüßen. Ihr zuliebe verbrachte er mehrere Jahre im Justiz- und Verwaltungsdienste, fand aber keinen Geschmack daran. Nach ihrem Tode kam er in unsere Gegend und genoß die Freiheit des Landlebens in vollen Zügen.

„Er freute sich immer sehr, wenn man ihn besuchte; und wenn man fortfuhr, pflegte er die Gäste zu Pferde bis über seine Gutsgrenzen zu begleiten. Zu seinem Vergnügen kam er einmal nach Treptow und diente längere Zeit als Landwehrleutnant bei den Ulanen. Das kameradschaftliche Leben sagte ihm sehr zu.

„Er war der verwegenste Reiter und stürzte öfters, einmal so gefährlich, daß ein anderer wohl nicht lebendig davongekommen wäre; aber seine Riesennatur trotzte jeder Störung.

„Die meisten Besuche, auch auf weite Entfernungen, machte er zu Pferde und brachte lebendigen Verkehr in die ganze Gegend.

„Er war ein vorzüglicher Jäger und oft König der Jagd. In Kniephof war das Jagddiner immer einfach, doch saßen wir, trinkend und rauchend, gewöhnlich bis in die tiefe Nacht. Bismarck war ein starker Zecher, aber niemals hat ihn jemand berauscht gesehen.

„Eines Abends wollte ich mit einem Freunde von Regenwalde nach Naugard fahren. Es war schon spät, als wir durch Kniephof kamen, und wir beschlossen, dort die Nacht zu bleiben. Bismarck empfing uns sehr freundlich, sagte aber sogleich, er könne uns am andern Morgen keine Gesellschaft leisten, da er schon um 7 Uhr nach Naugard fahren müßte. Das wollten auch wir. Er empfahl uns wiederholt, nicht so früh aufzubrechen, sagte aber endlich: ‚Gut, wenn ihr es denn nicht anders wollt, so werde ich euch um halb sieben wecken‘.

„Es war ziemlich spät, als er uns die Treppe hinauf zum Schlafzimmer geleitete. Vor dem Einschlafen sagte mein Gefährte: ‚Ich habe mehr getrunken, als ich gewohnt bin, und möchte morgen ausschlafen‘. ‚Das wird nicht gehen‘, sagte ich, ‚denn nach dem, was wir abgemacht haben, wird Bismarck uns um halb sieben mobil machen‘. ‚Abwarten‘, sagte der andre, verschloß die Thür und schob mit äußerster Kraftanstrengung einen schweren Schrank davor. Um halb sieben – es war schon hell – ruft Bismarck vor der Thür: ‚Seid ihr fertig?‘ Keine Antwort. Er drückt vergebens auf die Klinke und stößt mit dem Fuße die alte Thüre ein, kann aber des Schrankes wegen nicht weiter. Bald darauf ruft er im Hofe: ‚Seid ihr fertig?‘ Kein Laut. Sogleich krachen zwei Pistolenschüsse, die Fensterscheiben klirren, und Kalk von der angeschossenen Decke fällt auf das Bett meines Gefährten. Da gibt dieser das Spiel verloren, bindet ein Handtuch an seinen Stock und steckt es als Friedensfahne zum Fenster hinaus. Bald darauf waren wir unten. Bismarck empfing uns beim Frühstück mit gewohnter Liebenswürdigkeit, ohne seines kleinen Sieges zu erwähnen.

„Später war ich einmal mit mehreren Bekannten zur Jagd in Kniephof. Die nach der Jagd erforderliche Reinigung dauerte bei uns ziemlich lange. Da fielen in kurzen Pausen fünf Pistolenschüsse; wir hörten, wie die Kugeln in die Fensterkreuze einschlugen. Otto amüsierte sich, uns zu necken. Niemandem fiel es ein, daß er hätte vorbeischießen und einen von uns treffen können, denn wir kannten seine Pistole als unfehlbar sicher; aber der Effekt der Schüsse war doch eine merkliche Beschleunigung unserer Vorbereitungen zum Diner. Dann gab es eine scharfe Sitzung. Am andern Morgen fanden wir unsern Wirt nicht beim Frühstück, vermuteten ihn noch schlafend und fuhren möglichst geräuschlos fort, um zur Jagd bei einem ziemlich entfernt wohnenden Nachbarn nicht zu verspäten. Dort kam Otto uns lachend entgegen; er war auf seinem Lieblingspferde Caleb, einem großen, schnellen Braunen, vorangeritten, um uns zu überraschen.

„Wegen solcher lustiger Streiche nannte man ihn damals den „tollen Bismarck“; wir wußten aber genau, daß er viel klüger war, als wir alle zusammen.

„Vor längerer Zeit ritt er eines Tages auf Caleb neun Meilen (63 km), um in dem Badeorte Polzin den Abend zu tanzen und dabei eine viel umworbene junge Dame kennenzulernen. Er machte ihr den Hof, schien ihr zu gefallen und dachte an Verlobung. Am folgenden Tage aber gab er diesen Gedanken auf, weil er erkannte, daß ihr Charakter nicht zu dem seinigen paßte. Tief verstimmt ritt er in der Nacht nach Hause. Quer durch einen Wald galoppierend, stürzte Caleb in einen breiten Graben. Bismarck wurde mit dem Kopf gegen einen Hügel geschleudert und blieb einige Zeit bewußtlos liegen. Als er erwachte, sah er beim Mondschein den treuen Caleb neben sich stehen, stieg auf und ritt ganz langsam nach Hause.

„Nach dieser Begebenheit, die ihn, wie er erzählte, einigermaßen erschüttert hatte, war eine Zeit lang wenig von ihm zu hören.

„Bismarcks alter Schulfreund Blanckenburg-Zimmerhausen hatte im Herbst 1844 eine entzückende junge Frau geheiratet, die Tochter des Herrn von Thadden-Trieglaff. Bei Blanckenburgs und Thaddens verkehrte er nun viel. In diesen Häusern wehte ein Geist echter Frömmigkeit und das schien ihm sehr zuzusagen.

„Leider starb im Spätherbst 1846 Frau von Blanckenburg. Bald darauf verpachtete Bismarck seine pommerschen Güter. Da legten wir alle Trauer an. Wir hoffen aber, ihn von Zeit zu Zeit hier wiederzusehen, da er vor einigen Wochen eine Perle des Pommerlandes heimgeführt hat, die Johanna Puttkamer.“

So plauderte Marwitz. Alle diese kleinen Geschichten sind mir später noch von anderen pommerschen Herren, großenteils auch von Bismarck selbst, mit denselben Einzelheiten erzählt worden.

Durch Marwitz angeregt, besuchte ich in jener Zeit den trauernden Witwer Blanckenburg in Zimmerhausen. Auch dieser Freund Bismarcks erzählte gern und viel von ihm.

„Ich kannte ihn schon als Nachbarskind,“ sagte er, „da seine Eltern während unserer Kindheit in Kniephof lebten. Später waren wir ein paar Jahre gleichzeitig auf dem Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster. Er erschien mir schon damals als ein rätselhafter Mensch; nie sah ich ihn arbeiten, oft spazieren gehen, und doch wußte er immer alles und hatte immer alle Arbeiten fertig. Dann waren wir lange Zeit getrennt, bis er wieder in unsere Gegend kam.

„Er trieb mehrere Jahre Landwirtschaft, fühlte sich aber davon nicht befriedigt und machte im Winter 1843/44 noch einen Versuch, sich bei der Regierung in Potsdam beschäftigen zu lassen, wo er früher schon einmal als Referendar gearbeitet hatte. Das wollte aber nicht glücken. Die Vorgesetzten langweilten, der schleppende Geschäftsgang erbitterte ihn. Der Oberpräsident, ein fleißiger Bureaukrat der alten Schule, hatte kein Verständnis für den außergewöhnlichen Menschen. Er schrieb eines Tages eigenhändig eine Verfügung, welche mit den Worten anfing: ‚Mir ist im Leben schon manches vorgekommen, aber noch kein Referendarius mit 63 Resten.‘ Zu mündlicher Verwarnung citiert, erzählte Bismarck dem Oberpräsidenten harmlos von den Berieselungsanlagen „auf seinen Gütern“ und von anderen landwirtschaftlichen Neuerungen. Es war vernünftig, daß er Potsdam bald wieder verließ. Nach Kniephof zurückgekehrt, fand er Gelegenheit, den Landrat des Naugarder Kreises, seinen Bruder, lange Zeit hindurch zu vertreten, und machte das ganz vorzüglich.“

„Nach meiner Verheiratung1 war er sehr viel bei uns. Wir hatten zusammen regelmäßige Shakespeareleseabende. Er fühlte, wie unser Leben durch den Glauben beglückt war und strebte ernstlich danach. Ich gab ihm manches Gute zu lesen; er sagte aber mehrmals, er könne sich nicht überzeugen. Schon gab ich fast alle Hoffnung auf. Da kam er eines Tages und sagte, ihm sei geholfen. Gott habe ihn auf den Rücken geworfen und stark geschüttelt. Da sei ihm der Glaube gekommen, zu dem er sich nun freudig bekenne.

„Wir, meine selige Frau und ich, waren tief ergriffen von diesem Wunder. Unser Verkehr mit Bismarck wurde nun noch inniger.

„Anfangs vorigen Jahres sagte er einmal: ‚Die Landwirtschaft gibt mir nicht genug zu thun; übers Jahr möchte ich entweder eine Frau haben oder ein Amt.‘ Sein Gebet ist erhört worden; er hat die beste Frau gefunden und eine politische Führerstellung errungen, die ihm vielleicht mehr zu thun geben wird wie ein Staatsamt.“

So erzählte Blanckenburg.

Bismarck hat bekanntlich in vielen veröffentlichten Briefen sowie in mehreren Parlamentsreden mit frohem Mut von seinem evangelischen Glauben Zeugnis abgelegt. In Privatgesprächen äußerte er als Gesandter wie als Minister, mehrmals, daß früher, ehe er glaubte , das ganze Leben für ihn wenig Wert gehabt habe. Der Glaube heilige die Pflichterfüllung. In der Zeit des Verfassungskonfliktes habe er nur durch den festen Ankergrund des Glaubens die Kraft gefunden, alle Stürme und Gefahren zu bestehen.

Das Glück des Glaubens wünschte er jedem Freunde, ohne jemals danach zu fragen. Als aber einmal ein befreundeter Ausländer seinen Unglauben offen bekannte, sagte er: „Ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Gott Sie stark zu Boden wirft und durchschüttelt; das könnte Ihnen helfen.“ ‒

* * *

Im Winter 1847/48 kam Blanckenburg einmal zu einer landwirtschaftlichen Versammlung nach Köslin und machte mich bekannt mit seinem Schwiegervater, Herrn von Thadden-Trieglaff, an dessen prachtvollem Kopf ich mich nicht sattsehen konnte, sowie mit dem nachmaligen Führer der äußersten Rechten, Herrn von Kleist-Retzow, einem Stiefonkel der Frau von Bismarck. Nach der Versammlung, welcher ich als Gast beiwohnte, kamen die drei Herren in meine Wohnung, um Musik zu hören, und erzählten, daß Bismarcks in Schönhausen in glücklicher Zurückgezogenheit lebten.

Der März des Jahres 1848 brachte die politischen Stürme, welche in Deutschland alle Ministerien wegfegten und manche Throne zu erschüttern schienen.

Den in unklarer Gärung tobenden Berliner Volksmassen wurden feierliche Zugeständnisse gemacht, von denen ein Teil, einige Wochen früher dem Staatskörper eingeimpft, ihn vielleicht vor dem Ausbruch des importierten Revolutionsfiebers geschützt haben würde.

Zur Feststellung des Wahlgesetzes für eine preußische Nationalversammlung berief der König noch einmal den „Vereinigten Landtag“.

Damals befand ich mich infolge des Todes meiner Mutter einige Zeit in Königsberg und hörte dort manche Urteile liberaler Männer über Bismarck. Man war einig in der Anerkennung der würdigen Worte, mit denen er im Landtage seinem Schmerz über das Geschehene Ausdruck gegeben hatte. Lebhaften Beifall fanden in der Provinz auch seine Worte über eine Vorlage des Finanzministers Hansemann, welcher einen erheblichen Kredit zur Hebung von Handel und Industrie verlangt hatte. Bismarck vermißte darin irgendeine Berücksichtigung der Landwirtschaft und sagte, der Minister schiene die Dinge mehr „durch die Brille des Industrialismus“ zu sehen als mit dem klaren Auge des Staatsmannes, der alle Interessen des Landes mit gleicher Unparteilichkeit überblickt.

* * *

Im Juli 1848 hatte ich Gelegenheit, Herrn und Frau von Bismarck einmal, wenn auch nur flüchtig, zu sehen.

Von der Frankfurter Nationalversammlung war angeregt worden, für Gründung einer deutschen Flotte in Privatkreisen zu sammeln. Dieser Zweck begeisterte mich und zwei andere junge Leute zu dem harmlosen Unternehmen, mitten im Sommer vier kleine Städte (Köslin, Colberg, Rügenwalde und Stolp) mit Konzerten heimzusuchen. Den Ertrag derselben (im Ganzen 207 Thaler) erhielt das Stettiner Flottenkomitee.

Zu dem Stolper Konzert, welches an einem heißen Nachmittage stattfand, kamen Bismarcks aus dem nahe gelegenen Seebade Stolpmünde herüber. Ich erschrak, als ich ihn sah. Kummervoller Ernst auf seinen gefurchten Zügen, das Haupthaar gelichtet; er schien seit unserm Zusammensein bei Kisting um viele Jahre gealtert. Ich hatte erfahren, daß er nur neun Jahre älter war als ich; doch schien es mir jetzt, als läge ein volles Menschenalter zwischen uns.

Nach dem Konzert sagte er mit kühler Höflichkeit: „es war schon heiß genug, aber Sie haben es uns doch noch heißer gemacht“. Dann fuhren die Stolpmünder Gäste zum Seestrande zurück, ich zu Verwandten aufs Land.

Anfang 1849 ging ich nach Berlin, um beim Kammergericht zu arbeiten. Bismarck hatte weder für die Berliner noch für die Frankfurter Nationalversammlung kandidiert, wurde aber nach Oktroyierung der preußischen Verfassung in die zweite Kammer gewählt und kam im März mit Familie nach Berlin.

Ich schrieb der bereits erwähnten, mit Frau von Bismarck befreundeten Cousine, ich würde die Familie wohl nicht sehen, wenn nicht Herr von Bismarck mir durch einen Besuch zu erkennen gäbe, daß ihm der Verkehr mit mir nicht unerwünscht wäre; denn ich wolle den Schein vermeiden, mich an einen einflußreichen Mann heranzudrängen.

Der Größe dieser Prätension war ich mir nicht bewußt. Daß man durch Kartenschicken einen Besuch abmachen könnte, war mir, wie wohl vielen damaligen Berlinern, noch unbekannt; sonst hätte ich natürlich nichts begehrt als den Besitz einer Visitenkarte.

Ich erfuhr nicht, ob die Cousine meine Mitteilung weitergegeben hatte; nach einiger Zeit aber kam Bismarck zu Fuß nach meiner Wohnung, die in einem der letzten Häuser der Linkstraße lag, wo damals die Stadt aufhörte. Er fand dort zwei meiner Freunde, die auf meine Rückkehr von einem Spaziergange warteten. Sie luden ihn zum Rauchen ein; er verweilte einige Zeit und sprach mit diesen Unbekannten offenherzig über die politische Lage. Unter anderem sagte er: „Einstweilen muß es uns noch viel schlechter gehen; erst nach zwei oder drei Jahren wird man Leute wie Kleist-Retzow und mich im Staatsdienste verwenden können.“

Diese Worte kamen mir ins Gedächtnis, als zwei Jahre später Kleist für Koblenz, Bismarck für Frankfurt ernannt wurde.

Im Frühjahr 1849 wohnte die Familie in einem Eckhaus der Wilhelmsund Behrenstraße. Herr und Frau von Bismarck empfingen mich in freundschaftlicher Weise und luden mich ein, sooft ich Zeit hätte, in der ersten Abendstunde, nämlich vor dem Beginn der Fraktionssitzungen des Abgeordnetenhauses, zu kommen. Ich benutzte diese Erlaubnis gewöhnlich einmal in der Woche und hörte fast jedes Mal irgendeine bedeutsame Aeußerung. In dem geräumigen Wohnzimmer stand ein Pianino. Wenn Zeit und Stimmung für Musik vorhanden war, wünschte er nur leidenschaftlich aufgeregte Stücke. Ruhige oder heitere Musik nannte er „vormärzlich“.

* * *

Die trotz des Belagerungszustandes in einigen öffentlichen Lokalen stattgehabten Märzfeiern gaben Bismarck Gelegenheit zu einer höhnischen Herausforderung der äußersten Linken.

Am 21. März sagte er in einer Rede über den Belagerungszustand: „Es wird von jener Seite des Hauses (der linken) jetzt behauptet, daß der Geist des Aufruhrs gänzlich geschwunden sei. Jedoch die Vorgänge am 18. März d. J. sind keineswegs geeignet, diese Behauptung zu bestätigen.

„Noch weniger sind die Lieder, die zur Feier des 18. März in Gesellschaften gesungen werden, beruhigender Natur. Mir sind zufällig einige der Art in die Hände geraten.

„In einem dieser Lieder werden die Anhänger der Freiheit zu einem tödlichen Kampfe aufgerufen; sie werden aufgerufen, sich unter dem blutroten Banner, dessen Bedeutung wir kennen, zu versammeln. Dieses Banner soll nun gefärbt werden mit Blut, nachdem das Gold der Freiheit daraus gestohlen, das Schwarz hinausgeworfen sei. Es heißt dann:

Wir färben echt,

Wir färben gut,

Wir färben mit Tyrannenblut!

„Ich möchte an die Versammlung die Frage richten, ob vielleicht in unserer Mitte sich Herren befinden, welche Gesellschaften, wo Lieder dieser Art gesungen, für welche sie ausdrücklich gedichtet worden, beigewohnt haben, und ob sie uns vielleicht Auskunft darüber geben könnten, welches die Tyrannen sind, mit deren Blut gefärbt werden soll. Eine Gesellschaft derart war z. B. im Café de l’Europe. (Zischen links, Bravo rechts. Eine Stimme: singen.)

„Ich weiß, meine Herren auf dieser Seite, daß Sie andrer Ansicht sind wie ich. Es war auch keineswegs meine Absicht, Ihre Ansicht auszusprechen, sondern die meinige. Ich bin nicht hierhergeschickt, Ihre Meinung auszusprechen. Ihre Zeichen, Ihre Unterbrechungen werden nur die Diskussion aufhalten. Wer seine Ansicht mit anderen Waffen, als denen des Geistes verteidigt, von dem muß ich voraussetzen, daß ihm die Waffen des Geistes ausgegangen sind. Wer noch Gründe des Verstandes vorrätig hat, von dem erwarte ich, daß er sie nach mir anwenden wird. Zischen und Geschrei von Singen gehört nicht hierher. Wer das Lied nachher singen will, für den werde ich es hier deponieren.

„Also ich habe auf meine Frage keine Antwort schalten und gehe daher über sie hinweg.“

Der kleine Kreis von gemäßigt liberalen Juristen und Literaten, in dem ich damals verkehrte, war entzückt über die Art, wie Bismarck die Waldeck, d’Ester und andere Teilnehmer jener Märzfeier an die Wand gedrückt hatte. Man nannte ihn zwar oft einen Reaktionär, bewunderte ihn aber als einen „höllischen Kerl“.

In jener Zeit wurde in der Frankfurter Paulskirche durch Kompromisse der gagernschen Partei mit der äußersten Linken die Reichsverfassung mit einer Majorität von vier Stimmen zustande gebracht. Eine Deputation der Nationalversammlung kam nach Berlin, um dem König die deutsche Kaiserkrone anzubieten.

Die große Mehrzahl aller jungen Leute wie auch der zünftigen Politiker wünschte in glücklicher Sorglosigkeit, daß diese Gelegenheit zur Einigung der deutschen Stämme unter Preußens Führung nicht ungenutzt vorübergehen möchte. Die Erwägung der äußeren politischen Verhältnisse kam den meisten gar nicht in den Sinn. Daß die Annahme der Reichsverfassung in irgendeiner Form zu Kriegen führen würde mit den deutschen Königen, mit Oesterreich, mit dem Kaiser Nikolaus und mit dem nach dem linken Rheinufer lüsternen westlichen Nachbar, daß aber das ungerüstete Preußen in solchen Kämpfen unterliegen müßte, das wurde nur von wenigen kühlen Beobachtern ausgesprochen; so zufällig mir gegenüber in gleicher Weise von zwei politischen Antipoden: dem Oberburggrafen von Brünneck und dem Professor Dirichlet.

Der König lehnte die ihm angetragene Kaiserkrone ab, stellte aber Verhandlungen mit den deutschen Fürsten in Bezug auf die Reichsverfassung in Aussicht.

Das Abgeordnetenhaus machte mehrere Versuche, nachträglich auf eine wenigstens bedingte Annahme der Reichsverfassung durch den König hinzuwirken. Als der Gegenstand zum letzten Mal verhandelt wurde (am 21. April), war ich unter den Zuhörern. Bismarck hatte den Antrag auf einfache Tagesordnung gestellt und befürwortete denselben ungefähr in folgender Weise.

Die Frankfurter Verfassung bringe das Geschenk der Volkssouveränität in dem Suspensivveto des Kaisers; wenn die Volksvertreter es dreimal beschlössen, so würde der Kaiser aufgehört haben zu regieren. Die Reichsverfassung bringe ferner das allgemeine Wahlrecht, welches nur der Linken zu Gute käme, und das uneingeschränkte Budgetrecht der Volksvertretung, welches dieser die Macht geben würde, die Staatsmaschine auf gesetzlichem Wege zum Stillstand zu bringen.

Die Frankfurter Verfassung verlange auch von dem künftigen Kaiser, daß er das ganze Deutschland schaffe, also die Fürsten, welche sich nicht unterwerfen wollten, als Rebellen behandle. Demnach könne der Kaiser beispielsweise in die Lage kommen, die Bayern und Hannoveraner zu Kämpfen gegen ihre Könige aufzurufen.

„Das ist es wohl, wohin die Herren von der Umsturzpartei uns haben wollen? (Heiterkeit.) Ich habe niemand in diesem Saale bezeichnen wollen; es gibt außerhalb genug.“ (Heiterkeit.)

Bismarck fuhr fort: bekannte demokratische Wortführer verlangten stürmisch, daß der Kaiser ihnen das ganze Deutschland schaffe; aber unser König dürfe nicht zum Vasallen dieser Herren herabsinken. Preußen solle Preußen bleiben. Die Frankfurter Krone möge sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit verleihe, könne erst durch Einschmelzen der preußischen Krone gewonnen werden und der Umguß werde mit der Form dieser Verfassung nicht gelingen.

Die ruhig und klar vorgetragene Rede machte auf die leidenschaftlich erregte Mehrheit keinen Eindruck.

Die Kommission wollte dem König die Annahme der Reichsverfassung für Preußen und die freiwillig beitretenden Staaten empfehlen. Ihr Berichterstatter, Freiherr Georg Vincke, verstieg sich dahin, die Anschauungen Bismarcks als antediluvianische zu bezeichnen.

Die Majorität aber ging weit über den Kommissionsvorschlag hinaus durch den Beschluß, daß die von der deutschen Nationalversammlung vollendete Verfassung als rechtsgültig anzuerkennen sei.

In einer persönlichen Bemerkung erinnerte mit Bezug auf den Ausdruck „antediluvianisch“ Bismarck an den noch vor etwa vier Wochen von Vincke eingenommenen Standpunkt und sagte dann: „Mag er eine innere Sündflut erlebt haben, die seine bisherigen Anschauungen weggespült hat, ich bin mir treu geblieben und mein antediluvianischer Standpunkt ist mir noch eben so lieb, wie das Asyl in der Arche Noah, in welcher der verehrte Abgeordnete seine Anschauungen jetzt unterzubringen sucht.“

Diese Bemerkung wurde von Vincke nicht abgelehnt und mag daher durch frühere private Aeußerungen desselben begründet gewesen sein.

In den bezüglichen Kammerreden ist eine Veränderung seines Standpunktes nicht nachzuweisen. Dies zu untersuchen, war aber das Publikum nicht in der Lage. Ueberall, auch in liberalen Kreisen, wurde Bismarcks geschickter Ausfall gegen den berühmten Vincke beifällig begrüßt.

Das Abgeordnetenhaus wurde infolge des Beschlusses über die Rechtsverbindlichkeit der Frankfurter Reichsverfassung natürlich aufgelöst und die Familie Bismarck verließ anfangs Mai Berlin.

* * *

Um diese Zeit begann der politische Einfluß des Generals von Radowitz. Ich bin diesem merkwürdigen Manne nur einmal im Hause des Oberpräsidenten Flottwell begegnet, werde aber nie den Eindruck seines prachtvollen Kopfes vergessen. Eine breite hochgewölbte Stirn unter kurzem grauen Haar, sprechende dunkle Augen, sanft gebogene Nase, fest geschlossene Lippen, volltönende, weiche Stimme; eine imponierende und zugleich gewinnende Erscheinung.

Radowitz hatte in der Frankfurter Paulskirche auf der äußersten Rechten gesessen, war aber von den dort hoch auflodernden Flammen nationaler Einheitsbegeisterung durchglüht worden. Er brachte nach Berlin die Ueberzeugung zurück, daß „die Revolution zu schließen“ nur gelingen könne, wenn man den berechtigten Kern der Volkswünsche zur Entwicklung brächte durch Bildung eines Bundesstaates auf Grundlage der zu modifizierenden Frankfurter Reichsverfassung, mit Zustimmung der Fürsten; daß aber einfache Herstellung des seit 1815 bestandenen deutschen Staatenbundes „die Revolution verewigen“ würde.

Diese Anschauungen kamen dem leidenschaftlichen Wunsche des Königs entgegen, in Deutschland auf legalem Wege etwas Haltbares zustande zu bringen. Durch den Ministerpräsidenten Grafen Brandenburg wurde Radowitz zur Leitung der in der deutschen Verfassungsfrage mit den Regierungen angebahnten Verhandlungen berufen.

Bei dem Dresdener Aufstand (anfangs Mai) bewährten sich die sächsischen Truppen als zuverlässig, bedurften aber doch der Hilfe eines Berliner Regiments, um zu siegen. In Hannover wurden Unruhen befürchtet.

Unter solchen Zeitumständen kam am 26. Mai auf Grundlage des modifizierten Frankfurter Verfassungsentwurfs das sogenannte Dreikönigsbündnis zustande, welchem beizutreten den andern deutschen Staaten freigestellt wurde.

An demselben Tage übersandten jedoch Sachsen und Hannover ausführlich motivierte Erklärungen, welche den Rücktritt für den Fall vorbehielten, daß nicht alle deutschen Staaten sich dem Bündnisse anschließen würden. Die Fassung dieser Erklärungen ließ die Abneigung beider Staaten gegen dauernde Unterordnung unter Preußen deutlich erkennen. Die Schriftstücke wurden jedoch, wie es in einem amtlichen Berichte heißt, „im Vertrauen zu der Loyalität der Bundesgenossen entgegengenommen“ und bei den weiteren Verhandlungen nicht beachtet.

Den Grafen Brandenburg hatte Radowitz für seine Politik vollständig eingenommen; der Minister Manteuffel aber stand ihr ungläubig, General von Gerlach feindlich gegenüber. Dieser höchst ausgezeichnete Mann hatte sich auch in seiner Stellung als Generaladjutant des Königs eine seltene Geistesfrische und Charakterunabhängigkeit bewahrt. Er kannte die deutschen wie auch die im Osten benachbarten großen Höfe zu genau, um nicht ein trauriges Ende aller damaligen Verhandlungen über einen deutschen Bundesstaat voraussehen zu müssen.

Im Sommer brachen Aufstände aus in der bayerischen Pfalz und in Baden, wo die Truppen mehrfach zu den Aufständischen übergingen. Diese wurden überall von preußischen Regimentern geschlagen und zerstreut.

Bayern blieb jedoch wie auch Württemberg dem Dreikönigsbündnis fern.

Als im August der preußische Landtag wieder zusammentrat, machte die Staatsregierung eingehende Mitteilungen über die Ergebnisse ihrer Verhandlungen mit den deutschen Staaten.

Der ausführliche Bericht, welchen Radowitz (am 25. August) dem Abgeordnetenhause über seine Thätigkeit mündlich erstattete, machte einen großen Eindruck. Gelesen erschien diese Rede nur als ein formvollendetes Meisterstück; von Ohrenzeugen wurde mir aber erzählt, daß der wunderbare Mann durch die Töne seines Vortrags viele Abgeordnete bis zu Thränen gerührt hätte sowie daß die große Mehrheit der Versammlung seine Politik vollständig zu billigen schiene.

Dem Bündnisse beigetreten waren damals 18 Staaten; vorläufige Bereitwilligkeit zum Beitritt hatten 7 erklärt, während andere 7 noch im Schweigen verharrten.

Am 6. September eilte ich ins Abgeordnetenhaus, um Bismarck zu hören, über dessen Stellung zu Radowitz, dem notorischen Lieblinge des Königs, ich noch nicht im Klaren war.

Die Abgeordneten waren neu gewählt, nach dem Dreiklassenwahlgesetz. Die demokratische Partei hatte nicht mitgewählt und war daher nicht vertreten. Aber auch in diesem aus gemäßigten Elementen zusammengesetzten Hause war die große Mehrheit von dem leidenschaftlichen Wunsche erfüllt, den deutschen Bundesstaat verwirklicht zu sehen.

Die Sitzung begann mit einem durch den Abgeordneten von Beckerath vorgetragenen Kommissionsbericht, welcher die radowitzsche Politik vollständig billigte. Es sprachen dann zwei weniger bekannte Redner dafür und Reichensperger, welcher die Ausschließung Oesterreichs verabscheute, dagegen.

Endlich bestieg Bismarck die Rednerbühne, wie es damals in der Regel geschah, und stand also dem Ministertische nahe gegenüber, an welchem Brandenburg und Radowitz saßen.

Nach einleitenden Bemerkungen sagte er, man möge die Errungenschaften des preußischen Schwertes nicht weggeben, „um die Nimmersatten Anforderungen eines Phantoms zu befriedigen, welches unter dem fingierten Namen von Zeitgeist oder öffentlicher Meinung die Vernunft der Fürsten und Völker mit seinem Geschrei betäube, bis jeder sich vor dem Schatten des andern fürchte und alle vergäßen, daß unter der Löwenhaut des Gespenstes ein Wesen steckt von zwar lärmender, aber wenig furchtbarer Natur“.

Das Dreikönigsbündnis werde wegen der bekannten Vorbehalte Sachsens und Hannovers voraussichtlich von kurzer Dauer sein.

Die projektierte Bundesstaatsverfassung sei in den wichtigsten Bestimmungen unvereinbar mit der von der Staatsregierung als zu Recht bestehend anerkannten Verfassung des Deutschen Bundes.

Nach dem vorliegenden Entwurfe solle Preußen ‚seine sämtlichen Aktiva einwerfen in den Konkurs der übrigen deutschen Staaten‘; es solle verzichten auf Disposition über Heer und Finanzen zu Gunsten von abhängigen Reichsbehörden, abhängig von einem Parlament, in dessen Oberhaus von Rechts wegen, im Unterhause durch Einwirkung der Demokratie die preußischen Interessen in der Minorität sein würden.

Der Entwurf vernichte das spezifische Preußentum und damit den stärksten Pfeiler deutscher Macht.

Der königliche Kommissar (Radowitz) habe recht gehabt, als er sagte, der Entwurf sei von entgegengesetzten Seiten angegriffen worden. Der Entwurf gefalle niemandem, vielleicht mit Ausnahme derer, die an seiner Verfertigung Anteil gehabt hätten.

Nach Beleuchtung einiger preußischer Eigenschaften und Verdienste schloß Bismarck mit den Worten:

„Wir alle wollen, daß der preußische Adler seine Fittige von der Memel bis zum Donnersberge schützend und herrschend ausbreite, aber frei wollen wir ihn sehen, nicht gefesselt durch einen neuen Regensburger Reichstag und nicht gestutzt an den Flügeln von der gleichmachenden Heckenschere aus Frankfurt. …. Preußen sind wir und Preußen wollen wir bleiben; ich weiß, daß ich mit diesen Worten das Bekenntnis der preußischen Armee, das Bekenntnis der Mehrzahl meiner Landsleute ausspreche; und hoffe ich zu Gott, daß wir auch noch lange Preußen bleiben werden, wenn dieses Stück Papier vergessen sein wird wie ein dürres Herbstblatt.“

Nach dieser eindrucksvollen Rede erhob sich Radowitz, um ruhig zu erklären, die Regierung wolle, da es sich um ein Vertrauensvotum handele, in die Debatte nicht eingreifen, sondern die Würdigung vieler unbegründeter und ungerechter Angriffe dem Hause und dem Lande überlassen.

Am folgenden Tage wurden die Kommissionsbeschlüsse von einer großen Mehrheit angenommen. Der Berichterstatter Beckerath nannte in seinem Schlußwort Bismarck einen verlorenen Sohn Deutschlands. Dieses Gleichnis konnte Bismarck mit der Thatsache, daß er sein Vaterhaus nie verlassen hätte, leicht ablehnen; auch konnte er durch eine andere Bemerkung eine von Beckerath früher gegebene Blöße zu einem scherzhaften Angriff benutzen; aber mehr als drei Viertel aller Anwesenden stimmten schließlich gegen ihn.

Mir gaben diese Tage ein unbegrenztes Vertrauen zu seiner Gewissenstreue. Die besondere Vorliebe des Königs für Radowitz und dessen Politik war bekannt. Trotzdem sah sich Bismarck durch sein politisches Gewissen genötigt, gegen den Mann des Tages schonungslose Angriffe zu richten.Den allen älteren Geschichtsfreunden sattsam bekannten Hauptinhalt der beiden Reden Bismarcks gegen die Entwürfe der Reichsverfassung und der Bundesstaats-Verfassung von 1849 habe ich hier wiedergegeben, um der minder kundigen Jugend das Geisteswunder vor Augen zu stellen, daß der entschiedenste Gegner der damaligen Einigungsbestrebungen im Laufe von kaum zwei Jahrzehnten sich zum Baumeister der Einheit Deutschlands entwickelt hat.

1849 sagte er gelegentlich: „Was scheren mich die Kleinstaaten; mein ganzes Streben geht nur auf Sicherung und Erhöhung der preußischen Macht“; 1866 und 1867 aber hörte ich von demselben Manne mehrmals die Worte: „Mein höchster Ehrgeiz ist, die Deutschen zu einer Nation zu machen.“

Im Winter 1849/60 erfüllte er seine Pflichten als Führer der äußersten Rechten, indem er zu jeder im Landtage erscheinenden Gesetzesvorlage öffentlich Stellung nahm. So hielt er eingehende Reden über einzelne Bestimmungen der damals zu revidierenden oktroyierten Verfassung, über die Verhältnisse des Handwerks, über Ablösung der Reallasten, Renten und Waldservituten, über die Civilehe, die Einkommensteuer, die Grundsteuerbefreiungen und den Militäretat.

Mich interessierte am meisten seine gelegentliche Ausführung, daß das in andern Ländern geltende unbeschränkte Budgetrecht und das daraus zu folgernde Steuerverweigerungsrecht des Unterhauses für Preußen nicht passe, daß vielmehr zur Wahrung der Stellung des Königs notwendig sei, in der Verfassung die Bestimmung aufrechtzuerhalten, wonach bestehende Steuern bis zu ihrer gesetzlichen Aufhebung fortzuerheben sind.

Bismarck vermochte zwar mit seiner Ansicht damals nicht durchzudringen, da die Majorität des Hauses an der englisch-französischen Doktrin festhielt; der von ihr gestrichene Satz aber wurde später wiederhergestellt (Art. 109). Derselbe hat bekanntlich in den sechziger Jahren möglich gemacht, die Armeereorganisation des Königs aufrechtzuerhalten.

* * *

Frau von Bismarck kam im Oktober nach Berlin und gestattete, daß ich ihr wöchentlich eine Klavierstunde gab. Ihre Studien wurden jedoch durch ein glückliches Familienereignis unterbrochen. Im Dezember 1849 erblickte ein Erbe das Licht der Welt, der jetzige Fürst Herbert. Frau von Puttkamer war von Reinfeld zur Wochenpflege nach Berlin gekommen und blieb dann bis zum Frühjahr dort.

Eines Abends sprach sie im Familienkreise davon, daß man ihr erzählt habe, ihr Schwiegersohn tanze in jeder Gesellschaft alle Tänze „wie ein Fähnrich“.

„Das ist meiner Gesundheit sehr zuträglich,“ sagte Bismarck, „da es mir jetzt bei Tage an Bewegung fehlt.“

Frau von Puttkamer erwähnte scherzhaft, sie werde oft gefragt, ob er nicht ihre Tochter in die Gesellschaft einführen wolle.

„Ich glaube,“ erwiderte er, „daß Johanna viel lieber abends zu Hause bei den Kindern bleibt. Im Gedränge unbekannter Leute würde sie sich nicht wohlfühlen. Um aber bekannt zu werden und sich nicht zu langweilen, müßte sie alles mitmachen und fast jeden Abend ausgehen. Dazu würden ungefähr 15 verschiedene Ballkleider gehören, wenn es nicht mitunter heißen soll: ‚Ach, die trägt heute wieder ihr Blaues.‘ Die Sache wäre also ziemlich umständlich.“

„Fällt mir gar nicht ein,“ sagte Frau von Bismarck, „die Leute sind bloß neugierig, einmal die Frau des berühmten Mannes zu sehen. Aber, wer mich kennenlernen will, kann ja zu mir kommen.“

* * *

Im März trat das Erfurter Parlament zusammen.

Bismarcks dortiges Auftreten gegen Radowitz war wieder ebenso entschieden als erfolglos. Sachsen und Hannover waren vom Bündnis zurückgetreten; von den beiden Hessen wurde das Gleiche erwartet. Dennoch bewilligte eine große, aus gemäßigt Liberalen bestehende Majorität den ganzen Verfassungsentwurf (jetzt nicht mehr Reichsverfassung, sondern Unionsverfassung genannt) in einer Abstimmung und vollendete sodann in wenigen Wochen die vom König gewünschte Revision einzelner Bestimmungen.

In den folgenden Monaten, Mai bis November, erlitten wir schmerzliche Demütigungen.

Zur Ausführung der in Erfurt beschlossenen Unionsverfassung konnte man sich nicht entschließen; aber ebenso wenig zu deren Aufhebung nach Manteuffels Antrage. Oesterreich berief den alten Bundestag nach Frankfurt und begann zu rüsten, wie auch Bayern und Württemberg.

Auf Drängen des Kaisers Nikolaus wurde mit Dänemark Friede geschlossen unter Preisgebung der Elbherzogtümer.

In Kurhessen traten wir für Herstellung des vom Ministerium Hassenpflug beseitigten Rechtszustandes ein und ließen im Norden des Landes Truppen einrücken, während zum Schutze der bestehenden Regierung bayerische Regimenter von Süden herankamen.

Die von Radowitz wiederholt verlangten Rüstungen unterblieben und er trat ins Privatleben zurück.

Bald darauf wurde zwar infolge von Nachrichten aus Oesterreich die ganze Armee mobilgemacht; in Olmütz aber (28. November) verzichtete Manteuffel, Schwarzenberg gegenüber, sowohl auf den Schutz von Kurhessen als auf die Unionsverfassung.

Die dort in Aussicht genommenen Dresdener Konferenzen führten, wie zu erwarten gewesen, zur Herstellung des Bundestages in Frankfurt.

Man hat Radowitz mitunter verdächtigt, das Endziel seiner Politik sei gewesen, das schlecht gerüstete Preußen von Oesterreichs damals weit überlegenen Streitkräften überwinden zu lassen, um den Machtbereich der katholischen Kirche zu erweitern. Er war aber doch nur ein Träger der Politik des Königs, des Prinzen von Preußen und eines Teiles der Staatsminister. Die große Mehrheit der Abgeordneten ersehnte die Unionsverfassung, und Vincke würde ebendahin gesteuert haben, wenn der König ihn zur Leitung der bezüglichen Verhandlungen berufen hätte.

Ich würde jene Verdächtigung unerwähnt lassen, wenn nicht Fürst Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ (Band I S. 64) eine solche Möglichkeit, allerdings nur hypothetisch, angedeutet hätte.

Was diesen Zweifel an Radowitz’ Patriotismus veranlaßt hat, ist mir nicht bekannt geworden; dagegen kann ich bekunden, daß Bismarck in Petersburg, im März 1862, über dessen Bestrebungen mit Anerkennung geurteilt hat. Bei einem kleinen Diner sagte er, in Gegenwart des Gesandtschaftspersonals und einiger Gäste, daß, wenn er im Jahre 1849 die jetzt, seit 13 Jahren, gewonnene politische Erfahrung gehabt hätte, er Radowitz unterstützt haben würde. Denn ein Parlament wäre geeignet, die Sonderbestrebungen der kleinen Fürsten einzuschränken. Allerdings hätte die unerläßliche Voraussetzung dieser Politik der Nachweis eines befriedigenden Zustandes unserer Armee sein müssen. Die Annahme, daß Oesterreich sich ohne Kampf aus Deutschland würde verdrängen lassen, sei ein unbegreiflicher Irrtum gewesen, welchen indes auch Personen leitender Kreise sowie die große Mehrzahl der Abgeordneten geteilt hätten.

Bismarck war demnach schon im Frühjahr 1862 mit dem Zukunftsbilde des deutschen Reichstages vertraut.

Anfangs Dezember 1850 erhielt ich die Nachricht von der Olmützer Verständigung in einem Dorfe an der sächsischen Grenze, wohin ich mit einem Landwehr-Kavallerie-Regiment marschiert war. Das Regiment erschien mir trotz besten Willens der Leute keineswegs kriegstüchtig, und ich war daher zufrieden, daß es nicht zum Schlagen kam.

Einige Tage später schrieb mir ein Berliner Freund, Bismarck habe am 3. Dezember in meisterhafter Weise die undankbare Aufgabe gelöst, die Olmützer Abmachungen zu verteidigen, ohne unsere militärische Schwäche einzugestehen.

Nach Neujahr schrieb Frau von Bismarck mir aus Reinfeld, daß ihr Gemahl – wie durch die „Gedanken und Erinnerungen“ jetzt allgemein bekannt geworden ist –, nachdem er vom Kriegsminister über den völlig ungenügenden Stand unserer Streitkräfte unterrichtet worden war, unablässig für Verständigung mit Oesterreich gearbeitet habe. Das Weihnachtsfest hätten sie dann im Familienkreise „in seligem Jubel“ verlebt.

* * *

Ich wurde erst im Frühjahr 1851 vom Regiment entlassen und bald darauf als Assessor bei der Regierung in Potsdam angestellt. Bismarck vor seiner Ernennung nach Frankfurt persönlich zu begrüßen, fand ich keine Gelegenheit. Die Familie war wegen Krankheiten der Kinder den ganzen Winter in Reinfeld geblieben.

Im Mai 1852 kam Kaiser Nikolaus nach Potsdam. Die Offiziere seines Brandenburgischen Kürassier-Regiments, zu dem ich damals auf 4 Wochen kommandiert war, wurden eines Abends in Sanssouci vorgestellt. Auch Bismarck kam dorthin, aber etwas später als das Offizierkorps, und stand zufällig kurze Zeit hinter mir, ohne mich zu erkennen. Beim Vortreten sagte er: „Der starke Haarwuchs Ihres Hinterkopfs hat mich einige Minuten lang beschäftigt. Ich sagte mir, da ist nichts vom Garde-Pli zu erkennen. Das ist ein Mann, den der Kommißdienst langweilt. Er widmet sich ernsten Studien und wird wohl einmal im Generalstabe endigen. Nun ich Sie erkenne, muß ich wohl sagen: in einem Ministerium.“

Allerdings langweilten mich meine Geschäfte bei der Bezirksregierung, weil ich sie vernachlässigte. Meine Studien aber waren damals nur auf die Musik gerichtet. Sehr viele Zeit verwendete ich auf Vorbereitung und Leitung von Chor- und Orchesteraufführungen; Hochgenüsse, zu welchen ein Dilettant nur in einer kleineren Stadt Gelegenheit finden kann.

Im folgenden Jahre beschloß ich, Paris und Rom zu besuchen mit dem Vorsatz, zu prüfen, ob der Dienst bei den Gesandtschaften weniger langweilig wäre als bei der inneren Verwaltung. Herr von Usedom, damals Gesandter in Rom, hatte mir gelegentlich in Berlin versprochen, er würde mich alle seine Berichte über die italienischen Ereignisse von 1846 ab lesen lassen. In Paris hoffte ich durch einen mir bekannten Sekretär einige Kenntnis der dortigen Geschäfte zu erhalten. An Frankfurt dachte ich für diese Untersuchung nicht; dort wollte ich nur auf der Durchreise einen Tag verweilen. Ich schrieb an Frau von Bismarck nach Reinfeld, um zu erfahren, ob sie und ihr Gemahl Anfangs November in Frankfurt sein würden. Die Antwort lautete:

„Sie gedenken also, im Spätherbst eine größere Reise zu unternehmen und beider Gelegenheit auch uns zu besuchen? Dazu freuen wir uns recht von Herzen und bitten, daß Sie jedenfalls bei uns wohnen, wenn Sie kommen. Wir haben zwar kein sehr schönes, aber ein recht geräumiges Haus, ganz nahe an den Bahnhöfen, und Sie können völlig ungeniert mit und bei uns leben. Bitte, nehmen Sie dies Anerbieten gewiß an.

„Sie fragen nach meiner Musik. Meine Liebe dazu hat nicht im Mindesten abgenommen, wie wäre das wohl je möglich! Die Gebrüder Müller haben mich mit ihren zauberischen, überirdischen Melodien so unbegrenzt entzückt, daß ich fast kindisch wurde in maßloser Freude. Kann es denn aber auch etwas Schöneres geben als Schuberts G-Dur-Quartett mit dem ganz einzigen Trio und Mendelssohns Es-Dur-Quartett mit der träumerischen Canzonetta und dem tieftraurigen Adagio? Ich war, was man so nennt, völlig hingerissen. Kurz, ich liebe die Musik unendlich, aber selbst betheilige ich mich sehr wenig, fast gar nicht mehr daran, habe auch starke Rückschritte gemacht.“

1Die Vermählung des Herrn von Blanckenburg mit Fräulein Maria von Thadden wurde am 4. Oktober 1844 in Trieglaff gefeiert, nicht, wie Poschinger (Neue Tischgespräche, Bd II, S. 1) angibt, im April 1846.

Begegnungen mit Bismarck

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