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IV.
Petersburg.
1859 bis 1862.

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Im Januar 1859 wurde Bismarcks Versetzung nach Petersburg entschieden. Ohne von den Intrigen etwas zu wissen, welche bezweckten, Usedom nach Frankfurt zu bringen, schrieb ich an Frau von Bismarck, daß ich diese Versetzung als ein sehr glückliches Ereignis begrüße. Es schiene mir, ihr Gemahl wäre lange genug in Frankfurt gewesen, um die deutschen Verhältnisse so gründlich als nur möglich kennenzulernen; in Petersburg würde er engere Fühlung gewinnen als irgendjemand vor ihm und das könne gerade für unsre deutsche Politik sehr nützlich werden.

Frau von Bismarck antwortete (26. Februar):

… „Bismarck ist zuerst in Berlin vor Aerger krank geworden, weil man alles so hinterrücks abgemacht hatte, aber er denkt jetzt auch, daß er sowohl hier wie in Berlin gar nichts nützen kann und in Petersburg sowohl politisch wie persönlich beim Kaiser eine sehr angenehme Stellung haben wird. Das ist sein und mein Trost! Und was Sie darüber denken, ist ihm natürlich wieder aus der Seele gesprochen.“

Frankfurt, 30. März 1859.

… „Uebermorgen werden Sie mit vieler Herzenstreue und Liebe an meinen allerbesten Schatz denken und an mich, die zum ersten Male seit 12 Jahren diesen Tag ohne ihn verleben muß – zwölf Jahre haben wir in unaussprechlichem Glück zusammen verlebt – die kleinen Wolken, die sich ’mal hin und wieder erhoben, sind gar nicht zu rechnen, wenn ich all’ die Freude, all’ denSegen, all die Liebe darüberlege, mit der der Herr uns so überreich erquickt – wirklicher Schmerz ist nur gewesen wenn wir getrennt waren …

„Am 25ten hat Bismarck von Kowno gesund und heiter so geschrieben: 11 Uhr abends. Von Königsberg Schneegestöber bis hier, Alles weiß, 2‒7° – Eis. Auf 32 Meilen 28 Stunden mit Courrier-Pferden gefahren, in Preußen und Rußland gleich schlecht. Eben bei schöner klarer Winternacht über Riemen gesetzt. Alte Stadt, Flußufer bergig, hübsch beleuchtet von Sternen, Schnee und Hauslichtern; schwarzes rauschendes Wasser, breit wie Elbe. Russen sehr liebenswürdig, aber schlechte Pferde, manchmal gar keine. Hier wollen wir 4 Stunden schlafen, dann weiter nach Dünaburg.

Diesen Strudelwitz-Prudelwitz-Zettel bekam ich eben“.

Frankfurt, 5. April.

… „Nach 108 Stunden ununterbrochener Reise von Königsberg ist Bismarck den 29. morgens glücklich in Petersburg angelangt – viel Abenteuer erlebt mit stürzenden Pferden, Flußübersetzungen, Schneesteckenbleiben, 12° Kälte, Russisch-Lernen, u. s. w. – aber es ist doch alles sehr gut überstanden, Gott sei Dank, und er nun für’s Erste im Hotel Demuth etabliert“ …

Frankfurt, 5. Mai.

… „Von Bismarck hatte ich gestern einen herzlieben Brief. Er hat ein wundervolles Quartier gemiethet unweit der Newa, mit Aussicht auf Schiffsverkehr und Stadt und fernhin einen Schatten von Wald und Hügel … Er ist: zufrieden, ich also auch – er arbeitet Tag und Nacht und wird geliebt von Kaiser und Kaiserin wie ein verwandtes Wesen. Gott segne sein Thun und Denken.“ …

Wiesbaden, 12. August 1859.

… „Bismarck hatte mir von Petersburg geschrieben, er wäre an rheumatischen Leiden erkrankt und wiederhergestellt. Es war aber dabei vieles liebevoll verschwiegen. Man hat ihn in Petersburg ärztlich schändlich mißhandelt mit Kuren (inneren und äußeren), von denen kein vernünftiger Mensch eine Idee hat. Die Berliner Aerzte konnten sich gar nicht beruhigen über solch’ förmlich wahnsinniges Verfahren und nannten es Gottes Wunder, daß er dabei am Leben geblieben! – Er reiste ganz elend ab, nachdem das verrückte Doktor-Volk ihn so weit gebracht, daß sie dringend Luftveränderung anempfahlen. Durch die Reise wurde er natürlich viel schlimmer und war in Berlin jämmerlich elend, ganz gebrochen, lahm, nervös bis zum Aeußersten, Fieber bis zu 115 Schlägen in der Minute, völlig theilnahm- und gedankenlos, matt und schwach zum Umsinken. Von Reinfeld war ich ganz lustig abgefahren (telegraphisch von ihm bestellt), weil ich glaubte, ich wäre ihm wegen Besorgungen nützlich und nun fand ich ihn in dem jammervollen Zustande! – Die Doktors sprachen dringend von Wiesbaden sobald als möglich – ich konnte nicht mehr zurück, meine geliebten Kinder zu sehen, und mußte mit meinem armen lieben Otto hierher in’s alte heiße Bad – worüber er so niedergeschlagen war, daß ich alle meine Kinder-Sehnsucht verbiß und nur fröhlich sein wollte, um zu scheuchen, was ihn trüb machte.

„In Berlin hat er 14 Tage ausdauern müssen, lag fest im Bett ohne Rücken und Rühren, dann einige Stunden auf dem Sofa, dann ein bisschen Ausfahren und dann gleich hierher …

„Die Bäder und Brunnen stärken ihn täglich mehr, so daß er jetzt schon einmal um den Teich herum riskieren kann, freilich am Stock und ziemlich steif, aber es geht doch und wir finden Wunder was für Vergnügen an diesem Spaziergang! Unser Haus liegt nahe am Kurgarten und wir gehen täglich bis zu den Bäumen hinter dem Kursaal, sehen in den Teich, sehen durch offene Fenster in die Spielsäle, trinken Selterswasser und hören schlechte Orchestermusik. Das ist unsre tägliche Beschäftigung draußen – drinnen liegt er meist auf dem Sofa, liest oder hört, was ich ihm vorspiele auf einem mittelmäßigen Pianino, und ich sitze bei ihm von früh bis spät. So leben wir ohne Abwechslung, ganz stillchen eine Stunde nach der andern. Die Frankfurter Bekannten sind alle auf dem Lande oder in entfernten Bädern. Hier in Wiesbaden kennen wir keine Seele – mich freut’s für seine Nerven, denen die Ruhe so Noth thut, die so entzwei waren, daß er in Berlin, als es etwas besser ging, er dringend nach Musik verlangte und ich ihn eines Morgens, nachdem er aufgewacht, auf einem heimlich beschafften Klavierchen mit einem Choral überraschte – in helle Thränen ausbrach vor Freude und Wehmuth! Daran können Sie abmessen, wie furchtbar elend er durch und durch gewesen … Gott der Herr ist mir aber recht nahe gewesen, immer und immer, so habe ich mir schon durchhelfen können.“ …

Reinfeld, 23. Oktober.

… „In Wiesbaden haben wir in heißer Luft und heißem Wasser 14 Tage lang Heilkraft gesucht, aber nicht gefunden, es blieb ziemlich gleich von Anfang bis zu Ende, die Schmerzen kehrten sogar wieder. Ich zog unsern früheren Frankfurter Arzt Dr. Struck zu Rath. Der stimmte aber sofort gegen alles, was man in Berlin und Wiesbaden verordnet, und schickte uns eilends nach Nauheim, was meinem lieben Otto in jeder Weise so wunderbar gut that, daß er nach 8 Tagen wie ein anderer Mensch war und nach 16 so viel besser, daß man uns ziehen ließ. Am 7. September früh ging’s von Nauheim nach Berlin und dort fanden wir eine telegraphische Depesche vom Regenten, die Bismarck schleunigst nach Baden beschied. Wir besorgten in kurzer Zeit möglichst viel und jagten dann nach Norden und Süden auseinander.“ …

Ende Oktober kamen der Prinzregent und der Kaiser Alexander in Warschau zusammen und reisten dann zu einer Truppenbesichtigung nach Breslau. Bismarck war natürlich immer zugegen. In Breslau konnte ich ihm während zweier Tage morgens vorspielen und später verschiedene kleine Dienste erweisen. Er lud mich ein, ihn bald in Petersburg zu besuchen, erzählte viel von seiner Krankheit und äußerte sich abfällig auch über Berliner Aerzte, welche ihn durch zu starke Dosen von Jod dem Tode nahegebracht hätten. Erst nachdem seine Frau die Jodflasche zum Fenster hinausgeworfen, wäre ihm besser geworden.

Bald darauf trat er mit der Familie die Reise nach Petersburg an, erkrankte aber schwer an einem Ruhetag bei Herrn von Below in Hohendorf (Ostpreußen).

Frau von Bismarck schrieb am 30. Januar 1860 aus Hohendorf:

… „Zwölf Wochen sind wir nun hier, und was Liebe und Güte irgend auf der Welt zu leisten vermag, das haben wir hier in überreichem Maß von der ersten Stunde an jeden Augenblick erfahren, so daß kein Mund genug davon rühmen, kein Herz genug dafür danken kann! Wer ebenso ist’s auch nimmer zu beschreiben, was wir ausgestanden in namenloser Todesangst und Sorge, Verzagtheit – ach fast Verzweiflung – alle die schreckliche Krankheitszeit der ersten gefährlichsten Wochen, wie nachher, als die Genesung wohl eintrat, nach Doktors Worten – er aber stets zurückfiel in die alten Zustände und ich mich fast aufrieb in unaufhörlicher Todesbetrübniß. ‒

„Seit Neujahr ist es nun doch anders geworden; wenn die große Mattigkeit, Trübseligkeit, Schlaflosigkeit auch noch wiederkehrte und die aufkeimende Hoffnung zu Schanden machen wollte, so sah es doch im Ganzen besser aus, seit er hinauskonnte – 5 Minuten, 10 Minuten, nach und nach bis zur halben Stunde.

„Und seit den letzten 8 Tagen scheint es mir weit frischer zu gehen und ich glaube nun fest, daß Gottes Barmherzigkeit ihm die alten Kräfte noch einmal wiedergeben wird – worauf ich nicht zu hoffen wagte all die vergangenen Wochen. ‒

„Was wird nun? Ja, wer weiß es! Ich nicht! Kein Mensch kann’s sagen. Bismarck spricht entschieden von Rückkehr nach dem gräßlichen Petersburg, wogegen Aerzte predigen und Freunde warnen. Wenn er alles aufgeben möchte, was mit Politik und Diplomatie zusammenhängt, wenn wir, sobald er ganz gesund wäre, schnurstracks nach Schönhausen gingen, uns um nichts kümmernd als um uns selbst, um unsre Kinder, Eltern und die wirklichen wahrhaften Freunde, das wäre meine Wonne. Dann würde er gewiß bald wieder so stark und frisch werden wie vor 10 Jahren, als er eintrat in diese unleidliche stürmische Diplomaten-Welt, die ihm gar nichts Gutes gebracht – nur Krankheit, Aerger, Feindschaft, Mißgunst, Undankbarkeit und – Verbannung; wenn er den Staub seiner lieben Füße über den ganzen nichtsnutzigen Schwindel schütteln und all’ dem Unsinn entrinnen wollte, in den er mit seinem ehrlichen, anständigen grundedlen Charakter nie hineinpaßt – dann wäre ich vollkommen glücklich und zufrieden! – Aber – er wird’s leider wohl nicht thun, weil er sich einbildet, dem „theuren Vaterland“ seine Dienste schuldig zu sein, was ich vollkommen übrig finde.“

Hohendorf, 26. Februar 1860.

… „Endlich kann ich Ihnen die liebliche Botschaft von seiner Genesung geben. Sie wissen, wie viel an seinem geliebten Leben hängt! Mein Herz ist so voll von dem Jubel über sein Wohlsein, daß die Feder gleich davon überströmen muß! Gottlob, daß sie es kann …“

Berlin, 14. April 1860.

„… wir sitzen seit Anfang März noch immer hier, erst durch Krankheit, dann durch Entschlußlosigkeit des Ministeriums aufgehalten! In welcher Stimmung, können Sie sich ungefähr denken, wenn ich Ihnen sage, daß wir Abschied von den Kindern und Eltern genommen auf höchstens 8 Tage, die jetzt runde vier Wochen geworden sind.“

Petersburg, 23. Juni 1860.

… „Seit dem 5ten sind wir hier eingezogen, hatten eine langsame ziemlich bequeme Reise durch polnische und russische Steppen von Mittwoch früh bis Dienstag früh, fast 8 Tage, sind den ersten Morgen hier derb durchgeweht worden von einem eisigen Orkan (Thermometer stand auf 0), haben die ersten 8 Tage bitter gefroren, sind dann aber durchglüht worden von einer Hitze, die mir im Vaterlande nie vorgekommen … Es ist eine merkwürdige, unendliche Stadt, dies in jeder Beziehung steinreiche Petersburg. Schön, man kann’s nicht leugnen, und großartig. Unsere Wohnung liegt charmant am Quai – und der Schiffsverkehr ohne Ende von einem Licht in’s andre – der wundervolle Sonnenuntergang, die ewige Abendröthe durch die ganze Nacht, die eigentlich nur helle Dämmerung genannt werden kann, macht mir viel Freude! Ebenso die Spazierfahrten auf den Inseln in sausender Carriere und nach Zarske und Pawlowsky… Bismarck geht’s, Gott sei gepriesen, recht gut! Er ist wohl noch nicht der Alte wieder, aber ich hoffe, das kommt mit der Zeit. … Musik habe ich bis jetzt nur genossen in den russischen höchst merkwürdigen mysteriösen Melodien, die das Volk auf der Straße, auf den Inseln, fahrend, gehend, reitend, arbeitend immer und immer singt …“

21. Juli.

… „Bismarck hat vier Wochen Karlsbader Brunnen getrunken, der ihm gar nicht gut that, so daß ich zu meiner Freude endlich den Schluß durchgesetzt, der erst zwei Wochen später erfolgen sollte … Er mußte Ruhe haben, der geliebte Bismarck, aber er hat keine Ruhe d a z u und fühlt sich höchst unglücklich ohne Beschäftigung – so muß man sich fügen. Aber Angst ist mir sehr um ihn und Gott möge in Gnaden dreinsehen, ihm mehr Schlaf und Nervenstärkung geben. Krank ist er gottlob nicht, aber es war noch kein Tag, an dem er sich vollkommen kräftig gefühlt …“

* * *

Wiederholten Einladungen folgend, erreichte ich auf dem Stettin-Petersburger Postdampfer am Morgen des 28. August die Newa-Stadt. Oberhalb der Landungsstelle am südlichen Ufer lag damals die Wohnung unseres Gesandten.

Das Haus enthielt große und bequeme Wohnräume und ausreichenden Platz für die Kanzlei. Das hübsche Arbeitszimmer des Gesandten lag an der Nordseite und gewährte aus zwei Fenstern den Blick auf den Strom, eine Brücke und in der Ferne einen Waldessaum. Dieselbe Aussicht war aus den vier Fenstern des großen Damensalons, in dessen Mitte der Flügel stand. Das Eßzimmer lag am Hofe und führte zum Hinterhause. Die ganze Wohnung war größer und eleganter als die beiden in Frankfurt verlassenen, aber für große Gesellschaften gegenüber den Petersburger Ansprüchen nicht groß genug.

Beim Frühstück sagte mein gütiger Wirt: „Da Sie gern reiten, habe ich Pferde nach den Inseln vorausgeschickt. Ist es Ihnen recht, so fahren wir dorthin.“

Frau von Bismarck fuhr nicht mit; nach der Frankfurter Zeit hat sie nicht mehr geritten, um sich ganz den heranwachsenden Kindern widmen zu können. ‒

Wir fuhren also zu zweien in einer kleinen offenen Droschke. Die beiden kleinen Pferde gingen in gestrecktem Galopp auf dem Straßenpflaster und den Chausseen, im Schritt auf den Brücken, niemals im Trabe. Unser Weg führte ostwärts den Quai entlang, an den kaiserlichen Palästen vorbei und über eine tausend Schritt lange hölzerne Brücke.

Die Newa ist der breiteste Strom, den ich kenne. Im nahen Ladogasee völlig abgeklärt, hat sie keine trübenden Zuflüsse aufzunehmen und ist durchsichtig bis zu bedeutender Tiefe. Sie liefert für ganz Petersburg das Trinkwasser. Bismarck sprach mit Lebhaftigkeit von der Schönheit des großen Stromes, über welche er sich jeden Tag freue.

Die von mehreren Newa-Armen gebildeten Inseln enthalten Flächen von einigen Quadratmeilen und sind ganz von Parkanlagen und Landhäusern bedeckt. Wäldchen von Tannen, stark entwickelten Birken, Erlen und Ahornen umkränzen weite Rasenflächen.

Die Nachmittagssonne war so warm, daß Bismarck den Sommerüberrock auszog und auf den linken Arm nahm. Er erlaubte mir nicht, ihm diese kleine Last abzunehmen.

Das Wetter blieb schön in der ganzen Woche meines Petersburger Aufenthaltes und der Ausflug nach den Inseln wurde daher fast täglich wiederholt.

Es war eine gesellschaftlich stille Zeit; der Kaiser in der Krim, die Großfürsten und fast die ganze vornehme Welt auf dem Lande. Fürst Gortschakoff aber wurde durch die Geschäfte in der Stadt zurückgehalten. Als er eines Tages Bismarck besuchte, bat ihn dieser, den Rückweg durch den Damensalon zu nehmen; dort würde er ihm einen heimatlichen Freund vorstellen, der doch in Berlin müsse erzählen können, daß er den berühmten Kanzler gesehen habe. Darauf beehrte mich der Fürst mit einem längeren Gespräche in reinstem Deutsch.

Den Altreichskanzler Grafen Nesselrode, welcher mit seiner schönen Tochter auf einer der Inseln wohnte, durfte ich als Begleiter von Frau von Bismarck besuchen.

Alles, was ich in Petersburg sah, interessierte mich so lebhaft, daß mir ein Abstecher nach Moskau empfohlen wurde. Eine Zeile von Bismarcks Hand an den Intendanten der dortigen kaiserlichen Schlösser, Fürsten Obolenski, bewirkte, daß dieser würdige Herr mich zwei volle Tage, vom frühen Morgen bis Mitternacht, in seinem Wagen umherfuhr und wie einen Verwandten bewirtete. Ich wurde tief berührt von dem Zauber echt russischer Gastfreundschaft, dank der persönlichen Verehrung des Fürsten für unseren Gesandten.

Die letzten Petersburger Tage brachten mir einige politische Aeußerungen Bismarcks.

„Es war“, sagte er, „die Partei des ‚Preußischen Wochenblattes‘, die mit der Regentschaft ans Ruder kam. Von diesen Herren kannte ich Albert Pourtales etwas näher, schon von der Schule her. Er und sein Bruder wurden dort die „Pourtaliden“ genannt. Ich traf ihn einmal im Januar 1859 und sagte ihm: ‚Ihr scheint zu glauben, daß Ihr hexen könnt. Ihr meint, durch die jetzige, freudig erregte Stimmung der öffentlichen Meinung würden alle Schwierigkeiten beseitigt, alle Fragen gelöst werden. Aber der Rausch wird bald verfliegen und dann wird es darauf ankommen, ob einer von Euren Ministern etwas kann. Ich glaube das nicht; ich fürchte, weder den inneren noch den äußeren Schwierigkeiten werdet Ihr gewachsen sein.‘

„Schneller, als ich dachte, hat sich das erwiesen. Die auswärtige Politik während des italienischen Krieges war schwankend und schwach. Ich dachte damals noch, daß ich vielleicht einigen Einfluß ausüben könnte, und aus alter Frankfurter Gewohnheit schrieb ich mir die Finger ab, um zu verhindern, daß wir ohne Sicherheit ausreichender Entschädigung wie Vasallen Oesterreichs in den Krieg einträten. Dennoch wurden fünf Armeekorps mobilgemacht; und vielleicht hat nur der übereilte Vertrag von Villafranca uns davor bewahrt, steuerlos in einen unabsehbaren französischen Krieg hineinzutreiben, dessen Früchte, wenn wir siegten, Oesterreich und die Mittelstaaten uns verkümmert haben würden.

„Und erst im Innern! Das Ministerium verfügte über eine große Majorität, denn die meisten Abgeordneten waren von seiner Farbe. Nun war ja schon in der ersten Kundgebung des Prinzregenten erwähnt, daß Verbesserungen der bestehenden wohlfeilen Heeresverfassung unerläßlich sein würden, damit die Armee im entscheidenden Augenblicke sich bewähren könnte. Zu Anfang dieses Jahres werden endlich die Reorganisationspläne vorgelegt. Alles kommt darauf an, sie durchzusetzen; aber die Minister üben keinen Einfluß auf ihre Freunde. Die Sache wird in der Kommission abgelehnt und gar nicht ins Plenum gebracht. Das war ein übler Mißerfolg; denn wir brauchen die Verstärkung und Verjüngung der Armee so nötig wie das tägliche Brot. Roon, der dem Hause noch unbekannt war, konnte die Sache nicht machen. Aber die alten Parteiführer Auerswald und Schwerin hätten ihre Leute wie Vincke und Stavenhagen zur Vernunft bringen müssen. Das haben sie nicht gekonnt; es fehlte ihnen die nötige Energie.

„Merkwürdig ist jetzt die Entwickelung der Dinge in Italien. Der Kaiser Napoleon scheint durch Garibaldis Erfolge und den Zusammenbruch des Königreichs Neapel wirklich überrascht worden zu sein. Sein hiesiger Botschafter, Graf Montebello sagte kürzlich: Nous voyons monter cela comme la marée et nous ne savons que faire. Voilà l’impuissance des hommes vis-a-vis des événements.“

Als ich endlich abreisen mußte, begleitete mein gütiger Wirt mich zum Bahnhof und sagte dort: „Sehen Sie nur in den Wartesälen die Menge eigentümlicher Gesichter, Bärte und Trachten. Geschickte Maler sollten herkommen, um Studien zu machen.“

* * *

Frau von Bismarck schrieb am 17. September:

… „Bismarck kam ganz melancholisch von der Eisenbahn zurück mit den Worten: ‚– er nimmt jedes Mal ein großes Stück Heimath mit – und jetzt will ich sehr viel arbeiten, sonst bange ich mich zu sehr nach ihm.‘“ …

Petersburg 12. Oktober 1860.

… „Im Alexander-Newsky-Kloster gab’s eine Gedächtnißfeier mit sehr viel Gepränge. Unzählige Popen, kaiserliche Familie, diplomatisches Corps, sehr viel Militär, besonders Tscherkessen, und hohe Würdenträger aller Art – es funkelte und blitzte, wohin man sah. Die Kloster- und Hof-Sänger producierten prachtvolle Stimmen, die aber doch nicht an unsern Berliner Domchor heranreichen. Bismarck erschien als weißer Rittmeister, der zu meiner Freude über alle Collegen hinausragte und alle ausstach mit seinem vornehmen Anstand. Alle standen krumm und schief mit der Zeit – er allein sah aus, wie ein kaiserlicher Zwillingsbruder – und ich hatte mein stilles Vergnügen daran von meinem Versteck aus als Zuschauerin …“

* * *

Anfang November besuchte der Prinzregent den Kaiser Alexander in Warschau. Natürlich war auch Bismarck zugegen. Auf der Rückreise hielt der königliche Zug in Breslau, wo die Generalität und die Spitzen der Behörden versammelt waren und ich als Begleiter des Oberpräsidenten zu erscheinen hatte. Bismarck sah mich von Weitem und bahnte sich den Weg zu mir durch die Herren Generale, um die ganze Zeit des Aufenthalts mit mir zu sprechen. Er sagte: „Ich reite noch immer auf den Inseln, aber jetzt fehlt mir leider die Gesellschaft. Sie sollten bald einmal wiederkommen, um sich Petersburg in der Winterpracht anzusehen.“ Von Politik natürlich kein Wort.

Ein Bekannter drängte sich mit der Frage heran: „Nun, was bringen Sie uns aus Warschau?“ Er antwortete: „Schlechte Nachrichten. Das Befinden der Kaiserin Mutter hat sich in bedenklicher Weise verschlimmert.“

Am 24. November schrieb Frau von Bismarck aus Petersburg:

… „Der Tod der Kaiserin Mutter ist uns recht nahegegangen, weil sie Bismarcks große Gönnerin, ich möchte sagen, Freundin gewesen. Wir gehen nun 6 Monate wie die. kohlschwarzen Raben einher, bis an die Zähne verhüllt, leben still wie die Einsiedler und ich hoffe, Bismarcks Nerven sollen sich recht stärken in der stillen Zeit und unser häusliches Leben soll recht angenehm werden …“

2. Februar 1861.

… „Am Heiligen Abend kam ein intimster Universitätsfreund, Graf Alexander Keyserling (Bruder des Rautenburger), den eine 23-jährige Trennung ohne briefliche Brücken kein Haar breit von Bismarck entfremdet, was mir viele Freude gemacht. Sie klinkten in die alten Verhältnisse mit einer harmlosen Heiterkeit und warmen Herzlichkeit ein, wie wenn sie nie getrennt gewesen. Er lebt auf dem Lande in Esthland …

… „Vor einigen Tagen wurde ich zu der wundervollen Großfürstin Helene befohlen. Das Palais ist einzig behaglich, so wie keins wieder – schon auf der prächtigen Treppe weht’s einen wohlthuend an, in dem Hauptsalon aber ist’s so schön, daß man nie fort möchte. Und Helene, die Herrliche, in Liebenswürdigkeit strahlend, reißt mich immer wieder ganz hin, so daß ich zum ersten Mal in meinem Leben gedacht habe, es könnte hübsch sein, Hofdame zu werden, nämlich bei ihr der schönen Lieblichen! – So grundvornehm ist alles und doch fern von aller erkältenden, glatten Hofatmosphäre – kurz: reizend von Anfang bis zu Ende. Man spielte ein entzückendes Trio von Mendelssohn, das ich noch nicht kannte (Rubinstein, Wieniawski und ein Namenloser). Darin kam ein Scherzo vor, so einschmeichelnd und übermüthig zugleich, daß ich ganz verging in stiller Wonne. Und die großfürstliche Helene in demselben Freudenrausch wie ich ließ das Scherzo wiederholen“ …

Den 21. April 1861.

… „Bismarck hat mehrmals kleine rheumatische Anfälle gehabt, die mich vielleicht mehr alterierten wie ihn. Außerdem sind seine Nerven immer in einem so erbärmlichen Zustande, daß man ihn nur mit Bangigkeit ansehen kann“ …

1. Juni 1861.

… „So Gott will, ziehe ich den 5ten in das Heimathland ab mit Kindern, Lehrer, Französin und Dienstboten, leider noch ohne Bismarck, der mir in drei bis vier Wochen zu folgen hofft … Mir wird die Trennung von ihm zum Weinen schwer – und wenn er ein Wort vom Bleiben sagte, rührte ich mich trotz aller Heimathssehnsucht nicht von der Stelle – aber er treibt mich mit aller Macht fort um Billchens willen, damit die Hitze uns nicht Schaden bringend überfällt wie im vorigen Jahre“ …

Reinfeld, den 20. Juli 1861.

… „Er ist gekommen! – Nicht ‚in Sturm und Regen‘7, sondern im herrlichsten Sonnenschein – gestern, ohne jegliche Anmeldung, ganz überraschend – umso schöner! … Er soll Kissinger hier trinken und Soole baden, auch hier, zu gleicher Zeit, drei bis vier Wochen lang – dann noch eine drei bis vier Wochen lange Ostseeabkühlung in Stolpmünde.“ …

8. August.

… „Unsere Reinfelder Existenz ist unbeschreiblich angenehm, so ruhig, wie ich sie nur irgend zu wünschen vermag. Bismarck hat nun 16 Kissinger Flaschen und 7 Soolbäder überwunden und trinkt und badet fröhlich fort. Die Reinfelder Stille behagt ihm herrlich. Niemand stört ihn hier. Diplomaten sind in weiter Welt, Vettern tief in Erntefreuden vergraben und die alten und jungen Dämchen, die sich manchmal, aber selten blicken lassen, derangieren ihn nicht in seinen Spaziergängen, seiner ‚Hausblätter‘-Lektüre und dergleichen harmlosen Vergnügungen, die er hier treibt. Ich hoffe, er soll durch solch’ sanftes beschauliches Leben recht gesund werden, und bitte Gott innig, daß Er’s ihm segnen möge an Leib und Seele.“ …

Reinfeld, 15. Oktober.

… „Als wir von Stolpmünde auseinanderflogen, wähnte Bismarck in acht Tagen spätestens wieder da zu sein. Es sind aber drei Wochen geworden, die er in Coblenz und Berlin, dann in Schönhausen, Kröchlendorf, Külz und Zimmerhausen zugebracht. Von Letzterem hatte er Blanckenburg gleich mitgenommen, mit dem er zwei Tage hier war. Gottlob sehr munter. Vorgestern eilte er weiter nach Königsberg, wo, wenn die Krönung vorüber, unser Schicksal sich entscheiden soll, über welches noch immer so viel Möglichkeiten auf und nieder schwanken, daß man schwindlich davon wird. Denken Sie, man hat ihm plötzlich London angedeutet, aber nur interimistisch für einige Monate, was mich in verbissene Wuth bringt, weil wir natürlich für die Zeit getrennt bleiben müßten, und wie weit getrennt! – Dann ist’s mit der Wilhelmstraße auch wieder ’mal nicht geheuer, dann tänzelt Paris vor uns auf und nieder und dann ist auch Petersburg wieder ziemlich sicher! So geht’s her und hin den ganzen Sommer und ich möchte mitunter vor innerer Ungeduld in alle Tische beißen …“

Reinfeld, 26. Oktober.

… „In Königsberg, als am 20. die Festlichkeiten ausläuteten, hieß es plötzlich: schleunigst nach Petersburg. Dieselbe Weisung sandte er mir.“ …

Petersburg, 25. November.

… „Es gab wohl im Sommer oft Momente, in denen mir Paris mit Klima und allerlei andern herrlichen südlichen Vorzügen besonders verlockend erschien, sodaß der Wunsch nach „Veränderung unserer Lage“ sich ziemlich fest in meine alte Seele eingenistet; aber jetzt fühle ich mich hier wieder ganz behaglich und das völlige sans-gêne, in dem ich hier, fast wie in Frankfurt, leben kann, möchte ich drüben, jenseits des Rheins, wohl sehr vermißt haben, da es mir nach 37-jähriger Gewohnheit so zur andern Natur geworden, daß ich mich in förmlichen Verhältnissen, wie sie in Paris sein sollen, gewiß nicht leicht zurechtfinden würde. Und wer hätte mir dort die Zimmer zum fröhlichen Willkommen mit Blumen und Früchten ausgeschmückt, wer hätte mich liebreich in den Arm genommen und mit lautem Jubel begrüßt wie hier meine lieben Freundinnen Bertheau und Schrenck?8 Kein Mensch weit und breit. Darum kein Wort mehr von seufzender Unzufriedenheit, nur tiefe Beschämung über alle mögliche Undankbarkeit und herzinniger Dank gegen Gott für alle gnädige Fügung und Führung.“…

4. Januar 1862.

… „Heute hatte ich einen fröhlichen Brief von Bismarck, der die Erlegung eines Elch’s meldet, welches 2 ½ Elle hoch und 3 ½ Elle lang, „also nur klein“ gewesen wäre. Er scheint zufrieden, obgleich 11 Wölfe (elf!) furchtbar aufgeregt, mitten durch’s Treiben gerannt.“ …

7. Januar.

… „Nach mehreren Jagdtagen ist er gestern sehr froh heimgekehrt mit einem Bären und einem riesengroßen Elch und gottlob recht munter trotz aller Strapazen. Den Kindern geht’s auch gut, gottlob, und sie waren gestern überglücklich durch die Bekanntschaft mit den Eisrutschbergen, auf die Baron Stieglitz uns eingeladen.“ …

29. Januar.

… „Wir husten allesamt und ich so, daß ich nächstens die Stumme von Portici spielen könnte – „italiansky banditzky“ heißt es hier –, sonst aber geht es uns leidlich gut. Fest auf Fest folgt sich, private und kaiserliche; letztere sind so brillant gewesen, zweimal, wie meine unwissenden Augen sich dergleichen nimmer vorstellen konnten. Die Diamanten, mit denen Ihre Majestät die Kaiserin geschmückt war, wurden von Sachverständigen auf 15 Millionen geschätzt.“ …

* * *

Mitte März 1862 kam ich zum zweiten Mal als Gast des Gesandten nach Petersburg. Bei meiner Ankunft war der Hausherr nicht anwesend. Wenige Tage vorher hatte ein Bauer gemeldet, daß etwa 250 Werst von Petersburg entfernt, aber unweit der Eisenbahn, ein im Winterschlaf liegender Bär zu finden wäre. Bismarck entschloß sich sogleich, dorthin zu fahren. Am Tage nach meiner Ankunft kam er zurück und schien so munter und frisch, wie ich ihn seit Jahren nicht gesehen. Er trug einen Jägeranzug von braunem Schafpelz, der mit dem gleichen Pelz gefüttert war. Nach der ersten Begrüßung ging er, ohne an Wechseln des Anzuges zu denken, im Salon auf und ab und sagte, zu mir gewendet:

„Sie konnten nicht zu den Winterfesten kommen wegen hartnäckiger Erkältungsbeschwerden. Wahrscheinlich, weil Sie zu wenig auf die Jagd gehen. Das Jägerleben ist eigentlich das dem Menschen natürliche. Und wenn man auch nur einen Tag in den Wäldern sein kann, so bringt man doch immer merkliche Stärkung mit nach Hause. Unsere gestrige Jagd freilich war verfehlt. Der Bär kam zwar gerade auf mich los in langsamem Trabe, aber ein anderer Jäger verscheuchte ihn durch einen vorzeitigen Schuß und er ging zwischen den Treibern davon. Dennoch freue ich mich, einmal wieder in der beschneiten Waldwildnis geatmet zu haben. Es geht nichts über Urwälder, in denen keine Spur von Menschenhänden zu finden. In Rußland gibt es deren noch viele, wahre Jägerparadiese. Auch bei Ihrem Vetter Sacken in Dondangen, wo ich vor Jahren zwei Elche schoß, gibt es noch Urwälder. Dort haben Sie ja auch gejagt. In Deutschland gibt es zwar keine großen Urwälder mehr, aber doch herrliche Waldungen in Masse, wo man Erquickung und Stärkung finden kann.“

Dieser Aeußerungen habe ich mich später erinnert, wenn er als Minister trotz drängender Geschäfte nicht selten Einladungen zu Hofjagden annahm. Das Bedürfnis der Nervenstärkung zog ihn in die Wälder. Die durch den Ausfall eines oder zweier Tage entstandenen geschäftlichen Rückstände schnell zu erledigen, schien ihm immer leicht zu gelingen.

Abends saßen wir rauchend am Kaminfeuer. Er erzählte von verschiedenen Bärenjagden. „Nur einmal,“ sagte er, „ist ein angeschossener Bär hoch aufgerichtet, mit offenem Rachen, auf mich zugekommen. Ich ließ ihn bis auf fünf Schritte herankommen und gab ihm dann zwei Kugeln in die Brust, wonach er tot hintenüberfiel. Ich hatte dabei keinen Moment das Gefühl, mich in einer Gefahr zu befinden. Hinter mir stand immer der Jäger mit einer zweiten geladenen Doppelbüchse. Die andern Bären, die ich erlegen konnte, fielen unter Feuer, ohne sich aufzurichten. Es ist gewöhnlich eine sehr leichte Jagd, denn der aus dem Winterschlaf aufgeweckte Bär ist noch träge und langsam. Im Sommer jagt man ihn nicht, da wäre er für die Treiber zu gefährlich.“

In den Wohnzimmern erschienen damals mitunter zwei kleine Bären, deren possierliche Bewegungen Jung und Alt belustigten. Eines Abends war eine irdene Schale mit Milch für eines der Tierchen auf die Thürschwelle des Salons gesetzt. Die Milch war, wie nachher konstatiert wurde, sauer geworden. Der kleine Bär beschnupperte die Schale, holte dann mit der rechten Tatze aus und schlug von der Seite so heftig dagegen, daß die Schale an der nächsten Wand in Stücke sprang. Allgemeine Heiterkeit. – Als Bismarck Petersburg verließ, schenkte er die Bären dem Zoologischen Garten in Frankfurt a. M.

Hoffeste gab es natürlich in der Fastenzeit nicht; doch hatte ich auf einem Raout bei dem Fürsten Gortschakoff Gelegenheit, den Kaiser Alexander zu sehen und zu hören, wie er sich längere Zeit mit Bismarck unterhielt, zum Teil in russischer Sprache. Ich bezweifle, daß je ein anderer Diplomat dem Kaiser dieses Vergnügen hat bereiten können. Bismarck aber hat während der ganzen Zeit seines Petersburger Aufenthaltes Unterricht im Russischen genommen. Abends, während Musik gemacht wurde, pflegte er immer in einem russischen Buche zu lesen.

Mit den beiden Knaben, Herbert und Bill, lief ich fast täglich Schlittschuh auf der Newa, bei hellem Sonnenschein und 8‒10 Grad Kälte. Herbert begleitete mich auch mit seinem Hauslehrer, dem Kandidaten Braune, in die kaiserlichen Schlösser und zeigte dort vor historischen Bildern überraschende Kenntnisse in der neuesten Geschichte. Sein Vater hatte die große Güte, mich einmal in eine Gemäldegalerie zu führen, doch schien mir das mehr ein Akt ausgesuchter Höflichkeit als eine Folge besonderen Interesses für die Bilder.

An dem Mittagessen (6 Uhr) pflegten teilzunehmen der damals schon als Schriftsteller bekannte Legationssekretär von Schlözer (nachmals Gesandter beim Vatikan) und der Attaché von Holstein. Von gelegentlichen Tischgästen darf ich erwähnen einen früheren preußischen Offizier, Oberst von Erckert, der lange im Kaukasus gewesen war und damals in Petersburg ein Infanterieregiment kommandierte, den Staatsrat von Brevern sowie den ehemals berühmten Klavierspieler und Komponisten Adolf von Henselt.

In politischer Beziehung war Bismarck damals wenig mitteilsam, vielleicht, weil die bevorstehende Versetzung nach Paris und der nicht unwahrscheinliche spätere Einzug in das Ministerium seine Gedanken auf künftige Probleme richteten. Mehrmals erwähnte er, daß er dienstlich in der Vertretung der Interessen der in Rußland lebenden Deutschen „seine Schuldigkeit“ thue, in der europäischen Politik aber keinerlei Initiative nähme und sich passiv verhalte, was den immer auf Intrigen gefaßten Fürsten Gortschakoff sehr befriedigte.

Als ich nach vierzehntägigem Aufenthalt abreiste, begleitete er mich wieder zum Bahnhof. Dort sagte er: „Ich würde mich über Ihren Besuch noch mehr gefreut haben, wenn ich Ihnen eine Bärenjagd geben und Sie da zu Schuß bringen gekonnt hätte. Aber in den letzten Wochen ist kein Bär gemeldet worden.“

* * *

Frau von Bismarck schrieb am 16. April:

… „An Bismarcks Geburtstag wurden wir von der Großfürstin Helene zu einem kleinen Diner befohlen, worüber ziemliche Verblüffung in der kleinen und großen Familie herrschte. Nach Bismarcks Anordnung gab es hier um 3 Uhr mit sämtlichen Gesandtschaftsmitgliedern (5), Keyserling, Erckert, Kindern und Lehrer fröhliches Geburtstagsfrühstück und um ½ 7 zweite Auflage in Form und Feierlichkeit bei der Großfürstin. Die kleine Verstimmung vergaßen wir bald in Gesellschaft der wirklich strahlend liebenswürdigen Helena, die uns am ganz kleinen runden Tisch um sich versammelte (nur Keyserling, Suwarow und ihre bevorzugte Hofdame Fräulein von Rahden, außer uns) und eine so unbefangene, interessante, lustige Unterhaltung in Gang brachte, als wäre es der intimste Freundeskreis. Nach Tisch verwöhnte sie die passionierten Raucher noch mit ausgezeichneten Cigarren, und als sie uns um ½10 Uhr entließ, wollte sie keinen Abschied nehmen, „weil es ihr zu schwer würde“ … Jetzt werden täglich viele Visiten absolviert, 50 habe ich überwunden, 39 noch vor mir, dazu die wahrscheinlichen Abschieds-Couren in Palais Michael und Leuchtenberg und verschiedene Freundschaftsabende … So viel steht fest, daß wir eine angenehmere, bequemere Stellung wie hier nirgend wieder finden werden – weshalb wir wirklich mit Wehmuth von Petersburg scheiden, trotz Klima und Theuerung – die lieben Schrenck und Bertheau noch gar nicht eingerechnet, von denen der Abschied mir wahrhaft schwer werden wird. … Keyserling ist ein wahres Prachtexemplar innerlich, trotz äußerer Unscheinbarkeit. Er hat einen ganz ungewöhnlich scharfen Verstand und richtiges Urtheil nach jeder Richtung hin; er ist nicht wie ein trockner Gelehrter, sondern wie ein farben- und duftreicher Blumengarten – voll zarter Poesie –, wie man es sehr selten im Leben findet … Ich werde diesen liebsamen Freundschaftsverkehr schmerzlich vermissen, wenn ich mich in Paris oder sonstwo mit den langweiligsten Creaturen abquälen muß.“ …

Den 30. April.

… „Vorgestern Gratulationscour und Ball im Kaiserlichen Palais, höchst glänzend und fröhlich für die tanzlustige Jugend. Mir war’s zu voll und zu heiß für meine ehrsamen Jahre. Ich habe mich mit angenehmen Abschiedsregrets von rechts und links unterhalten lassen und meine Augen an den kaiserlichen Diamanten zum letzten Mal geblendet. … Des Kaisers wiederholter Händedruck wie der außerordentlich weiche herzliche Ton seiner wohlklingenden Stimme, mit dem er „aufrichtig lebhaft bedauerte“, daß man uns nicht in Petersburg lassen wollte, hatte wirklich etwas Rührendes. Bismarck hat mehrmals gesagt, daß die herzliche Manier des Kaisers unwiderstehlich sei, was ich nie glauben wollte – aber heute wurde ich selbst ergriffen, besonders bei seinen letzten Worten: „Aber wir bleiben doch immer Freunde, nicht wahr?“ Die Kaiserin war auch sehr freundlich mit huldvollster Umarmung, ebenso die Großfürstinnen Helene, Marie, Konstantine – es ging von einer Umarmung in die andere.“ …

7Anfangsworte eines beliebten Liedes von Rob. Franz (op. 4 Nr. 7).

8Frau Bertheau, Gattin eines deutschen Kaufherrn; Frau von Schrenck, Witwe eines esthländischen Grundbesitzers, lebte mit ihrer Tochter einige Jahre in Petersburg.

Begegnungen mit Bismarck

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