Читать книгу Blutspur in die Vergangenheit - Robert Zirlewagen - Страница 4
1. Der neue Wirkungskreis
ОглавлениеSamantha saß entspannt an der Bar, im zweiten Stock einer ländlichen Diskothek. Der Schweiß ihrer zweistündig ausgeflippten Tanzeinlage, mit welcher der Kopf von den aufgestauten Lasten der letzten Wochen und Monate befreit werden sollte, sorgte für eine glänzend schimmernde Haut. Da dieses rhythmische Herumhüpfen nur bedingt zum Erfolg führte, signalisierte ihre Hand dem Barkeeper gerade die dritte Whiskybestellung. Der dunkelhäutige Glatzkopf servierte das Getränk mit einem freundlichen Lächeln, wobei seine riesige Zahnlücke aufblinkte.
Seit Samanthas Einstieg bei der Kripo, markierte diese Versetzung vor vier Monaten ihr größtes Karrieretief und es schien sich nun doch tatsächlich die ungezügelt provozierende Vergangenheit zu rächen. Aktuell war es auch egal, wer oder was mit diesen Jugendsünden hätte abgestraft werden sollen. Vielmehr wurde ihr langsam klar, dass in diesem Moment nur eine Person die ganze Zeche bezahlen musste.
„Entschuldigung, bist du nicht……..???“ Es war nun innerhalb der letzten zehn Minuten schon die dritte Anmache von rechts. Die beiden von links gar nicht erst mitgerechnet.
„Nein, ich bin nicht die Piratenbraut aus Fluch der Karibik!!! Nein, ich bin nicht das Busendouble von Pamela Anderson und nein, du kennst mich auch nicht als Helene Fischer!“ Sie war mit ihren zweiunddreißig Jahren doch schon viel gewohnt. Aber weil sich in dieser Disko nur Jungs mit wesentlich weniger Lenzen herumtrieben, welche darüber hinaus offensichtlich auch noch alle den gleichen Anmachcoach hatten, verbesserte sich ihre aktuelle Situation nicht wirklich.
„Du bist es tatsächlich! Sam, das Super-Luder aus dem Ruhrpott.“
Das hartnäckige Anbaggern fortsetzend erreichte der Fan nun sogar, eines Blickes gewürdigt zu werden. An der Bar im Obergeschoss, welche eher einem thekenbesetzten Balkon um die darunterliegende Tanzfläche glich, war nicht übertrieben viel los. Außer diesem Typen, welcher ihr nun doch bekannt vorkam, gab es noch zwei wilde Zocker, die etwas weiter hinten an der Wand auf den Automaten herumhämmerten.
„Daniel???“ Er grinste erfreut, tatsächlich noch in diesem weiblichen Gedächtnis zu existieren, während Sam es kaum fassen konnte, endlich mal wieder jemand aus dem alten Leben zu treffen.
„Daniel? Der einzige Junge des Thomas-Hansen-Gymnasiums, mit dem ich nie Sex hatte.“ Dieser Joke, mit welchem sie ihn schon früher immer hochgenommen hatte, entlockte nun auch ihm ein Schmunzeln. Sie waren zwei Jahre in dieselbe Klasse gegangen und pflegten, bis auf diese Frotzelei, kein schlechtes Verhältnis. Grinsend holte Daniel zum Gegenschlag aus: „Wenn ich mich richtig erinnere, dann hatten wir doch Sex. Vielleicht ist der Grund für deine fehlende Erinnerung, dass du ja nur als Foto die Toilette mit mir teilen durftest. Allerdings muss ich dich an dieser Stelle enttäuschen. Es gab da noch Bilder von anderen Personen, welche mich wesentlich mehr anmachten.“
Ihr offenstehender Mund verriet, dass dieser Haken gesessen hatte, weshalb er sofort noch einmal zum Nachtreten ausholte: „Nein, aber im Ernst. Ich weiß mittlerweile, dass du mit diesem Spruch immer übertrieben hast. Klaus, der blonde Junge aus unserer Parallelklasse, hat mir vor zwei Jahren gestanden, dass auch er nicht……..“, jetzt musste Daniel husten und Samantha kam ins Grübeln.
„Du hast recht. Ich erinnere mich an ihn. Er war so ein hübscher smarter Popper, der mir eigentlich recht gut gefiel. Hat dir dieses Weichei vielleicht auch verraten, wieso er in meiner Gegenwart nie den Mund aufbrachte, dafür aber bei meinen Kontaktversuchen sofort den Schwanz einzog?“ Mit schmunzelndem Gesichtsausdruck nickte er und fing dann laut an zu lachen.
Doch vor der Antwort tippte er noch einmal, den Blick an den Barkeeper gewandt, auf den Whisky und hob dabei zwei Finger.
„Ja, ich glaube den Grund dafür jetzt gut zu kennen. Wir beide sind seit über einem Jahr ein Paar.“
Dieses Mal schaltete Samantha recht schnell, sprang lachend vom Hocker und umarmte den Sitznachbarn. Es überkam sie spontan und wirklich unerwartet so ein Gefühl, als hätte sie gerade eine alte Freundin wiedergefunden.
„Wahrscheinlich bist du somit der einzige Junge in diesem Schuppen, der tatsächlich nur die Absicht hat, mit mir einen zu heben. Ja, vielleicht bist du jetzt auch noch mein letzter Kumpel auf der Welt, mit dem ……,“ sie stockte und völlig unerwartet überkam sie die Melancholie, was Daniel natürlich nicht bemerken durfte.
Warum konnte sie nur so tief sinken??? Junge Menschen leben, machen verrückte Sachen und bedenken dabei nicht, dass sie in diesem Moment gerade ihre komplette Zukunft aufs Spiel setzen. Das Ergebnis war bei ihr die Flucht aus dem Ruhrpott, wo sie aufgewachsen war, und endete nun ganz im Süden Deutschlands. Alleine der herrlichen Schwarzwaldlandschaft gelang es noch einigermaßen, sie täglich zum Aufstehen zu motivieren.
Und nun kam tatsächlich ein Freund, aus der überhaupt nicht vermissten alten Zeit und weckte Erinnerungen.
„Aber sag, was treibt dich in diese Gegend?“ Mit der Frage versuchte sie ihren Gedankenwirrwarr zu überspielen.
„Beruf! Ich werde in den nächsten Monaten einen Betrieb in Eisenbach coachen. Ich weiß nicht, ob du den Ort überhaupt kennst, er liegt nur ein paar Kilometer ………,“ Sein Finger zeigte in eine Richtung, während sie nur knapp, ortskundig wirkend, abwinkte.
„Und was machst du hier?“ Ja, was tat sie eigentlich hier?
´Ein Vorgesetzter auf meiner letzten Polizeidienststelle in Freiburg hat einen Pin-up-Kalender entdeckt, auf welchem ich eigentlich vor ein paar Jahren mal eine recht gute Figur abgegeben hatte. Da bei diesem Fotoshooting jedoch komplett auf Kleidung verzichtet wurde und somit meine dienstliche Karriere stark gefährdete, erklärte er sich freundlicherweise bereit, diesen Ausrutscher zu verschweigen, wenn wir am Abend mal zusammen etwas unternehmen könnten. Nachdem er bei diesem Treffen die Formen, wie ihm vom Foto bekannt, auch noch abtasten wollte, fühlte er sich durch die Ohrfeige tatsächlich gekränkt.
Am nächsten Tag hing ich als Trophäe nackt in seinem Büro und bat, auf sein Verlangen hin, im Tausch gegen den Kalender, wieder um Versetzung.
Okay! Vielleicht sollte ich nicht gleich mit meiner kompletten Geschichte heraus platzen.´
„Du, ich habe meinen Weg bei der Polizei gemacht und leite gerade die Dienststelle in Titisee-Neustadt.“
„Aha? Eigentlich vermutete ich eher, dich einmal auf dem Chefsessel in oberster Position wiederzufinden. Vielleicht sogar als Nachfolgerin deines erfolgreichen Papas. Hast du überhaupt noch Kontakt zu deiner Familie?“
Der Barmann brachte gerade die beiden nächsten Whisky und Samantha kippte den Rest des letzten Glases schnell hinunter.
„Falsche Frage, zum falschen Zeitpunkt.“
Er nickte verständnisvoll, verstand den Stoppvermerk und lenkte den Konversationsverlauf in eine andere Richtung:
„Hast du auch einen Freund?“ Jetzt platzte ein Lacher aus ihr raus.
„Ich hätte nie gedacht, dass mich ein Mann einmal fragen würde, als wäre er meine beste Freundin, ob ich aaauuuuch einen Freund ……..???“
Darauf konnte auch er das Lachen nicht unterdrücken und stieß einfach mit ihr an.
„Aber nein! Momentan ist in meinem Leben kein Platz für eine feste Beziehung.“ Mit diesem Satz schien ihr gerade erst klar zu werden, dass das Kapitel Beziehung, seit sie vor vier Monaten den Job hier antrat, nach eh schon langer Pause, endgültig in die Tabu-Schublade verbannt wurde. Aber warum nur? Sie hatte immer Erfolg bei den Jungs und kostete dies auch intensiv aus. Während Daniel im Hintergrund weiter redete, beschloss sie, sich dem Thema Jungs wieder verstärkt zu widmen. Scheiß auf die Emotionen und die Gefühle anderer und genieße dein Leben. Egal…….
„Oder was meinst du?“ Der alte Freund blickte sie fragend an und Sam hatte keine Ahnung, zu welcher Frage sie ein Statement abgeben sollte.
„Ganz ehrlich?“
„Ja! Ganz ehrlich!“ Er wirkte etwas misstrauisch auf ihre Gegenfrage.
„Ganz ehrlich! Ich muss mal kurz auf die Toilette und mir ein paar Gedanken zu diesem Thema machen.“
Sie stand auf, schnappte ihre Handtasche und stolzierte los. Obwohl ihr die Milchbubis hier in den letzten Tagen gehörig auf die Nerven gingen, genoss sie jetzt die gierigen Blicke der heranwachsenden Opfer. Auf einmal sah sie alles wieder in einem anderen, viel helleren, Licht. Als sie an die Bar zurückkehrte, hatte sich seine Frage glücklicherweise in Luft aufgelöst und sie begann mit einem Neustart.
„Aber Daniel. Mal ganz ehrlich. So von Frau zu Frau. Hast du hier schon einen interessanten Typen ausgemacht?“ Jetzt musste er lachen, war aber trotzdem nicht um eine Antwort verlegen: „Der Türsteher ist mir sofort ins Auge gestochen. Ich stehe irgendwie auf große Muskelmänner.“
Er hatte recht. Dieser langhaarige Zweimetermann fiel auch ihr sofort ins Auge und war darüber hinaus wahrscheinlich einer der wenigen in diesem Schuppen, welcher die Dreißigermarke übersprungen hatte.
„Ja, der ist ein echtes Schmuckstück. Mal davon abgesehen, dass er wohl lieber Motorrad als Auto fährt.“ Damit spielte sie fast schon bewundernd auf sein Outfit an.
Sie quatschten noch ein wenig über die alten Zeiten weiter, bevor sich Samantha verabschiedete und draußen ein Taxi nahm.
Sie musste rund drei Kilometer fahren, um von der Walddiskothek nach Hause zu kommen. Ihre Wohnung lag am anderen Ende von Neustadt, direkt über einem Möbelhaus. Auf den gut einhundert Quadratmetern Dachwohnung hatte sie sich eine schöne Penthouseatmosphäre geschaffen.
Um drei Uhr zuhause eingetroffen, entledigte sie sich der verschwitzten, rauchigen Klamotten und sprang noch schnell unter die Dusche. Als sie danach auf direktem Weg Richtung Bett ging, lagen ihr plötzlich drei Bücher im Weg. Sie schienen selbständig aus dem Regal gefallen zu sein. Beim Zurücklegen weckte das eine, mit der Aufschrift ´Tagebuch von Samantha Bauer´, ihr Interesse. Sie nahm es mit ins Bett und schlug die erste Seite auf.