Читать книгу Haily - Roberta C. Keil - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеJemand fasste mich an. Ich schreckte hoch. Kerzengerade saß ich im Wagen und starrte ihn an. Den Anzugmann.
„Ganz ruhig, Emma. Du musst umsteigen.“
„Was?“ Ich fühlte mich benommen.
„Du wechselst das Fahrzeug!“
Er reichte mir die Hand und als ich zögerte, zuzugreifen, winkte er.
„Komm schon, es muss schnell gehen!“
Ich stieg aus dem Auto, ohne mir jedoch von ihm helfen zu lassen. Mein Blick suchte die Umgebung ab. Es war bereits dunkel und wir befanden uns in einem Waldstück. Jeder konnte mich hier ermorden und niemand würde meine Leiche je finden. Warum genau vertraute ich dieser Wärterin? Sie galt als zuverlässig, wiederholte ich innerlich.
„Steig ein!“ Der Mann schob mich zu einer Limousine. Sie war ebenfalls silbermetallic mit verdunkelten Scheiben.
Ohne weiter zu fragen, stieg ich in das andere Fahrzeug. Mein Anzugbegleiter blieb draußen. Stattdessen saß eine junge Frau am Steuer und startete den Wagen.
„Hallo Emma! Ich bin Sandy und wir werden ab jetzt zusammen wohnen und arbeiten. Freut mich, dich kennenzulernen!“
Ich starrte sie über den Rückspiegel an, versuchte mir ein Bild von ihr zu verschaffen. Im faden Schein der Innenbeleuchtung des Wagens erkannte ich klare blaue Augen und blonde lange Haare. Sie schien hübsch zu sein.
„Und wo werden wir zusammen wohnen und arbeiten?“
Mittlerweile war es mir egal, wo ich landete. Ich war müde und hasste es, weitergereicht zu werden. Wenigstens wusste ich jetzt offiziell, mit wem ich meine Reise fortsetzte. Sandy.
Ob sie auch so eine „Einer-der-häufigsten-Namen-der-Vereinigten-Staaten-Sandy“ war? Oder hieß sie tatsächlich Sandy?
„Lass dich überraschen! Ich kann dir nur sagen, mir gefällt es dort.“
Sollte ich erwähnen, dass ich Überraschungen hasste? Doch ich schwieg.
„Und wie heißt du wirklich, Sandy?“
Unsere Blicke begegneten sich wieder im Spiegel. Sie lächelte.
„Du wirst dich schnell an alles gewöhnen und in ein paar Monaten hast du vergessen, wer und was du vorher warst.“
Ich schluckte. Sie würden mich behandeln, mit Elektroschocks oder etwas Ähnlichem? Damit ich meine kriminelle Vergangenheit vergaß?
„Wie meinst du das?“
Sie lachte. Überhaupt, sie schien ein fröhlicher Mensch zu sein.
„So ging es mir zumindest. Die Atmosphäre dort ist einfach schön. Alle sind sehr herzlich. Es ist ein ruhiges Arbeiten mit viel Zeit zum Nachdenken.“
Ich nickte und lächelte zurück. Ich würde in einer wüsten Einöde landen und in einer Kommune leben, in der sich alle lieb hatten… Mein Lächeln gefror zu einer Fratze. Meine Wangenmuskeln verkrampften sich und der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, dass ich meine Zähne nicht so fest aufeinanderpressen durfte, lockerte meine Kiefermuskulatur und die Schmerzen verschwanden.
„Gibt es dort Abwechslung? Ich meine, so etwas wie eine Stadt, mit Bars oder Tanzschuppen?“
Sie lachte schon wieder. Ich beschloss, keine weiteren Fragen zu stellen.
„Nicht direkt in der Nähe, aber in den nächsten Großstädten.“
Und der Bus dorthin, den ich zwangsweise nehmen musste, fuhr vermutlich nur einmal im Monat. Ich schwieg.
Ich musste wieder eingenickt sein, denn ich schreckte auf, als es einen lauten Knall gab und das Fahrzeug fürchterlich zu hoppeln begann. Das trieb meinen Adrenalinspiegel in die Höhe und für einen Moment hörte ich mein Herz laut pochen.
„Shit!“, rief Sandy aus und bremste ab.
„Was war das?“
Sie stöhnte.
„Bist du verletzt?“, fragte ich besorgt. War der Knall ein Schuss gewesen? Hatte Big Chain mich gefunden? War Ed uns gefolgt?
„Mir geht es gut. Aber ich fürchte, dem Reifen nicht! – Bleib bitte im Wagen sitzen!“ Sie stieg aus. Es war mitten in der Nacht, die Uhr im Armaturenbrett zeigte zwanzig nach vier an. Die Umgebung war dunkel und weit und breit kein Haus oder gar ein Licht oder irgendetwas zu sehen. Sekunden schienen sich zu Minuten auszudehnen. Während mein Pulsschlag in beiden Ohren deutlich hörbar rauschte, hörte ich nichts. Und ich sah nichts. Meine Hand lag am Türgriff. Ich sollte sitzen bleiben. Aber ich ließ mir ungern von anderen sagen, was ich tun sollte. Also zog ich den Hebel und stieg aus.
Sandy zuckte zusammen, als ich neben sie trat.
„Und?“, fragte ich und rieb mir die Oberarme.
„Wie vermutet. Der Reifen. Ich muss telefonieren.“
„Kannst du etwa keinen Reifen wechseln?“
Sie sah mich im Schein ihrer Handytaschenlampe an. Dann lachte sie.
„Nicht wegen dem Reifen. Ich melde nur kurz die Panne! Wir werden uns dadurch verspäten.“ Dann wählte sie eine Nummer.
„Hi, Aiden! Wir haben eine Panne. Ein Reifen ist geplatzt. – Nein, ich denke, das ist kein Problem. – Auf der 40, kurz vor Joseph City. Ja! – Ah, okay, das ist lieb. Danke. Ich melde mich, wenn es weiter geht.“
Es gab dort also doch Männer. Zumindest einen. Aiden. Oder war es vielleicht doch nur der Mann im Anzug, der mich bis zu diesem Wagen begleitet hatte. Sandy beendete das Telefonat, öffnete den Kofferraum, suchte Werkzeug und baute den Reservereifen aus.
„Kannst du den Wagenheber platzieren?“ Sie reichte mir das Gerät. Ich nahm es, aber da wir nie ein Auto besaßen, wusste ich nicht, wie man einen Wagenheber am besten platzierte. Dennoch ging ich zu dem betroffenen Reifen und hockte mich auf den Boden. Ich wusste, es gab irgendeine Stelle, an der man das Werkzeug ansetzen musste. Aber wie sollte ich sie im Dunkeln finden.
„Aiden schickt uns Verstärkung. – Als Schutzmaßnahme.“
„Ist das der Anzugtyp?“
Sie lachte.
„Nein, Aiden ist der Boss! – Du wirst ihn mögen. Ah!“ Sie richtete sich auf. Bevor wir einen Lichtschein sahen, hörten wir das Dröhnen von Motoren. Motorradmotoren. Meiner Einschätzung nach vom Typ Harley Davidson.
Der Nachbar meiner Mutter besaß ein solches Motorrad und immer, wenn ich gezwungen war, in meinem Zimmer zu bleiben, weil meine Mutter „arbeitete“, saß ich im offenen Fenster und wartete sehnlichst darauf, dass er sein Motorrad in Gang setzte. Für diesen Moment überlagerte das Röhren der Harley die Geräusche, die aus Mutters Schlafzimmer zu mir drangen. Und für einen Augenblick konnte ich dann ausblenden, was sie dort gerade tat.
Doch jetzt machte mir dieses Geräusch eher Angst. Zwei Leuchtkegel näherten sich uns und das Geräusch der Motoren wurde lauter. War das unsere Hilfe, die der Boss angekündigt hatte? Sie kam unvermutet schnell, so mitten in der Nacht. Ich erhob mich und lehnte mich lässig an den Wagen. Den schweren Wagenheber hielt ich seitlich in der Hand, jederzeit bereit, damit zuzuschlagen.
Die Motoren erstarben. Und zwei Männer stiegen von den Maschinen. Der erste, ein Hüne, der bestimmt zwei Meter maß, ging auf Sandy zu und reichte ihr die Hand.
„Aiden sagt, ihr braucht etwas Unterstützung? Ich bin Joe Black Elk!“
„Hi, ich bin Sandy. Sie ist Emma. Tja, wir schaffen das sicher, aber möglicherweise sind wir nicht sicher.“ Sie lachte leise.
„Verstehe!“, brummte der Motorradfahrer. Der zweite kam heran und hob gleich wortlos das Reserverad aus dem Kofferraum. Ich hielt dem anderen den Wagenheber hin und trat von dem Wagen weg. Unheimlich, wie die beiden Männer hier auftauchten. Wer war dieser Aiden, dass er uns an dieser einsamen Stelle in so kurzer Zeit Hilfe schicken konnte.
Es dauerte nur wenige Minuten bis der Reifen gewechselt war und die beiden Männer sich die Hände an ihren Hosenbeinen abwischten.
„Wir geben Euch ein Stück weit Geleit. Nicht, dass Eure Pause hier Aufsehen erregt hat.“
Sandy bedankte sich brav und reichte beiden die Hand. Ich verzichtete darauf und gab dem Beifahrersitz für die restliche Fahrt den Vorzug.
„Nun werden wir die Ranch erst im Morgengrauen erreichen. Dann siehst du sie gleich von ihrer schönsten Seite.“
Sie gab eine kurze Meldung an den Boss ab, bevor sie einstieg und den Motor startete.
Eine Ranch also. In Montana? Oder Wyoming? In Colorado gab es nette Farmen. Eine Ranch bedeutete Tiere. Ich machte mir nichts aus Tieren. In Vegas gab es Straßenhunde zur Genüge. Ihre Verfassung war so schlecht, dass sie gerne als Schimpfwort herangezogen wurden, weil jeder wusste, was es bedeutete, ein ‚räudiger Köter‘ genannt zu werden. Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und genoss das gleichmäßige Dröhnen des Motors. Im Außenspiegel sah ich die Lichter der Harleys.
Gegen fünf Uhr morgens erreichten wir eine kleine Ortschaft mit einem 24-Stunden-Diner. Sandy parkte den Wagen, der sofort von den beiden Motorrädern flankiert wurde. Die Männer nahmen ihren Auftrag ernst. Dieser Aiden beeindruckte mich bereits, bevor ich ihn kennengelernte.
Als ich zur Toilette ging, fiel mein Blick in dem Gang dorthin auf ein Münztelefon. Meine Mutter kam mir in den Sinn. Vielleicht sollte ich sie anrufen. Ich brauchte ihr ja nur mitzuteilen, dass ich freigesprochen worden war. Nur, um ihr meine Unschuld zu beweisen. Mickey hatte mich in den Schlamassel hineingeritten. Und die Justiz fand den wahren Schuldigen. Er war verurteilt und ich freigesprochen worden. Nein, sie ließen die Anklage gegen mich fallen.
Mir fehlte ein Vierteldollar. Und Sandy brauchte ich sicher nicht darum zu bitten. Keine Telefonate! Black Yvis Warnung ging mir nicht aus dem Kopf. Vielleicht war es besser so. Ich schritt an dem Apparat vorbei.
Als ich an unseren Tisch zurückkehrte, nutze ich die Gelegenheit, die beiden Motorradfahrer genauer zu betrachten. Sie beachteten mich kaum, unterhielten sich mit Sandy über irgendwelche Kids.
Der ältere von Beiden trug sein Haar lang und in einem geflochtenen Zopf. Es war schon etwas angegraut. Seine dunklen Augen funkelten, wenn er von der kleinen Devon und dem klugen Dylan sprach. Es waren Native People, stellte ich nun am Aussehen fest. Der Name Black Elk verriet es mir schon in der Nacht. Der Jüngere trug sein glänzend schwarzes Haar offen und nur schulterlang. Aber seine Augen und sein dunkler Teint sprachen für seine indianische Abstammung. Er war stiller, als Joe.
Ich bekam Kaffee und Bagels, so viele ich wollte. Das erste vernünftige Essen, seit Tent City. Dort gab es täglich das Gleiche. In den vier Monaten verlor ich sicherlich mehrere Kilo Gewicht.
Sandy beobachtete mich gespannt.
„Nach Wasser und Brot sicher ein Hochgenuss, wie?“
„Na ja, das Essen im Hotel ließ schon zu wünschen übrig.“ Es musste nicht jeder wissen, wo ich die letzten Monate verbracht hatte.
„Ich habe seitdem noch nicht wieder Eintopf mit weißen Bohnen gegessen.“
Ich verschluckte mich. Sandy wusste, wie das Essen in Tent City war.
„Du warst auch…“, ich ließ das Ende offen.
„Ja, sieben Monate. Mein Anwalt war zu dämlich.“
„Oha“, entglitt es mir nur. Ich dachte, die vier Monate, die ich dort zugebrachte, wären kaum auszuhalten gewesen. Aber sieben Monate? Das war hart!
„Dann kennst du Black Yvi?“
„Ja, sie hat mich damals selbst nach meiner Entlassung ins Diamond Valley gebracht. Ich war sozusagen das Pilotprojekt.“ Sie grinste mich an. „Und weil das so gut läuft, bist du die nächste, mit der die Springfields es versuchen wollen. Also, verdirb es dir nicht!“
Ich verstand die freundliche aber klare Warnung. Hoffentlich wurde von mir nicht allzu viel Anpassung erwartet. Ich würde dann Schwierigkeiten bekommen.
Joe Black Elk sah mich an. „Folge deinem Herz! Und nicht dem, was man dir beigebracht hat. Dann machst du nichts falsch.“
Ich starrte ihn an. Seine dunklen Augen ruhten auf mir und sein Gesicht drückte Offenheit aus. Er lächelte leicht und zwinkerte mir jetzt zu. Kannte der Mann mich? Woher wusste er, welch verkorkste Erziehung ich durchgemacht hatte?
„Und wer sagt, dass mein Herz das Richtige sagt?“ Ich musste einfach provozieren. Aber der Indianer grinste mich nur an.
„Deine Augen!“ Er hob seine Kaffeetasse und trank sie in einem Zug leer. „Wir sollten aufbrechen, Kleiner. Sagt Aiden und Jacklyn herzliche Grüße von uns.“
Aiden und Jacklyn. Er gab dort eine Frau? Natürlich. Außerdem sprach Sandy von ‚den Springfields‘.
„Wir sollten weiterfahren“, riss Sandy mich aus meinen Gedanken. Jetzt im Hellen stellte ich fest, dass sie nur wenige Jahre älter war, als ich.