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Kapitel 3 - 2015

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Die Zimmertür schwang auf und eine beleibte Schwester mit strengem Dutt trat ein. Sie erblickte Gerry und stutzte kurz.

»Da sind wir ja endlich wach. Schön! Wie geht es Ihnen?« Ohne eine Antwort der offensichtlich rhetorisch gemeinten Frage abzuwarten, machte sie auf dem Absatz kehrt und fuhr im Gehen fort: »Ich rufe den Doktor.«

Direkt im Anschluss stürmten zwei Schwestern das Zimmer und überprüften, stillschweigend und routiniert, die Geräte und Schläuche. Kurze Zeit später betrat ein Mann, im weißen Kittel und mit ernster Miene, den Raum.

»Guten Morgen, Mr. Jester«, nickte dieser Gerry im Vorbeigehen zu und marschierte, ohne ihn weiter zu beachten, zum Fenster. Er öffnete beide Flügel weit und ließ eisige, trockene Luft hereinströmen.

Einige Sekunden herrschte Stille. Einzig das penetrante Piepsen des Vitalmonitors war zu hören. Aus dem Augenwinkel

beobachtete Gerry den Mann, der regungslos am offenen Fenster stand und die Winterluft zu genießen schien. Am unteren Ende des Kittels, den er trug, lugte eine ausgefranste Jeans hervor und stippte auf blankpolierte, schwarze Schuhe mit Lochmuster.

»Wir haben uns ja schon kennengelernt«, sprach der Arzt Gerry unvermittelt an, ohne seinen Blick von den ersten Schneeflocken des Jahres abzuwenden. Gerry zuckte zusammen.

»Also, ich Sie zumindest«, grinste der Mediziner breit, während er sich zu seinem Patienten umdrehte. Einen Schritt und er war am Fußende des Krankenbettes angelangt. Gerry schielte gequält zum Gesicht des Arztes hoch, welches sich von seiner Perspektive aus gesehen, in beachtlicher Höhe befand.

»Ich bin Dr. Spellman, leitender Internist hier im Arlington Memorial. An was aus den vergangenen zwei Tagen können Sie sich noch erinnern?« Verweigernd drehte Gerry seinen Kopf zur Seite. Weg von der, um den Infusionsschlauch bemühten Krankenschwester und weg von Dr. Spellman. Ungerührt sprach dieser weiter.

»Bevor ich umfassendere medizinische Schritte einleite, möchte ich gerne mit Ihnen über den…«, er machte eine Kunstpause, »…Unfall reden.« Mit diesen Worten zog er einen Stuhl ans Bettende und setzte sich. Ein kurzes Nicken in Richtung der Krankenschwestern genügte und diese verließen den Raum. Der Durchzug, der beim Schließen der Tür hereinwehte, trug den Geruch von Desinfektionsmittel und schlecht gelüfteten Gängen herein. Gerry schluckte gegen ein aufsteigendes Gefühl von Brechreiz. Er vermied es weiterhin, den Arzt direkt anzusehen.

»Ich will keine Hilfe«, brachte er mit trotziger Stimme hervor.

»Tatsächlich?«, entgegnete Dr. Spellman gespielt gelassen und schlug Gerrys Krankenblatt auf.

»Hören Sie«, ergänzte er mit stoischer Ruhe und überkreuzte die Beine, »mir persönlich, mir ist es gleich, ob Sie nächste Woche wieder hier sind. Ich rette gerne Menschenleben!« Beiläufig schnipste der Arzt eine imaginäre Fluse von seiner Hose.

»Selbst dann, wenn Patienten dem Staat auf der Tasche liegen.«

Gerry fröstelte bei diesen Worten und sah in Richtung Fenster. Doch der Mediziner machte keine Anstalten, es zu schließen. Stattdessen referierte er weiter.

»Wissen Sie, in medizinischen Notfällen, wie dem Ihren, ist das Krankenhaus durch den Emergency Medical Treatment and Labor Act gesetzlich verpflichtet, Sie zu behandeln. Sogar, wenn Sie nicht ausreichend versichert wären.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über das oberste Blatt, als würde er einen Satz unterstreichen.

»Und Sie sind nicht ausreichend versichert, wie ich hier sehe.« In Gerrys Hals formte sich ein dicker Kloß.

»Nun gut. Genug bürokratisches Vorgeplänkel.« Der großgewachsene Mediziner lehnte sich entspannt zurück und blätterte einige Seiten in der Krankenakte um.

»Wie geht es Ihrem versteiften Bein? Schmerzen?« Gerry schüttelte den Kopf. Der Arzt wiegte den Kopf von links nach rechts.

»Bei der Menge an Naproxen natrium in Ihrem Blutkreislauf wundert mich das ehrlich gesagt auch nicht. War es Aleve oder Apranax? Ach, eigentlich unwichtig.« Er schlug eine weitere Seite um. Seine Stirn legte sich in kleine Falten. Man sah ihn förmlich denken. Dann atmete er deutlich hörbar aus und schnaubte verächtlich.

»Obwohl, wenn ich das hier lese, ist es mir womöglich doch egal, ob Sie es nächstes Mal überhaupt ins Krankenhaus schaffen. Ich habe weiß Gott ausreichend Patienten, die meine Hilfe zu schätzen wissen und dankbar sind.«

Er las erneut in der Akte, blätterte mechanisch weiter und wurde fündig.

»Ah, da haben wir es ja! Sie haben Glück, besser gesagt, ich habe Glück. Sie gehören zu einem der ersten Patienten, bei

denen die Daten über ihre Aufenthalte in den vergangenen zehn Jahren zusammengefasst und in einer elektronischen Patientenakte gebündelt wurden. Ich habe hier eine druckfrische Übersicht Ihrer Krankenkarriere. Diese zusätzlichen Informationen bieten mir eine hervorragende Gesamtsicht auf Ihren Fall.« Er schlug einige Seiten um und danach wieder zurück.

»Im Januar 2012 gab es drei Blutbeutel je 450ml. Was war denn da passiert?« Gerry versank im Kissen.

»Verstehe, ein weiterer Unfall. Beim Heckenschneiden? Blutgruppe AB+. Selten, sehr selten mein Freund.« Seine Mundwinkel zuckten.

»Und ein Jahr danach, üble CO-Intoxikation. Hm, hier steht, ein defektes Abgasrückführventil.« Er nickte anerkennend. »Kreativ gelöst - aber feige.« Gerry kniff die Augen zusammen.

»Na, Sie sind mir ja ein erfolgloser Stammgast. Ich hätte da ein paar todsichere Tipps für Sie«, bot ihm der Arzt an.

»Aber was sage ich denn da, offiziell waren das schließlich alles Unfälle, nicht wahr?«

»Sie haben ja keine Ahnung!«, stöhnte Gerry heiser und funkelte den Provokateur im weißen Kittel aufgebracht an. Zum ersten Mal sahen sich die beiden direkt in die Augen.

»Wovon habe ich keine Ahnung?« Der Chefarzt richtete sich auf und beugte sich auffordernd in Richtung Bett.

»Von Schuld!«, brachte Gerry mit tränenerstickter Stimme hervor. »Sie retten täglich Leben und ich, ich habe Leben zerstört. Hören Sie? Zerstört!«

Bis auf die nervtötenden Geräusche des Vitaldatenmonitors wurde es wieder totenstill im Zimmer. Gerrys Kopf sank tiefer in das übergroße Kissen und verschmolz nahezu mit dem blassgelben Bezug. Ein nasser Fleck bildete sich neben seinem Kopf.

»Warum bekomme ich immer die Kaputten?«, dachte Dr. Spellman resigniert und schaute zum Fenster. Die tänzelnden Schneeflocken puderten in rasender Geschwindigkeit die Straßen und Dächer. In den vergangenen zwei Wochen waren es immerhin vier Suizidversuche gewesen. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Zwar war Depression eindeutig saisonal, aber eben nicht herbst- oder wintergetrieben. Statistisch gesehen verhielt es sich nämlich gegenläufig zur üblichen Annahme. Erst vor ein paar Tagen hatte er sich zufällig eine Studie zu medizinmeteoro-logischen Einflussfaktoren bei Suiziden vorgenommen. Nichts deprimierte Menschen offenbar mehr, als warme Temperaturen und der Anblick glücklich verliebter Paare bei schönem Wetter. Wie lag der Fall hier?

Laut Krankenblatt, war Gerry Jester einmal im Jahr, jeweils am zehnten oder elften Januar, eingeliefert worden. Ein Umstand, der dem Internisten erst jetzt ins Auge sprang. Spellman griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und massierte von da aus seine Stirnhöcker, hinter denen sich schleichend ein Kopfschmerz aufbaute. Der Geburtstag also!

»Wann haben Sie das letzte Mal einen Schneemann gebaut?«, fragte er unvermittelt, ohne aufzusehen.

Gerry glotzte den Mann mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt irritiert an und zuckte die Schultern.

»Als Kind, mit neun vielleicht.«

Der Arzt fing an, in seiner Kitteltasche zu kramen. Neben einer Visitenkarte, die er Gerry aufs Bett warf, brachte er zusätzlich einen Rezeptblock und einen Kugelschreiber hervor. Mit übertrieben kindlichen Strichen und Kreisen, kritzelte er einen Schneemann auf das oberste Blatt und riss das Papier ab. Spitzbübisch grinsend, überreichte er die Skizze seinem verdutzten Patienten. Danach wurde seine Miene sofort wieder ernst.

»Das hier verschreibe ich Ihnen! Dreimal diesen Winter.« Abrupt stand er auf und beförderte den Stuhl mit der freien Hand an seinen ursprünglichen Platz. Durch das weiterhin offene Fenster war die Sirene eines Rettungswagens zu hören.

»Wir haben Ihnen hier eine neue Chance gegeben. Holen Sie sich Hilfe, Mann! Ich will Sie hier nicht mehr sehen!«

Mit diesen Worten marschierte er zum Desinfektionsspender an der Tür, hielt dort aber mitten in der Bewegung inne. Er blickte zurück und deutete gleichzeitig mit dem ausgestreckten Finger Richtung Flur.

»Da draußen, da sitzen übrigens Menschen, denen Sie anscheinend etwas bedeuten. Vielleicht denken Sie auch mal an Ihre Freunde.«

Anschließend presste er zweimal den Hebel des Spenders und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen. Gerrys Magen krampfte sich zusammen, als sein Blick auf die Visitenkarte fiel - die Adresse eines Psychologen in Fort Worth.

Kaum hatte der Arzt das Zimmer verlassen, klopfte es an der Tür. Nach ein paar Sekunden wurde sie zögerlich einen Spalt weit geöffnet. Ein gepflegter, dunkelbrauner Pagenschnitt schob sich in das Zimmer. Mit geröteten, leicht geschwollenen Augen, lugte eine Frau, etwa in Gerrys Alter, verschüchtert um die Ecke. Als sie die blasse Gestalt im Krankenbett erblickte, schossen ihr Tränen in die Augen. Gerry schluckte schwer und musste sich zusammenreißen, um dem Blick der Freundin standzuhalten.

»Wie konntest du…«, brach es aus der zierlichen Frau heraus. Unfähig, den Satz zu beenden, schlug sie die Hände vors Gesicht. Hinter ihr wurde die Tür vollends aufgestoßen und gab den Blick auf einen zweiten Besucher frei. Die massive Gestalt von Gerrys Mitbewohner, Taio, wurde hinter Ruth sichtbar. Er schob die Freundin sanft in den Raum.

Gerrys Mund war zu trocken, um einen Satz herauszubringen. Seine Zunge klebte am Gaumen und er griff nach dem Wasserglas, um einen Schluck zu trinken. Ein willkommener Vorwand, um nichts sagen zu müssen.

Ruth und Taio legten ihre Mäntel ab und Taio zog zwei Besucherstühle heran.

»Ist dir doch recht, oder?«, hielt er verunsichert inne. Gerry nickte kaum merklich und stellte sein Glas zurück auf das Tischchen neben seinem Bett. Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, ab und an untermalt durch unterdrücktes Räuspern oder Schnäuzen seitens Ruth.

»Soll ich das Fenster mal zumachen?«, fragte Taio verlegen in die eisige Stille. Als Gerry teilnahmslos mit den Schultern zuckte, stand der Freund auf und schloss es.

»Hast du gesehen, es schneit?«, versuchte er, ein unverbindliches Gespräch zu beginnen. Gerry sah zum Fenster hinaus und beobachtete die dicken Flocken, die sich inzwischen wie ein weißer Teppich auf die umliegenden Dächer gelegt hatten. Dichte Wolkenformationen reflektierten das Glitzern der frischen Schneedecke und gaukelten ihm einen hellen, freundlichen Morgen vor. Dabei war der Himmel in Wirklichkeit bedrückend düster und grau. Beklommen dachte er an die deutliche Ansprache Dr. Spellmans vor wenigen Minuten.

»Gehen Sie lieber einen Schneemann bauen und suchen Sie sich Hilfe.« So, oder so ähnlich hatte ihn der selbstgefällige Arzt zurechtgewiesen. Was bildete der sich eigentlich ein?

Gerry atmete tief ein, hielt die Luft an und schloss die Augen. Ruth und Taio warfen sich einen hilflosen Blick zu. Das Unbehagen im Raum war nahezu greifbar.

»Ich bin froh, dass ihr hier seid«, brachte Gerry endlich mit rauer Stimme hervor. Jetzt gab es für Ruth kein Halten mehr. Sie heulte wie ein Schlosshund und war kaum zu beruhigen. Taio legte ihr den Arm um die Schultern, was bei seiner Spannweite dazu führte, dass von der zierlichen Frau aus der Nachtschicht der Pfandleihe kaum noch etwas zu sehen war. Ein paar Papiertaschentücher später hatte Ruth sich wieder im Griff und Gerry bot ihr sein Glas Wasser an. Sie nahm es dankbar entgegen.

»Gerry«, begann sie nach zwei Schlückchen, »du kannst immer zu uns kommen, das weißt du doch, oder?«

Er wich ihrem Blick aus, als sie ihm sein Glas zurückgab. Ruth legte ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn sanft.

»Du weißt das, oder?«, wiederholte sie. »Du kannst mich immer anrufen, egal wann.«

Schnell zog sie ihre Hand zurück, als sie spürte, wie er sich verkrampfte.

»Weißt du noch Kumpel«, sprang Taio ihr zur Seite, um den peinlichen Moment zu überspielen.

»Es hat auch so doll geschneit, als wir uns kennengelernt haben?« Seine Stimme war dabei eine Spur zu laut, sodass Gerry seine gut gemeinte Bemühung das Thema zu wechseln, sofort durchschaute.

»Als könnte ich das je vergessen«, gab er dankbar zurück.

»Du bist völlig orientierungslos durch den Supermarkt am Circle Drive gestolpert und hattest keinen blassen Schimmer, wie du das Zeug für deine Vermieterin zusammenkriegen solltest.« Taio lachte bei der Erinnerung laut auf. Doch sein Lachen klang ein wenig zu aufgesetzt.

»Was wollte Mrs. Baker noch mal haben?«, spielte Gerry das Spiel mit.

»Ganz ordinäre Auberginen. Aber du konntest ja nicht mal eine Kartoffel von einer Karotte unterscheiden. Was Essen anging, warst du damals ein echter Kretin.« Abermals lachte Taio laut. Diesmal eine Spur natürlicher. Selbst Gerry musste bei dem Gedanken an die eierförmige, violette Frucht spontan lächeln. Hätte Mrs. Baker keinen Oberschenkelhalsbruch gehabt, wüsste er vermutlich immer noch nicht, was Auberginen sind.

»Was warst du doch für ein Glückspilz, dass du ausgerechnet mich um Hilfe gebeten hast. Du würdest noch heute ein ahnungsloser, kulinarischer Banause sein«, zog Taio ihn auf.

»Ein toter Banause«, ergänzte Gerry im Geiste und griff sich an den Hals. Ein Schwall Magensäure bahnte sich seinen Weg durch die Speiseröhre und hinterließ einen ätzenden Geschmack.

Ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er, dank Taio, seinen neunundvierzigsten Geburtstag noch erleben würde, ob es ihm gefiel oder nicht. Warum, zum Henker, war sein Freund und Koch an diesem Samstag zu früh nach Hause gekommen? Taio besaß offenbar ein unbewusstes Gespür für sich anbahnendes Unglück.

Für einen Moment herrschte bedrückende Stille. Das allgemeine Schweigen drohte unerträglich zu werden, als Ruth sich zu Wort meldete.

»Taio, wärst du so nett und holst mir einen Becher Kaffee? Am Ende des Ganges habe ich einen Automaten gesehen, meine ich jedenfalls.« Der gebürtige Westafrikaner sah seine Freundin fragend an, sagte aber nichts und verließ das Krankenzimmer. Gerry war sofort klar, dass Ruth ihn alleine sprechen wollte. Doch ihm war nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken. Vermutlich würde sie die Gelegenheit nutzen, um ihm entsetzliche Vorwürfe zu machen. Er fühlte sich mit einem Mal furchtbar klein.

»Weißt du eigentlich, dass ich nur wegen dir in der Pfandleihe angefangen habe, Gerry?« Gerry schluckte. Das fing ja gut an mit den Vorwürfen. Nicht nur der Kloß, der sich erneut in seinem Hals bemerkbar machte, hinderte ihn daran, etwas zu erwidern.

»Vier Jahre ist das jetzt her, seit du mich damals in der Kirche angesprochen hast«, fuhr sie fort. Noch immer fehlten ihm die Worte. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber kein Ton kam heraus. Worauf wollte sie hinaus?

»Ich war zwar damals tatsächlich auf Jobsuche«, gab Ruth zu und strich sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht, »doch der wahre Grund für meine Zusage war, dass du mich vom ersten Augenblick an fasziniert hast.«

Als sie Gerrys hohlen Blick bemerkte, ergänzte sie: »Ehrlich, du und deine schüchterne Art, die passen so gar nicht zu deinem Äußeren.« Sie hielt inne und biss sich auf die Unterlippe.

»Ich hab mich durch deine Frage geschmeichelt gefühlt. Ich dachte echt, du wolltest mich anmachen.« Gerry schnappte nach Luft. Damit hatte er nicht gerechnet. Seine Gedanken überschlugen sich. Was wollte sie ihm sagen? Dass ihr etwas an ihm lag? Etwas, das über Freundschaft und Kollegialität hinausging? Er setzte zu einer Erklärung an, doch Ruth kam ihm zuvor.

»Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass du meine Gefühle nicht erwiderst, dass mehr als Freundschaft nicht drin war. Du warst und bist so sehr mit dir und deiner Vergangenheit beschäftigt, dass da nie Platz für jemand anderes sein wird.« Bei den letzten Worten senkten sich ihre Schultern und sie sah noch kleiner und zerbrechlicher aus als zuvor.

»Ich, ich weiß nicht, was ich sagen soll, Ruth. Ich wollte nicht…«, hörte Gerry sich selbst krächzen. Er ballte eine Faust und hielt sie sich vor den Mund.

Nie im Leben hätte er sich vorstellen können, dass es auf dieser Welt eine Frau gab, die sich auch nur im Entferntesten für ihn als Mann interessierte.

»Du musst gar nichts sagen, Gerry«, winkte sie ab. »Ich hatte mir eigentlich geschworen, dir das nie zu erzählen. Also hör einfach nur zu!«

»In Ordnung«, gab er kleinlaut zurück.

»Selbst, wenn aus uns nichts geworden ist und auch niemals werden wird, eines möchte ich, dass du weißt. Du bist nicht alleine. Du bist mir wichtig und du kannst immer auf mich zählen. Genauso wie auf Taio.« Sie schaute ihm geradewegs in die Augen.

Meinte sie das wirklich ehrlich oder steckte etwas anderes dahinter? Vielleicht der Versuch einer geschickten Manipulation? Indem sie in ihm die Hoffnung einer gemeinsamen Zukunft weckte, obwohl sie es gar nicht ernst meinte. Nur, damit er von weiteren Selbstmordversuchen absah. Wäre Ruth dazu fähig? Noch vor wenigen Augenblicken hätte er ihr dergleichen niemals zugetraut. Doch jetzt war er plötzlich unsicher. Obwohl sie schon etliche Jahre zusammenarbeiteten, musste er sich eingestehen, dass er sie im Grunde gar nicht genug kannte.

Forschend sah er sie an und versuchte, die wahren Motive der Freundin zu ergründen. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und Taio kam herein. In der Hand trug er einen Plastikbecher. Der Duft von frischem Kaffee wehte herüber.

»Ich habe dir den Kaffee mit Milch und Zucker mitgebracht«, platzte er in die Unterredung. »Ich hoffe, das war richtig. Du hast dich ja nicht genauer geäußert, Ruth.«

»Schon in Ordnung, Danke!«, erwiderte sie und warf Gerry einen verschwörerischen Blick zu, der so viel sagte wie: »Ich hoffe, du hast mich verstanden.«

Taio reichte ihr den Becher, nahm Platz und räusperte sich verlegen. Sein Blick wanderte unschlüssig von Gerry zu Ruth und wieder zurück.

»Weißt du schon, wann du raus darfst?«, bemühte er sich, das Gespräch wiederaufzunehmen.

»Morgen früh, aber ich muss direkt nach Fort Worth zur Weiterbehandlung. Ich hab einen Termin um halb zwölf.«

»Ich kann dich fahren, wenn du willst«, bot Taio hilfsbereit an.

»Danke dir, nicht nötig. Ich habe einen Transportschein vom Krankenhaus bekommen. Vermutlich wollen die sichergehen, dass ich auch wirklich hinfahre.«

Taio wirkte im Vergleich zu Ruth wesentlich gefasster. Er schien, zumindest äußerlich, mit der Situation besser klarzukommen. Noch vom Zimmer aus organisierte er mit dem Handy einen Wagen für Gerrys Abholung am Folgetag. Sogar eine Liste mit Verhaltensregeln für die kommenden Wochen ließ er sich von der Schwester zusammenstellen. Er würde sich zweifelsfrei darum kümmern, dass Gerry zu seinen Sitzungen ging und seine Entspannungsübungen machte.

Just, als Ruth und er aufbrachen, brummte Taios Handy. Er zögerte einen kurzen Moment, das Telefonat mit unterdrückter Nummer anzunehmen, meldete sich dann aber doch.

»Contée hier.« Am anderen Ende wurde unüberhörbar geantwortet. Trotz der Lautstärke, oder gerade wegen der Brüllerei, konnte man nur undeutliche Wortfetzen aufschnappen. Für Gerry reichte es aber aus, um zu erkennen, wer dran war. Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Herzschlag beschleunigte sich, was auf dem Vitaldatenmonitor deutlich Wirkung zeigte. Dieser lallende Singsang, dieser aggressive Wortausstoß. Wenn man diesem Subjekt am Telefon in Persona gegenüberstand, wurde man ständig in einem Wortschwall aus polemischen Schimpftiraden ertränkt und mit tausenden mikrofeinen, alkoholschwangeren Speichelperlen übersät. Am Apparat war niemand anders als sein Vater, Bruce.

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