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Kapitel 6 - 2015

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In den kommenden Tagen fand sich Gerry regelmäßig in der psychotherapeutischen Praxis von Dr. Vermont in Fort Worth ein. Genau, wie er es Ruth und Taio hoch und heilig versprochen hatte. Letztendlich war das auch der einzige Grund, warum er es überhaupt tat. Denn im Innersten glaubte er nicht im Geringsten daran, dass diese Besuche beim Seelenklempner irgendetwas brachten. In erster Linie dienten die Termine dazu, sein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Freunden zu beruhigen. Entsprechend zäh begannen die ersten Sitzungen. Aber ohne es anfangs zu bemerken, öffnete Gerry sich dem, behutsam und fürsorglich agierenden, Arzt. Die Therapie zeigte, zu seinem eigenen Erstaunen, Wirkung.

Die sanfte, von unendlicher Geduld geprägte, Art des Therapeuten, knackte peu à peu seinen inneren Panzer. Mittlerweile kannte Gerry Techniken, die ihm halfen, aufkommende Panikzustände rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren. Natürlich musste er noch lernen diese Maßnahmen bewusst einzusetzen. Dr. Vermont versprach, dass sie ihm, bei kontinuierlicher Übung, in Fleisch und Blut übergehen würden.

»Gerry, ich möchte, dass Sie Ihre Augen schließen und tief durch die Nase ein-, und durch den Mund ausatmen. In Ihrem eigenen Tempo. Sie fühlen sich ganz leicht und es ist vollkommen dunkel.« Eine kaum hörbare, chinesisch anmutende Musik, untermalte die, beruhigend ausgesprochen Worte.

»Eine wohlige Wärme umhüllt Ihr Gesicht. Ihre Gesichtsmuskeln sind völlig entspannt, als würden Sie schlafen. Verweilen Sie in dieser Haltung bitte einen Augenblick.« Die angenehme Stimme hatte etwas Hypnotisches.

»Nun spannen Sie alle Muskeln in Ihrem Gesicht an, verziehen Sie Ihre Miene zu einer starren Grimasse. Stirn, Nase, Mundwinkel, Kiefer, alle Partien Ihres Gesichts sind gleichsam hart wie Stein. Halten! Halten! Und, loslassen! Atmen Sie jetzt wieder tief aus! Spüren Sie der Entspannung nach! Sehr gut.« Gerry seufzte leise.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?« Progressive Muskelentspannung. Wie oft hatte er das in den vergangenen Tagen geübt. Es half! Und es wurde sogar von Tag zu Tag einfacher. Faszinierend. Nie hätte er gedacht, dass ein paar läppische Atemzüge seine Ängste lindern konnten. Hätte er das doch schon vor Jahren gewusst. Immer, wenn er mitten in der Nacht schweißgebadet, wild um sich schlagend, aufgeschreckt war.

Wenn die Bilder kamen, dann mit voller Wucht. Jedes Mal sah er sich auf die Frontscheibe des Autos zufliegen. In Zeitlupe stoben die Glassplitter um ihn herum auseinander. Er spürte immer und immer wieder die Qualen beim Aufprall auf den harten Asphalt, den explodierenden Schmerz in seinem Bein. So, als ramme ihm jemand eine glühende Stange Stahl in den Körper. Der metallische Geschmack im Mund, das warme Blut.

Doch all das war lediglich der Vorgeschmack dessen, was ihn an Seelenqualen erwartete. In jedem einzelnen, leidvollen Alptraum wand er sich vor Pein auf dem vereisten Boden der Einfahrt. Dann erblickte er seine Mutter. Ihre toten Augen starrten ihn an. Die Leere und Endgültigkeit brannten sich für die Ewigkeit ins Herz.

Gerry schreckte aus seinen Gedanken, als Dr. Vermont die Sitzposition veränderte. Der hellorangefarbene Ledersessel knirschte vernehmlich unter der Bewegung.

»Wie geht es Ihnen?«, wiederholte der Therapeut dezent die unbeantwortet gebliebene Frage. Er nahm ein Tablet vom Tisch und machte sich darauf Notizen. Gerry knetete seine rechte Hand. Irgendwie schlief sie bei den Entspannungsübungen immer ein. Wenigstens entspannte sich ein Teil seines Körpers.

»Ich fühle mich ganz okay«, gab er zögerlich zurück und es klang eher wie eine Frage. Hilfesuchend richtete er den Blick auf ein, bis zur Decke mit orangefarbenen Accessoires gefülltes, Bücherregal. Kleine und große Fische aus Beton, ein übergroßer Hase - alles Ton in Ton. Die Einrichtung der Praxis hatte eine unerklärliche beruhigende Wirkung auf Gerry. Er kam jetzt seit mehreren Tagen, um die gleiche Uhrzeit, für eine Stunde. Dr. Vermont hatte darauf bestanden, ihn, in der ersten Phase nach dem Selbstmordversuch, täglich zu sehen. Mittlerweile war er froh, dem Ratschlag des spöttischen Krankenhausarztes gefolgt zu sein. Natürlich hatten auch Ruth und Taio ihren Anteil daran gehabt.

Und er fühlte sich hier tatsächlich ganz okay. Es tat wider Erwarten gut, über alles zu reden und ernst genommen zu werden.

»Ich finde, das ist ein Anfang. Mehr dürfen Sie in der in der kurzen Zeit nicht von sich erwarten. Sind Sie bereit fortzufahren?« Gerry nickte. Er war bereit.

»In den vergangenen Tagen habe ich in unseren Sitzungen Wert daraufgelegt, dass Sie sich körperlich und geistig entspannen. Ich wollte damit erreichen, dass Sie sich selbst und Ihre Probleme akzeptieren. Nur dadurch sind Sie in der Lage sich auf den Heilungsprozess zu fokussieren.« Dr. Vermont legte das Tablet zur Seite und faltete die Hände.

»Als nächsten Schritt, möchte ich Ihnen anbieten, tiefer einzusteigen, den wahren Konflikt aufzuarbeiten.«

Gerry verkrampfte bei diesen Worten augenblicklich. Das musste ja irgendwann kommen. Der Therapeut schwieg und blickte ihn nur lächelnd an. Ein paar Minuten verstrichen, ohne, dass die Stille unangenehm wurde. Gerrys Anspannung verringerte sich mit jedem Atemzug.

»Möchten Sie mir jetzt von Ihrem zehnten Geburtstag erzählen?«, fragte Dr. Vermont schließlich. Gerry zögerte.

»Wie war das Wetter an diesem Tag, dem 10. Januar 1976?«

»Es war klirrend kalt, aber die Sonne strahlte. Wie sich das für einen Geburtstag gehört«, sagte Gerry und sein Gesicht hellte ein wenig auf.

»Ich weiß noch ganz genau, dass es schon nach Schnee roch, als ich aufgestanden bin. Und kurz bevor wir losgefahren sind, fielen dann die ersten Flocken.« Er lehnte sich zurück und man konnte in seinen Augen sehen, wie die Erinnerungen zurückkehrten.

»Kennen Sie das Fossil Rim Wildlife Center?«, fragte er Dr. Vermont.

»Ja, aber ich war leider selber noch nicht da. Das ist in Glen Rose, richtig?«

»Genau, etwa eine Stunde von hier. Der Park hat das ganze Jahr geöffnet, man kann auch im Winter mit dem Auto durch die Gehege fahren, wie bei einer Safari. Es gibt Giraffen, Zebras, jede Menge Emus und sogar Geparden.«

»Das klingt nett. Ich kann mir vorstellen, dass man dort, gerade als Kind, einen spannenden Tag verbringen kann.«

»Das stimmt.« Mit einem traurigen Unterton in der Stimme fügte Gerry hinzu: »Ich hatte mir das schon so lange gewünscht, aber der Eintritt war teuer und sie stritten sich ständig wegen Geld.« Sein Blick wurde mit einem Mal gläsern und seine Körperhaltung veränderte sich, er wirkte gedrungen, kleiner.

»Wer hat sich gestritten, Gerry?«

»Meine Mutter und … mein Vater«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Stritten sie sich oft?«

»Andauernd! Manchmal ging es um die Schule, aber meistens um Grandpas Geschäft in der Innenstadt.«

»Tun wir mal so, als wäre heute Ihr zehnter Geburtstag. Alles geschieht in diesem Moment. Können Sie sich das vorstellen?« Gerry hob überrascht die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.

»Nun gut, ich möchte, dass Sie die Augen schließen und sich entspannen. Sagen Sie mir einfach, was Sie sehen.«

»In Ordnung.«

»Streiten sich Ihre Eltern gerade?«, fragte der Arzt unmittelbar.

»Nein. Dad ist erstaunlich gut gelaunt. Er kauft mir sogar einen Corn Dog.«

»Das ist nett von ihm. Was gefällt Ihnen besonders in dem Park?«

»Die jungen Hirschantilopen! Mann, hab ich eine Angst gehabt, dass wir bei dem Wetter kein einziges Tier zu Gesicht bekommen. Es schneit nämlich, seit wir losgefahren sind. Aber Mom behält Recht. Die Wildtiere sind das gewohnt. Die Antilopen führen, vor Freude über die weiße Pracht, einen regelrechten Schneetanz auf.«

»Jetzt ist der Ausflug vorbei, wie geht es weiter?«

»Wir sind auf der Interstate 20 West unterwegs, um die Mautstelle auf dem Chisholm Trail Parkway zu umfahren. Das macht Dad immer, um ein paar Dollar zu sparen.«

»Schlau von ihm.«

»Genau! Es ist zwar ein Umweg, aber wir sind nicht in Eile. Mom und Dad singen laut ›Row, Row, Row your Boat‹. Mom singt absichtlich schief, es ist zum Brüllen komisch.« Gerry grinste kindisch.

»Ich bekomme fast einen Hustenanfall, so doll muss ich lachen.«

»Die Stimmung ist also ausgelassen.«

»Ja, obwohl mir ständig die Augen vor Erschöpfung zufallen, kann ich kaum stillsitzen.«

»Welchem zehnjährigen Jungen würde das an seinem Geburtstag anders gehen? Was passiert danach?« Dr. Vermonts Stimme klang bewundernswert neutral, sanft. Dabei leitete sie eine unheilvolle Antwort ein.

»Der Unfall, die Schmerzen.« Gerrys Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er sprach nicht weiter. Dr. Vermont schwieg ebenfalls. Auf das weitere Geschehen würde er beim nächsten Termin eingehen müssen. Die Sitzung endete mit der üblichen Entspannungsübung.

»Wir sehen uns erst übermorgen wieder, Mr. Jester. Ich denke, wir sollten einen Tag Pause machen. Die ersten Schritte in der Traumatherapie sind anstrengend.« Gerry nickte müde.

»Nehmen Sie dieses entspannte Gefühl mit in den restlichen Tag. Vor dem Zubettgehen legen Sie es in eine kleine innerliche Schublade. Speichern Sie es, rufen Sie es von dort ab, wenn die Angst und die Schuldgefühle Sie zu überwältigen drohen.«

Erneut stimmte Gerry wortlos zu. Wenn das bloß immer so leicht wäre. Morgen musste er wieder zur Arbeit fahren.

Lebenspfand

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