Читать книгу Lebenspfand - Robin Carminis - Страница 11
Kapitel 4 - 2015
ОглавлениеSeit Minuten starrte Gerry auf das B.J. Pawn. Der Eingang war von der Straße aus gut zu sehen. Es brannte kein Licht im Geschäft, und das Schutzgitter des Pfandhauses war nicht heruntergelassen. Das konnte nur bedeuten, dass Bruce im Laden genächtigt hatte. Vermutlich, wie schon so oft, im Halbdelirium. Schaufenster und Eingangstür forderten regelrecht jeden Plünderer und Einbrecher der Stadt auf, sich zu bedienen. Ein Ziegelstein als Einbruchswerkzeug hätte dazu völlig ausgereicht.
Gerrys Finger wurden beinahe taub, so fest krallte er sie in das Lenkrad. Die heutige Nacht mit eingerechnet, war das schon das vierte Vorkommnis dieser Art innerhalb von drei Monaten. Bruce hatte wahrscheinlich, wie üblich, seinen Kummer in seiner Stammkneipe ertränkt und sich danach nicht mehr nach Hause getraut. Um den Vorwürfen seiner gegenwärtigen Lebensgefährtin, Molly, zu entgehen, flüchtete er sich nachts lieber ins Pawn.
Wie diese Molly mit Nachnamen hieß, hatte Gerry längst vergessen. Er erinnerte sich nicht einmal daran, ob er es je gewusst hatte. Warum auch? Molly Irgendwer würde es eh nicht lange mit seinem Vater aushalten.
Bruce Wagen stand auf dem Parkplatz neben dem Pfandhaus. Gerrys spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Erste Schweißränder bildeten sich auf seinem Hemd.
»Ich kann das nicht! Ich will das nicht!« Schwer atmend fingerte er in der Jacke auf dem Beifahrersitz nach seinem Handy. Einmal gefunden, suchte er in den Kontakten nach Dr. Vermonts Telefonnummer. Er hielt das Telefon krampfhaft in der Hand und starrte auf das Display, wählte dann aber doch nicht. Minuten verstrichen. Erneut blickte er auf den Eingang der Pfandleihe. Drinnen rührte sich nichts.
Eine junge Mutter mit Kinderwagen näherte sich dem B.J. Pawn. Auf dem Griff ihres Buggys balancierte sie einen Karton. Schneematsch spritzte unter den Rädern auf und als sie durch ein Schlagloch fuhr, rutschte der Karton vom Lenker. Sie konnte nicht rechtzeitig reagieren und die Box drohte zu Boden zu fallen. Aber ein junger Mann sprang, wie aus dem Nichts, hilfsbereit herbei und fing die Kiste auf, bevor sie den Asphalt berührte. Die Frau bedankte sich überschwänglich, doch der Fremde, mit asiatischen Zügen, nickte nur kurz und verschwand sofort um die nächste Ecke.
Die Frau ging ein Stück weiter, blieb schließlich vor der Pfandleihe stehen und drückte gegen die Eingangstür. Geschlossen! Erneut rüttelte sie am Griff und horchte an der Tür. Dann trat sie einen Schritt zurück und suchte nach dem Schild mit den Öffnungszeiten. Anschließend schaute sie auf ihre Armbanduhr und abermals auf das Schild. Selbst durch die geschlossenen Scheiben des Wagens meinte Gerry, ihr Fluchen zu hören.
Beschämt duckte er sich tiefer in den Sitz, als die Frau an seinem Wagen vorbeikam. Es war so peinlich. Kaum war sie um die nächste Ecke verschwunden, atmete Gerry auf. Ein Gutes hatte es wenigstens gehabt, diese unangenehme Situation zu beobachten. Ohne es selbst zu bemerken, hatte er seine Panik in den Griff bekommen. Jetzt war es ihm endlich möglich, das Auto zu verlassen.
Kaum stand er im Freien, drohte ihn bereits der Mut zu verlassen. Doch er überwand sich und trottete, trotz wachsendem Unbehagen, weiter Richtung Geschäft. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte er sich nicht bei Bruce gemeldet. Mehrere von dessen Anrufen waren erfolgreich von Taio abgeblockt worden. Gerry läge mit einem Virus im Klinikum. Keine Ahnung, ob Bruce ihm das abgekauft hatte. Ehrlich gesagt, war ihm das inzwischen auch scheißegal. Bruce hatte sich schon vor langer Zeit als Familienoberhaupt disqualifiziert. Er nannte den Kerl schon ewig nicht mehr Vater oder Dad. Ihn mit dem Vornamen anzusprechen kostete ihn genug Überwindung. Im Gegensatz dazu, ließ Bruce ihn täglich spüren, was er in seinem Sohn sah. Einen Krüppel, einen Versager, einen Mörder.
Gerry hasste ihn dafür. Doch am meisten hasste er sich selbst. Er verabscheute das Leben, das er führte und die Tatsache, dass er daran die alleinige Schuld trug. An Allem. Er wünschte, er wäre tot. Und das nicht zum ersten Mal.
Verdammt, wie einfach wäre es, jetzt reinzugehen, sich eine der Schusswaffen, die bei B.J. Pawn als Pfand eingelagert waren, zu schnappen und die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Eine kurze Bewegung des Fingers und es wäre vorbei. Stattdessen kam er immer wieder zurück und arbeitete im B.J. Pawn, quälte sich, einer Sühne gleich, tagein, tagaus dorthin.
Das ferne Hupen eines Kleinlasters holte ihn aus seinen selbstzerstörerischen Gedanken. Er stand bereits unmittelbar vor der Eingangstür.
Gerry schnaufte aus. Wenn er jetzt die Kontrolle behalten wollte, musste er ihre belastete Vater-Sohn-Beziehung und die Umstände, die dazu geführt hatten, besser ausblenden. Dr. Vermont wäre mit einer direkten Konfrontation zu dieser Zeit sicher nicht einverstanden.
Also redete er sich wieder einmal ein, dass Bruce durch seine Hilfe wenigstens ein einigermaßen erträgliches Leben führe. Das Hab und Gut fremder Leute sicherte ihre Existenz. Insofern fristete Gerry weiterhin sein Dasein zwischen Antiquitäten, Schmuck und Waffen und ertrug die Launen des Geschäftsinhabers - seines Vaters.
Welche berufliche Alternative käme auch sonst in Frage? Mal ehrlich, wer würde einen 49-Jährigen mit High-School-Abschluss und Hinkebein einstellen? Im Supermarkt Regale einräumen, auf dem Bau Wände hochziehen, Busfahrer?
Schluss jetzt! Wenigstens hielt er das Geschäft am Laufen.
Gerry drückte gegen die Tür des Ladens. Sie gab, wie schon bei der Frau eben, nicht nach. Wenigstens hatte Bruce abgeschlossen. Potentielle Einbrecher hätten sich sonst nicht einmal die Mühe machen müssen, die Fenster einzuschlagen. Selbstverständlich würde die Versicherung, trotz der verschlossenen Tür, im Schadensfall keinen einzigen Cent bezahlen. Der Laden war nachts ohne ein versperrtes Gitter nicht versichert. Eine entsprechende Police war schlichtweg zu teuer.
Gerry schloss auf. Er betrat den Laden und taumelte in derselben Sekunde wie erschlagen rückwärts. Ein unappetitlicher Mief schlug ihm entgegen, die gesamte Pfandleihe stank bestialisch nach Alkohol. Wie war es nur möglich, dass ein einzelner Mensch die ganze Luft der etwa vierhundert Quadratmeter großen Geschäftsfläche verpestete? Gerry holte tief Luft, humpelte rechts rüber in das kleine Büro und fiel dabei beinahe über Bruce. Der lag laut schnarchend und zusammengekrümmt auf dem Boden. Den Betrunkenen ignorierend, schaltete er die Klimaanlage auf volle Leistung. Größere Fenster zum Durchlüften gab es leider nicht. Gerry hoffte inständig, dass der Gestank vor Eintreffen des ersten Kunden verschwunden wäre.
Mit ein wenig Glück würde Bruce einen großen Teil des Tages verpennen und keine Kundschaft verschrecken. Noch gab es die Chance, dass der Tag einigermaßen erträglich wurde. Aber falsch gedacht.
»Versager«, hörte er Bruce lallend brüllen. »Nicht einmal richtig umbringen kannst du dich.« So viel dazu.
Es war wie ein Stich in Gerrys Herz. Bruce wusste es! Leugnen war zwecklos.
»Ich…«, setzte Gerry gerade zu seiner Verteidigung an, als er ein ohrenbetäubendes Schnarchen hörte. Gott sei Dank gewährte der Heilige Geist, in diesem Fall eher der heilige Jim Beam, ihm einen Aufschub. Bruce würde seine Ausreden nicht mehr hören, wahrscheinlich wollte er sie auch gar nicht hören. Wie hielt es Molly bloß mit diesem Säufer aus?
Gerry seufzte. Der Tag hatte zwar erst vor kurzem angefangen, aber er war sich sicher, dass die kommenden Stunden endlos und deprimierend werden würden.
»Sie haben die Schubladen auch wirklich kontrolliert?«, wollte Gerry von der älteren Dame, die vor ihm stand, wissen. Er taxierte den hellbraunen Sekretär, der halb aus einem kniehohen Haufen von Luftpolsterfolie und Pappe lugte, ein letztes Mal. Diese phantastische Maserung und die satte Farbe des Holzes. Es wäre wirklich dumm, das Möbel nicht anzukaufen. Gerry zuckte mit den Schultern und entschied sich, der Kundin ein Angebot zu machen. Für den dreisten Fahrer der Spedition, die den Schreibtisch angeliefert hatte, konnte die Klientin ja schließlich nichts. Kundenservice und Kulanz zählten offensichtlich nicht zu den Leitsätzen der Transportfirma. Der muskelbepackte Trottel hatte sich glatt geweigert, das Verpackungsmaterial wieder mitzunehmen. Wie sich nach kurzem Studieren des Kleingedruckten im Vertrag der Dame herausstellte, leider völlig zu Recht. Tja, man sollte halt sehr genau die AGBs lesen. Den Namen des Unternehmens würde er sich merken, falls er mal einen Umzug plante. Wenigstens war der Bodybuilder bereit gewesen den Schrank in die Lagerhalle zu schleppen.
Den restlichen Kram könnte er einfach bei der Müllabfuhr entsorgen, auch wenn die erst vorgestern da gewesen war und das Zeug bis zur nächsten Abholung das Lager verstopfen würde.
Für ihn persönlich stand, anders als für den Geschäftsinhaber des Bruce Jester Pawn, noch immer der Servicegedanke an erster Stelle, neben Geschäftsmoral und Anstand, verstand sich.
Gerry räusperte sich und hakte den Gedanken ab.
»Nicht, dass sich darin noch persönliche Gegenstände oder wichtige Papiere befinden, Mrs. Reamer.«
»Nein, nein, da bin ich ganz sicher, Mr. Jester«, erwiderte die Angesprochene freundlich.
Gerry studierte den Führerschein der Kundin. Vom Aussehen her schätzte er sie eher auf Mitte siebzig, als, in der Fahrerlaubnis ausgewiesen, Anfang achtzig. Der akkurate Kurzhaarschnitt und die fröhliche hellgelbe Jacke, die sie trug, verliehen ihr einen jugendlichen Touch.
»Dann sind wir uns einig?«, fragte er zur Sicherheit nach. »Ich nehme den Sekretär und gebe Ihnen sechshundert Dollar dafür. Ich muss Sie noch darauf hinweisen, dass der Vertrag drei Monate läuft.«
»Das ist in Ordnung«.
»Mit Zinsen und Gebühren macht das sechshundertzweiundsiebzig Dollar, wenn Sie den Schreibtisch innerhalb dieses Zeitraums wieder abholen möchten.« Gerry öffnete die Kasse und zählte das Geld ab. Er überreichte der Lady die vereinbarte Summe und schob danach einige Papiere und ihren Führerschein über den Tresen. Mit einem Kugelschreiber tippte er auf eine Linie auf der letzten Seite des Formulars.
»Hier ist also der Pfandvertrag. Dann bekomme ich dort bitte eine Unterschrift.« Die Dame nahm den Stift entgegen und überflog das mehrseitige Dokument. Gerry ging derweil um den Tresen herum und entfernte weitere Folien und Kartonteile von dem Möbel.
»Das ist wirklich ein sehr elegantes Stück«, sagte er mehr zu sich, als zu der Kundin und strich mit den Fingerspitzen über die filigranen Intarsien der Schubladen. Die Dame schaute von der Lektüre auf.
»Der Schreibtisch ist wunderschön, nicht wahr?«, bekräftigte sie und ihre Augen leuchteten.
»Ist er schon länger in Ihrem Besitz?«, interessierte sich Gerry.
»Viele Jahrzehnte, er gehörte meinem verstorbenen Mann Thomas«, erklärte sie und fügte mit einem wehmütigen Unterton in der Stimme hinzu: »Das war sein Lieblingsmöbel, er hat ihn stets wie einen Schatz gehütet.« In ihren Augen spiegelte sich eine Mischung aus Trauer und schlechtem Gewissen wider.
»Mein Beileid«, bekundete Gerry von Herzen und bereute es bereits im selben Augenblick. Das Thema löste mehr als nur das übliche soziale Unbehagen bei ihm aus. Er senkte den Blick und kratzte nervös an einem Stück Pappe herum. Die Kundin bemerkte seine Beklommenheit und richtete sich auf. Mit fester Stimme antwortete sie: »Das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank. Aber es liegt nun schon fast vierzig Jahre zurück.«
»Ich verstehe«, murmelte Gerry verlegen und Mrs. Reamer fühlte sich scheinbar genötigt, das Thema kurz und bündig zu beenden.
»Also Bertram, mein zweiter Mann und ich, wir ziehen jetzt nach Florida. Das Haus ist kleiner und voll möbliert, da muss ich mich halt von ein paar Sachen trennen, wissen Sie?« Bei diesen Worten schluckte sie sichtlich.
Sie blätterte auf die letzte Seite der Vertragspapiere und unterschrieb rasch das Formular. Dann überreichte sie es Gerry, dieser riss den Durchschlag ab und gab ihn der Kundin zurück. Dabei verzichtete er bewusst auf weiteren Smalltalk und sparte sich einen Kommentar wie: »Florida soll ja ganzjährig fantastisches Wetter haben. Und erst die Golfplätze.« Stattdessen sagte er nur: »Vielen Dank, Mrs. Reamer.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Jester.« Sie ergriff seine Hand und schüttelte sie zum Abschied.
»Ach ja, eins noch«, fiel Gerry ein. »Ich muss Sie der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass, wenn Sie den Pfandgegenstand bis zu dem, auf dem Vertrag vermerkten Datum, nicht auslösen, dieser am Ende des nächsten Monats verkauft wird.«
»Das ist mir bewusst«, gab die Kundin zurück und nickte erneut. Sie schaute den hellbraunen, glänzend lackierten Sekretär noch einmal liebevoll an, nahm das Geld nebst Pfandschein und verließ den Laden. Gerry sah ihr beim Hinausgehen hinterher. Mittlerweile hatte er ein ziemlich gutes Gespür dafür entwickelt, wer wiederkommen würde und wer nicht. In diesem Fall brauchte man kein Hellseher zu sein, die Dame hatte er zum ersten und zugleich zum letzten Mal gesehen. Ihrem Blick nach zu urteilen, fiel ihr der Abschied aus Arlington und von ihrem Möbelstück alles andere als leicht.
Seinem Gefühl folgend, hatte er ihr sechshundert Dollar für den Sekretär gegeben. Einhundert mehr, als Bruces Kreditvorgaben vorsahen. Der Schreibtisch war hervorragend in Schuss und würde sich locker verkaufen lassen. Gerry kannte die Branche und wusste, was er tat. Die Kundin brauchte das Geld vermutlich nicht, aber wenn er schon seine eigene Biographie nicht verbessern konnte, wollte er zumindest einen kleinen Beitrag zum unbeschwerten Leben Anderer leisten.
Er schaute sich im Laden um und seufzte. Kein neuer Kunde weit und breit. Heute würden sie den Betrag, den er der alten Dame zu viel ausgezahlt hatte, nicht mehr reinholen. Wie so oft. Aber wenigstens fühlte sich das gut an - für einen kleinen Moment.
Ausreichend Geld hatten sie ewig nicht mehr verdient. Seit geraumer Zeit liefen die Geschäfte schlechter. Leider waren sie seit kurzem nicht mehr die einzige Pfandleihe in der Innenstadt und langsam bekamen sie die Konkurrenz auch finanziell zu spüren. Die Probleme wurden nicht weniger.
Gerry verließ die Theke und schnappte sich ein Staubtuch. Er schritt feudelnd durch die schmalen Gänge des Geschäfts, vorbei an vollgestopften Vitrinen mit Schmuck, den abgeschlossenen Schränken mit Schusswaffen, allerlei Trödel und den Tischen, auf denen sie die alten Klingenwaffen präsentierten. Immer, wenn er an den Degen, Schwertern und Dolchen vorbeikam, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Hier lagen die unangefochtenen Verkaufsschlager des B.J. Pawn.
Viele Kunden waren fasziniert von diesen antiken europäischen und japanischen Mordwerkzeugen. Es verging keine Auktion, in der nicht mindestens die Hälfte der Klingen gewinnbringend verkauft wurden. Dennoch reichte diese Einnahmequelle bei weitem nicht aus, um die laufenden Kosten zu decken.
Er nahm die Replik eines berühmten japanischen Katanas des 14. Jahrhunderts aus dem samtbezogenen Ausstellungskasten und führte es beidhändig über den Tresen. Es lag schwer in den Händen und der mit dunkelgrüner Kunstseide ummantelte Griff fühlte sich weich an. Auf der Oberseite der Klinge spiegelten sich die Lichtkegel der Deckenlampen.
Gerry drehte das Schwert und legte das kalte Metall der Schneide flach an seinen Hals. Er schloss die Augen und spürte durch den Stahl, wie sich sein Puls beschleunigte. In seinem Kopf formte sich ein Wort - Seppuku. War das der Ausdruck für rituellen Selbstmord der Japaner gewesen? Besser bekannt als Harakiri.
Ihm fiel eine Geschichte ein, die ihm sein Grandpa einmal erzählt hatte. Darin war es um einen Samurai gegangen, der bei seinem Kaiser in Ungnade gefallen und der deswegen zum Ronin, einem herrenlosen Kämpfer, geworden war. Er konnte sich nicht mehr entsinnen, wie die Erzählung ausgegangen war, aber Grampys Geschichten hatten meist ein Happy End gehabt. Anders, als in der Realität. Anders, als in seinem Leben.
Ein Geräusch aus dem vorderen Teil des Ladens ließ ihn aufschrecken. Schnell legte er das Schwert zurück an seinen Platz und schloss den Glasdeckel des Kastens. Hoffentlich war Bruce nicht aufgewacht.
Kunden hätten sich eigentlich durch die Türglocke angekündigt. Ein paar Sekunden lauschte er noch, doch als sich nichts weiter rührte, humpelte er weiter zum hinteren Teil der Verkaufsfläche, nahe der breiten Anliefertore. Dorthin, wo die Antiquitäten standen.
Er liebte diesen Teil des Ladens. Die betagten Möbel strahlten Würde und Wärme aus, zumindest empfand er das so. Viele der alten Schätzchen waren mühselig von Hand angefertigt worden. Meisterwerke des Schreiner- und Polstereiwesens. Die meisten von ihnen hätten vermutlich viel zu erzählen gehabt. Dazu ihr Duft! Besonders der Geruch des alten Holzes, vermengt mit dem Bukett feinsten Leders, ließen sein Herz ein wenig höherschlagen.
Darüber hinaus hatte dieser Platz einen weiteren, nicht zu unterschätzenden, Wert. Er war am weitesten weg von der Empfangstheke und somit von Bruce.
Gerry wollte sich noch einmal den Gründerzeitsekretär anschauen, den er vorhin von der bisher einzigen Kundin des Tages, übernommen hatte. Er schätzte den Wert dieses Möbelstücks aus massivem Nussbaum auf mindestens eintausend Dollar. Vermutlich mehr. Laut Stempel auf der Rückseite war der Schrank in den Niederlanden gebaut worden. Ein gutes Pflaster für Möbel aus dieser Epoche. Vierhundert Dollar Gewinn waren dementsprechend mindestens drin.
Am liebsten hätte er dieses achtzig bis einhundert Jahre alte Kleinod mit nach Hause genommen. Aber sein Mitbewohner Taio war stets der Meinung, dass sie mehr Gerümpel, als Lebensraum hätten. Für ein gealtertes Blumenkind von fünfundfünfzig Jahren, das noch heute freie Liebe und Weltfrieden propagierte, war das eine ausgesprochen unsensible Äußerung. Um des lieben Friedens willen, gab Gerry zu guter Letzt nach und schleppte keine weiteren Möbelstücke mehr an.
Der Sekretär war aber unübersehbar ein handwerkliches Meisterstück. Wenn man die Front aufklappte, schoben sich automatisch zwei Holzausläufer, links und rechts von den Schubladen, heraus. Darauf legte man die Platte ab und es bildete sich eine Schreibunterlage. Genial! Gerry probierte es, wie er es schon im Beisein der Kundin getan hatte, erneut, und lauschte diesmal noch aufmerksamer. Kein Quietschen und keine Reibungsgeräusche waren zu hören. Der Schreiner hatte perfekte Arbeit geleistet. Er klappte den oberen Teil wieder zu, zog danach erst die linke und dann die rechte Schublade auf. Diese ließen sich ebenso geschmeidig bewegen.
Eben wollte er die Schubladen schließen, als ihm etwas auffiel. Der Boden der rechten Lade sah geringfügig anders aus, als die Grundfläche des linken. War hier irgendwann ein Teil ausgebessert worden? Womöglich mit einem anderen Typ Holz?
Plötzlich brüllte Bruce aus dem vorderen Bereich des Ladens nach ihm. Ohne, dass Gerry es bemerkt hatte, waren Kunden erschienen. Bruce fühlte sich offenbar nach wie vor nicht dazu berufen, zu bedienen. Die Untersuchung der Schublade musste warten.