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Kapitel 2 - 2085

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Der Anruf hinterließ ein mulmiges Gefühl in Haruki Satos Magengegend. Bisher war sein Job immer reine Routine gewesen. Und jetzt das! Security-Awareness-Meeting um fünfzehn Uhr in Raum Berlin. Das hatte die Sekretärin mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme befohlen. In den Besprechungsräumen mit Namen bekannter Hauptstädte fanden ausschließlich Sitzungen des Board-of-Directors statt. Genaugenommen hatte dort jemand in seiner Stellung nichts verloren. Das konnte nur eins bedeuten - Eskalationsbericht vor dem Gesamtvorstand.

»In allen Dingen hängt der Erfolg von den Vorbereitungen ab«, zitierte Sato im Kopf eine alte Zen Weisheit, aus dem Land seiner Vorfahren, während er den Fortschritt der laufenden Auswertungen ein weiteres Mal kontrollierte. Analysejobs durchforsteten die Logdateien und spuckten im Minutentakt Berichte aus. Zwar konnte er in der Kürze der Zeit nicht besonders viele Details über die Episode WW2/35 in Erfahrung bringen, aber je mehr Daten er sammeln würde, desto besser.

Bloß keinen inkompetenten Eindruck hinterlassen, keine nicht belegbaren Schlussfolgerungen präsentieren und, so gut wie möglich, für alle etwaigen Fragen gerüstet sein. Wenn man dem Flurfunk Glauben schenken durfte, konnten selbst Nichtigkeiten zur Entlassung führen. Ein Gedanke, der nicht unbedingt Mut machte.

Sato begab sich auf den Weg. Die Aufzugstür zischte leise, als sie den Blick in die Vorstandsetage freigab. Der Unternehmensführung eilte der Ruf voraus, stets exzellent über die Entwicklungen im Konzern auf dem Laufenden zu sein. Hastig wischte er sich mit dem Handrücken eine feuchte Stelle von der Oberlippe.

Durch eine gewaltige Schallschutztür betrat er den, ganz in Glas und mattem Aluminium gehaltenen, Raum. Eingeschüchtert von den enormen Ausmaßen des Saales, zog er unwillkürlich den Kopf ein und seine Schultern verspannten sich.

Überlebensgroße Konterfeis berühmter Wissenschaftler und Persönlichkeiten beherrschten die wenigen Wände. Im Vorübergehen identifizierte er Albert Einstein, Marie Curie und Martin Luther King auf den gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Fotographien. Einige der anderen dargestellten Personen waren ihm dagegen unbekannt.

Wäre kein hochfloriger, steingrauer Teppich auf das teure Parkett gelegt worden, hätte man eine herabfallende Stecknadel hören können. Es war mucksmäuschenstill, als er eintrat.

Ein leichtes Schaudern durchfuhr seinen Körper. Die Ausdrucke der Präsentationsfolien, die er für den Notfall angefertigt hatte, raschelten unter seinem Arm. Synthetikpapier war zwar nicht mehr State-of-the-Art, denn selbstverständlich lagen alle notwendigen Daten auf den Servern. Aber Mara, dem allgegenwärtigen Zen-Dämon, war es zuzutrauen, dass er sich sogar als Netzwerkfehler einschlich.

Als die Anwesenden sein Eintreten bemerkten, richteten sich gespannt alle Blicke auf ihn. Eine junge Assistentin, mit blondiertem Kurzhaarschnitt, wies ihm einen Platz zu. Unbeholfen setzte er sich auf den dunkelgrauen Ledersessel.

»Wollen wir beginnen, Scoutsupporter Sato?«, forderte ihn der CEO auf.

»Selbstverständlich Sir, sofort.«

Hektisch legte Haruki Sato seine Handfläche auf die dafür vorgesehene Stelle im Tisch. Unmittelbar darauf wurde die Glaswand am Kopfende milchig. Die Fensterflächen dunkelten automatisch ab und eine Präsentationsoberfläche erhellte einen Teil des Raumes.

Eine ältere, gepflegt aussehende Endfünfzigerin im dunkelgrauen Blazer, die ihm schräg gegenübersaß, übernahm die Rolle der Moderatorin.

»Computer, Aufzeichnung Revision Episode WW2/35 mit aktuellem Zeitstempel starten.« Das direkt vor ihr im Tisch eingefasste Display blinkte bereitwillig zur Eingabe von Notizen auf.

»Mr. Sato, wir möchten Sie bitten, uns von Mr. Batedors Abreise zu berichten.«

Der Scoutsupporter stand auf und eilte in Richtung Tischende. Hier vollführte er eine Handbewegung in der Luft, und sofort füllte seine Präsentation die gesamte Wand.

»Danke sehr. Heute Morgen, um zehn Uhr, habe ich Mr. Batedor im Transitraum empfangen. Exakt, wie vorgesehen.«

Er wischte die erste Folie beiseite. Ein Zeitplan erschien auf der Wand. Der Name Tomás Batedor und die Uhrzeit waren rot eingekreist.

»Alle Systeme arbeiteten korrekt, wie Sie aus der Analyse des Task-Monitors ersehen können. Gravitation 100%, Krümmungsgrad CTC abgeschlossen.«

Er wischte erneut, legte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aufeinander. Als er sie wieder öffnete, vergrößerte sich eine der Grafiken.

»Entschuldigen Sie Mr. Sato. Ich hätte eine kurze Zwischenfrage«, kam es vom anderen Ende des Tisches. Vor dem Auge des Scoutsupporters erschien ein leuchtend grüner Schriftzug mit dem Namen der Dame, welche die Frage gestellt hatte.

›Dr. Sommers, Melissa - CHRO‹ - die Personalchefin.

»Hat Mr. Batedor vor seiner Abreise Bedenken geäußert?«

»Nein, Ma’am, Mrs. Sommers. Den Eindruck hatte ich nicht. Im Gegenteil, er wirkte vielmehr neugierig und voller Tatendrang«, erinnerte sich Sato.

»Wie üblich habe ich ihn über die gesundheitlichen Risiken aufgeklärt und ihn die notwendigen Formulare unterschreiben lassen. Zum Schluss überreichte ich die Utensilien und wünschte ihm eine gute Reise.«

»Hat er noch irgendetwas gesagt?« Sato überlegte einen kleinen Moment.

»Den üblichen Scherz aller Historyscouts. Er sagte ›Bis gleich‹. Außerdem hat er sogar noch gewunken. Daran erinnere ich mich genau. Das hatte bis dahin noch keiner gemacht.« Einige der Anwesenden schmunzelten.

»Aber, ob er sonst noch irgendwas gesagt hat, Ma’am? Da bin ich nicht sicher. Ton- oder Videoaufzeichnungen fertigen wir im Transitraum leider nicht an.« Mrs. Sommers nickte.

»Danke, Scoutsupporter Sato.« Die Moderatorin blickte beflissen in die Runde der zehn Männer und Frauen, um die nächste Wortmeldung einzuleiten.

Der CEO beugte sich zum Mann neben ihm herüber und flüsterte ihm etwas zu. Aufgeregt knackte Sato die Fingerknöchel. Stellten sie seine Aussage in Frage? Sekunden vergingen. Jemand goss sich eine Tasse Tee ein. Das Plätschern durchbrach die Stille. Mit zwei Fingern griff sich Sato in den zugeknöpften Hemdkragen und versuchte, seine Krawatte zu lockern.

»Melissa, eine Frage bitte«, wandte sich der Vorstandsvorsitzende, ohne die Moderatorin zu beachten, an die Personalchefin.

»Können Sie uns Auskunft über das psychologische Gutachten von Mr. Batedor geben?«

»Aber natürlich, Paul.« Die Angesprochene räusperte sich, bevor sie fortfuhr.

»Das Ergebnis war in Ordnung. Mr. Batedor lag sowohl in den medizinischen, als auch in den psychologischen Tests in der Norm«, sagte sie ein wenig zu laut. Der CEO runzelte die Stirn und bohrte nach.

»In der Norm, Melissa? Also guter Durchschnitt?«

»Nein, geringfügig darunter«, gab die Personalchefin missmutig zu. »Wären die Anforderungen letztes Jahr nicht massiv erhöht worden, hätte er über dem Mittelfeld gelegen. Ich war von Anfang an gegen die Verschärfung des Auswahlverfahrens, aber ich wurde ja überstimmt. Es ist schwer genug, neue Historyscouts zu rekrutieren.«

»Nun, wie mir scheint, wurden die Vorgaben noch nicht weit genug erhört, Mrs. Sommers. Nicht wahr?«

Der Personalchefin schoss das Blut in den Kopf. Ihr war nicht entgangen, dass der CEO sie plötzlich wieder mit dem Nachnamen angesprochen hatte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme dennoch ungebrochen selbstbewusst.

»Für sein Alter wurde Mr. Batedor als sehr reif und gefestigt eingestuft. Immerhin ist er mit fünfundzwanzig Jahren unser jüngster Historyscout. Es gab keinerlei Anzeichen für potentielle Insubordination, falls Sie darauf hinauswollen.«

Bei ihren letzten Worten schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit.

»Tja, das können wir aus aktuellem Anlass wohl leider nicht mehr ausschließen«, entgegnete der CEO kühl.

»Wie Sie meinen«, gab sie leicht eingeschnappt zurück. »Allerdings würde ich gerne zuerst alle technischen Fragen klären, bevor ich unsere Mitarbeiter unter Generalverdacht stelle.«

»Es wird wohl das Beste sein, wenn wir das im Anschluss an die Sitzung in meinem Büro klären!«, beendete der Vorstandsvorsitzende das Thema barsch.

Betretenes Schweigen. Die Moderatorin nutzte routiniert deeskalierend die Atempause der beiden Entscheider und wandte sich nochmals an den Scoutsupporter.

»Mr. Sato. Bitte teilen Sie uns die Spezifikationen des eingesetzten Systems mit. Ist es korrekt, dass es sich um die ITER 4.0 Release V15.3 handelt?«

»Das ist korrekt, dies ist die neuste Version und aktuell im Einsatz.« Das Klirren eines Löffels in einer Tasse ließ ihn kurz aufschrecken. Jetzt bloß nicht ablenken lassen.

»Die ITER 4.0 ist mit fünfzehn Standards konfiguriert«, ergänzte er. Sato verschränkte die Arme hinter dem Rücken, streckte sich und sog tief Luft durch die Nase ein. Bis jetzt lief es doch ganz gut. Einigen Gesichtern nach zu urteilen, erwartete man noch mehr Informationen. Daher fügte er rasch hinzu: »Ich möchte noch erwähnen, dass die Norm von fünfzehn Standards, also Zeitsprüngen, von der medizinischen Division akzeptiert worden ist. Natürlich müssen, neben dieser maximal erlaubten Anzahl Reisen, auch die Vorgaben in Bezug auf Entfernung des Ziels, den zeitlichen Abstand der Expeditionen, sowie die vorgeschriebenen medizinischen Behandlungen, strikt eingehalten werden. Eine Überschreitung dieser Grenzen führt unwiderruflich zu irreparablen Zellschäden. Im schlimmsten Fall zum Tod.«

Irgendjemand im Raum schnaufte hörbar. Leicht irritiert schaute Sato sich um, fuhr dann aber fort.

»Zur Sicherheit verfügt die ITER 4.0 deshalb über einen Notfall-Mechanismus, der eine Rückkehr vor Verbrauch der Sprungpunkte ermöglicht. Es ist zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht bekannt, ob der Vorgang in der betroffenen Episode ausgelöst wurde. Ersten Analysen zufolge, kehrte das Tablet regulär zurück. Alle fünfzehn Standards wurden verwendet.«

Fragende Gesichter sahen ihn an. In die anschließende Grabesstille stellte der CEO die eine vernichtende Frage.

»Und wo ist Mr. Batedor, wenn alles perfekt gelaufen ist?«

Reihum richteten sich die Anwesenden gespannt in ihren Sesseln auf. Stammelnd suchte Sato nach den richtigen Worten.

»Kurz nach der Abreise des Historyscouts, um genau zu sein, eine Minute nach der Abreise, kehrte die Hardware zurück - alleine. Sie wurde sofort vom Außendienstmitarbeiter aufgelesen und überführt.« Die meisten Anwesenden guckten betroffen drein.

»Es tut mir leid, Sir. Ich habe keine Ahnung, wo Mr. Batedor abgeblieben ist.«

Ungläubiges Kopfschütteln ringsum.

»Wenn das so ist, Mr. Sato, wäre es dann nicht das sinnvollste, einen zweiten Mann direkt hinterherzuschicken?« In der Runde wurde zustimmend genickt.

»Wir entsenden den Revisor einfach genau an dieselben Ziel- und Zeitkoordinaten wie Mr. Batedor? Dieser Mann kommt dann parallel an und schickt Mr. Batedor sofort wieder nach Hause, noch bevor der Mann überhaupt die Gelegenheit hätte, abtrünnig zu werden.«

Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Anwesenden, schien die Idee des CEO ausgesprochen sinnvoll und logisch zu sein. Die Moderatorin wollte auf Basis dieses Vorschlags eben zu einer Abstimmung auffordern, als Sato sie unerwartet unterbrach.

»Bitte verzeihen Sie, meine Damen und Herren, aber diese Option könnte ausgesprochen gefährlich sein.«

Unmittelbar legte sich eine frostige Atmosphäre über den Raum und alle Blicke richteten sich erneut auf Sato. Was erdreistete sich dieser kleine Angestellte, den Vorstand zu belehren. Solche, oder ganz ähnliche Gedanken, glaubte Sato, in ihren Gesichtern abzulesen. Sympathie schlug ihm jedenfalls nicht entgegen.

»Und warum, Mr. Sato, könnte das ausgesprochen gefährlich sein?«, durchbrach der CEO die Stille. Seine Stimme hatte den Klang von gefrorenem Eis. Sato wischte sich die verschwitzten Finger an seinen Hosenbeinen trocken.

»Weil Mr. Batedors Ankunft in der Vergangenheit gar nichts mit Insubordination zu tun haben könnte. Vielleicht wurde er lediglich Opfer eines tödlichen Unfalls. Würden wir jemanden an denselben Ort und dieselbe Zeit schicken, hätten wir gegebenenfalls schon zwei Tote zu verantworten. Selbst, wenn das nicht zuträfe, wäre diese Option gefährlich.« Atemlos durch seine schnell ausgesprochenen Sätze, sog er hastig Luft durch die Nase ein, bevor er seinen Gedankengang weiter ausführte.

»Denn das, was wir hier und jetzt als unsere Gegenwart wahrnehmen, könnte bereits das Resultat von Mr. Batedors Verschwinden sein. Wenn wir ihn, wie vorgeschlagen, zurückholen, hätte das womöglich nachteilige Auswirkungen auf die Gegenwart, die wir kennen.«

»Zum Beispiel?«, warf die Moderatorin verwirrt dazwischen.

»Da gäbe es einige Möglichkeiten«, gab Sato zurück. »Es wäre beispielsweise denkbar, dass Historyscout Nr. 12 derartig unwichtig für die Geschichte war, dass rein gar nichts geschieht. Es kann andererseits genauso gut sein, dass sein Einfluss derart gravierend war, beziehungsweise ist, dass es ohne ihn diese Agency überhaupt nicht gäbe.«

Entsetztes Schweigen folgte seinen Worten. Die meisten Mitglieder des Vorstands starrten ihn entgeistert an. Mitten in die Stille hinein meldete sich jemand, der bis dahin noch kein einziges Wort gesagt hatte. Reynold Berlitz, der verantwortliche Finanzchef der Agentur.

»Ich bin ziemlich sicher, dass Sie sich da irren, Mr. Sato!«, warf er mit herablassendem Tonfall in der Stimme ein.

»Die TT Agency gab es schließlich schon vor der Abreise von Mr. Batedor. Demzufolge wird seine sofortige Rückkehr kaum Auswirkungen haben können, oder?«

Mit stechendem Blick fixierte er Sato, als wolle er sagen: »Ich rate dir, mir nicht zu widersprechen!«

Aber der gebürtige Japaner hatte keine Wahl. Der Mann mochte arrogant sein und im Vorstand eines Mega-Konzernes sitzen, nichtsdestotrotz war er im Unrecht.

»Sehen Sie, das ist leider das Problem mit Zeitreisen. Wir befinden uns exakt in dem Dilemma, vor dem wir unsere Datensammler immer wieder warnen und weswegen sie intensiv geschult werden. Man nennt es Paradoxon.«

Inzwischen schlug sein Herz bis zum Hals. Hoffentlich klang seine Stimme trotzdem gelassen. Bloß nicht inkompetent wirken!

»Womöglich ist es für unseren heutigen Status Quo absolut notwendig gewesen, dass Mr. Batedor gegen die Regeln verstieß«, erläuterte Sato mit möglichst verständlichen Worten weiter.

»Seine potenzielle Insubordination wäre somit unerlässlich für den uns bekannten Verlauf der Geschichte. Sozusagen essentiell wichtig, was bedeuten würde, dass wir ihn um Gottes Willen nicht zurückholen dürfen. Prädestination, wenn Sie so wollen. Fügung?«

Um seine Ausführungen zu unterstreichen, deutete er mit einer Hand gen Himmel.

»Oder, Sie haben Recht und es passiert rein gar nichts. Genau das ist das Problem von Paradoxien. Man befindet sich mitten in einem unlösbaren Widerspruch.«

Berlitz starrte Sato weiterhin an. Sein Gesichtsausdruck hingegen hatte sich erkennbar verändert. Dort war keine Spur mehr von Arroganz. An ihre Stelle war Verunsicherung getreten. Resigniert sank er in sein Sitzmöbel zurück und schwieg. Die anderen Vorstandsmitglieder schienen geradezu in sich zusammenzusacken. Allein der CEO bewahrte Haltung.

»Was schlagen Sie vor, Mr. Sato?«

»Wir müssen zunächst Gewissheit erlangen. Gewissheit über die Auswirkungen seines Verbleibs. Dazu wird es einige Tage an Computeranalysen bedürfen.«

Sato durchforschte seit Stunden die Logs der vergangenen Jahrzehnte. Bisher ohne jeden Erfolg. Sie brachten keine neuen Erkenntnisse über den Verbleib von Historyscout Nr. 12.

Er faltete die Hände hinter dem Kopf und drückte die Lehne seines Schreibtischstuhls zurück. Unfassbar, wo waren nur die Hinweise? Vor- und zurückwippend schweifte sein Blick durch den Raum. Als erwarte er, dass hinter der Yuccapalme oder dem Gemälde an der gegenüberliegenden Wand auf magische Weise plötzlich eine Information zu Tage treten würde.

Beim Anblick des Bildes, im schlichten Holzrahmen, wurde er melancholisch. Die Firma bot jedem Mitarbeiter bei Einstellung an, sich ein Kunstwerk, aus der internen Haussammlung, fürs Büro auszusuchen. Sato hatte sich damals für das Original des berühmten Künstlers Paul Eckstein entschieden. Der Maler war zu Lebzeiten gefeiertes Mitglied des Club500 gewesen, einer Gesellschaft der besten Maler aller Zeiten. Als er vor fünf Jahren, bei einem Unfall, im Alter von dreiunddreißig, verstorben war, stiegen die Preise seiner Werke in astronomische Höhen. Das Gemälde hatte ihm auf Anhieb gefallen. Der kräftige Strich, die krassen Farben - neonmäßig. Die Landschaft auf dem Bild stellte einen Bachlauf im ehemaligen Nationalpark Yosemite Valley in Kalifornien dar.

Wie gerne hätte Sato dieses Tal ein einziges Mal mit eigenen Augen gesehen. Sein Großvater, der seinerzeit nach Amerika ausgewandert war, hatte ihm stets von diesem malerischen Naturwunder vorgeschwärmt. Bedauerlicherweise war der Park vor über fünfzig Jahren, bei einem verheerenden Jahrtausendbrand, fast vollständig zerstört worden. Was Sato blieb, war das abstrakte Kunstwerk, um seine Sehnsucht nach unberührter Natur zu stillen. Und das auch nur, solange er Mitarbeiter der Firma blieb, denn leider war man bei Kündigung gezwungen, die großzügigen Leihgaben wieder abzugeben. Die Firma - der Gedanke brachte ihn zurück zu seinem ursprünglichen Problem.

»Das kostet mich den Job«, dachte er verzweifelt und erinnerte sich an seine Ausführungen vor dem Board-of-Directors. Mit den Fingern strubbelte er sich durch die Haare und massierte seine Kopfhaut. Hinter ihm kicherte eine helle Stimme.

»Versuchst du durch die statische Aufladung einen Geistesblitz zu erzeugen?«, unkte es aus Richtung Tür.

»Sehr witzig, mir ist jetzt wirklich nicht nach Scherzen zumute!« Haruki Sato drehte sich herum und sah die junge Frau im Türrahmen finster an. Doch diese stolzierte, unbeeindruckt von seiner missmutigen Laune, mit übertriebenem Hüftschwung heran und ließ sich lasziv auf seinen Schoß gleiten.

»Samantha, bitte! Als ob ich nicht schon genug Schwierigkeiten hätte. Hast du es noch nicht gehört?«

»Självfallet, mein Schatz, selbstverständlich. Deshalb bin ich ja hier! Ich wollte sehen, wie es dir geht.«

Sie schlang ihre Arme um den Hals des Japaners und schmiegte sich an ihn.

»Ich komme einfach nicht weiter. Die Logs geben, verdammt nochmal, keinen Aufschluss darüber, was passiert ist. Und immer wieder kriege ich diese Warnmeldung ›Mittlere keplerische Anomalie‹. Es ist zum Mäusemelken.«

Samantha strich ihm beruhigend über den Rücken.

»Hey, gemeinsam finden wir es heraus. Wozu hast du eine Freundin, die im Historymonitoring arbeitet?« Sie erhob sich und lief zu den Holowänden herüber. Ihre Hände flogen über die Displays, schoben Grafiken zur Seite, oder vergrößerten Ausschnitte von Tabellen.

»Hast du es schon mit dem neuen Big-Data-Tool versucht?«

»Ja klar, und ich habe alle Datenquellen angezapft. Ich kriege keine Übereinstimmungen. Als wäre der Typ spurlos verschwunden, atomisiert oder hätte sich verwandelt.«

»Halt, verwandelt ist ein super Stichwort. Hast du an den Velamentum Filter gedacht? Ich meine die Maskierungsprozedur.«

»Oh Mann, warum bin ich da nicht früher draufgekommen? Brillant Samantha! Computer, weite den Algorithmus für das Attribut ›Namen‹ auf alle obligatorischen Sprachstämme inklusive Akronyme aus, und kalibriere die Gesichtserkennungsmuster nach Norm 17A2.«

»Bestätigt«, gab der Computer freundlich zurück.

»Spezifikationsprüfung abgeschlossen… Suche initiiert.«

Mit angehaltenem Atem starrten die beiden auf den Bildschirm. Sekündlich erschien ein weiterer Punkt auf dem raumfüllenden Holo, der den Fortschritt der angewandten Suche erahnen ließ. Die Zeit schien dahinzukriechen, bis der Computer endlich das erlösende ›Suche beendet‹ ausspuckte. Ein einziger Eintrag war auf dem hellgrauen Hintergrund zu lesen.

1976 - Professor Dr. Thomas Wayfarer - Der texanische Unabhängigkeitskrieg - erschienen im Harper & Row Verlag.

Neben der Textzeile war das Foto eines älteren Mannes mit schulterlangem Haar und grauen Koteletten zu sehen. Sato riss die Augen auf und schnappte nach Luft.

»Das ist er«, brachte Samantha stammelnd hervor.

»Das ist Tomás Batedor, unser Historyscout Nr. 12.«

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