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Kapitel 5 - 2085

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Haruki Sato gehörte zu jenen Menschen, nach denen man die Uhr stellen konnte. Jeden Morgen erschien er, Punkt sieben, in der Eingangshalle der TT Agency. Dort begrüßte er den diensthabenden Sicherheitsbeauftragten, identifizierte sich anschließend an der Personenschleuse und betrat den Mitarbeiterbereich des Unternehmens.

Stets tat es das in einem gepflegten Anzug, von denen er diverse besaß. Ihre Farben reichten von einem modischen Taupe, über Grau, bis zu einem tiefen Blau-Schwarzton. Er hatte sich diese Art der Kleiderordnung selbst ausgewählt, denn in der TT Agency war ein Dress-Code unbekannt. Selbstverständlich waren die Damen und Herren des Vorstands immer ausgesprochen gepflegt und formell gekleidet. Für die Angestellten gab es hingegen keine Regeln, man wollte niemanden einem Zwang unterwerfen, frei nach dem Leitspruch Uniformity obstructs creativity - Einheitlichkeit behindert Kreativität.

Der gebürtige Japaner empfand Anzüge aber ganz und gar nicht als uniform. Im Gegenteil, Jeans und T-Shirt lehnte er ab, denn sie hemmten seine Kreativität. In einem perfekt sitzenden Einreiher konnte er einfach besser denken. Sein Motto lautete Sophistication leads to efficiency. Und Haruki Sato hatte Stil und er war effizient.

Daher wunderte sich niemand, dass er das Gebäude auch an diesem Morgen, freundlich grüßend, in einem taubenblauen, veganen Biozwirn Marke gotsutsumu betrat. Der Wachmann staunte jedoch aus einem anderen Grund nicht schlecht, als er den Japaner erblickte. Zweimal warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, um sich zu vergewissern, dass sie richtig ging. Erst dann glaubte er, was er da sah. Sato hatte das Gebäude bereits um sechs Uhr morgens betreten. Eine Stunde zu früh, unvorstellbar! Vor lauter Verwirrung vergaß der Sicherheitsmann sogar zurückzugrüßen. Aber Sato schien das gar nicht zu bemerken, denn er schritt zielstrebig Richtung Bürotrakt.

Als er fünf Minuten später sein Büro erreichte, machte er nur einen einzigen Schritt hinein, um im nächsten Moment direkt stehenzubleiben. Irgendetwas stimmte nicht!

Verwirrt fixierte er jeden Winkel des Raums und versuchte, die Ursache seiner Irritation zu finden. Auf den ersten Blick sah alles wie gewohnt aus. Der Bürostuhl stand direkt vor seinem Schreibtisch, auf dem sich das Holoterminal mit der Verbindung zum Zentralrechner befand. Links vom Tisch steckte die üppige Yuccapalme in ihrem blauen Topf. Das grellbunte Ecksteinbild war an seinem Platz an der gegenüberliegenden Wand und die Fensterfront, die, aufgrund des tiefen Sonnenstands, leicht abgedunkelt war, wirkte wie eh und je. Selbst die Diagramme, die er zur besseren Übersicht des Batedor Falles auf A0 geplottet hatte, hingen noch genauso an der Wand, wie er sie dort erst kürzlich hingepinnt hatte. Alles schien normal. Und dennoch, da war dieses Gefühl von - Etwas ist anders als sonst.

Langsam setzte er sich in Bewegung und atmete vor Anspannung tief ein. Soeben wollte er sein Sakko an den Wandhaken hängen, als er plötzlich innehielt. Schlagartig wurde ihm klar, was hier nicht stimmte. Es roch nach Parfüm. Jemand, mit einer Schwäche für eine schwere und teure Duftnote, hatte hier in seiner Abwesenheit das Büro aufgesucht.

Wer? Und warum? Mit Sicherheit war es nicht Samantha gewesen, Amber und Moschus, das war nicht ihr Stil. Sie bevorzugte einen leichten und sportlichen Duft, am liebsten Davidoff Cool Water for Woman. Den hatte er ihr erst vor kurzem zum Valentinstag geschenkt. Seit vielen Jahrzehnten ein Dauerbrenner unter den Parfümen. Allerdings war er sich sicher, dass er auch diesen Duft kannte. Es war noch gar nicht lange her, dass er dieses Bukett in der Nase gehabt hatte. Aber wann und wo?

Sato spürte förmlich, wie sich eine Last auf seine Schulter legte. Erst dieser Vorfall mit Tomás Batedor, im Anschluss die Vorladung in die Chefetage und jetzt spionierte jemand in seinem Büro herum. Das konnte alles kein Zufall sein. Außerdem benötigte man eine entsprechende Schlüsselkarte. Die Zimmer waren immer verschlossen.

Was würde als Nächstes kommen? Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Er drehte sich in Richtung seines Tischs und griff nach der Stuhllehne. Als er das Sitzmöbel wegzog, sah er, was er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Ein rechteckiges Stück Synthetikpapier. Ganz vorn, nahe der Kante, da lag es.

Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es sich hierbei um einen Briefumschlag handelte. Sehr ungewöhnlich! Die Zeiten, in denen auf diese archaische Weise kommuniziert worden war, waren längst vorbei. Da musste man sich schon einer ihrer Zeitmaschinen bedienen, um ein derartiges Schriftstück zu entdecken.

Was wollte man ihm auf diese Weise mitteilen? Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und seine Hände zu zittern begannen. Sein Unterbewusstsein kannte die Antwort bereits, nur sein Verstand beanspruchte einen Augenblick länger.

Demnach waren es doch keine Gerüchte, die man von Zeit zu Zeit im Haus hörte. Jetzt hatte es ihn selbst erwischt.

Mit bebenden Händen griff er nach dem Umschlag und klappte die Lasche auf. Sie war nicht verklebt. Er zog ein Schreiben heraus. Hellrotes, fälschungssicheres Synthetikpapier. Die komplette Seite war bedruckt und wies neben der persönlichen Anrede einige wohlwollende Worte, viele Zahlen und andere persönliche Daten auf. Doch das einzig Entscheidende prangte ganz oben. Ein einzelnes unheilvolles Wort - Kündigung!

Als Samantha Gunnarsson eine Stunde später ebenfalls zum Dienst erschien, brachte sie Sato, wie üblich, sein Frühstück, obwohl sie eigentlich im anderen Teil des Gebäudes arbeitete. Sie betrat schwungvoll und ohne anzuklopfen das Büro ihres Freundes. Sato saß regungslos in seinem Arbeitssessel. Samantha bemerkte zunächst nicht einmal, dass etwas nicht stimmte, und schenkte dem Schreiben in seiner Hand keinerlei Beachtung. Sie ging davon aus, dass er sich gedanklich mit einem komplizierten Sachverhalt beschäftigte. Schließlich war das bei ihm nicht unüblich. Nichtsdestotrotz entschied sie, die Stille im Raum zu beenden.

»Na du Träumer, guten Morgen! An welchem Problem arbeitest du gerade?« Statt die Begrüßung zu erwidern, hob Sato kraftlos den Arm mit dem Kündigungsschreiben in seiner Hand.

»Sieh selbst«, gab er knapp zurück und seine Stimme klang dabei wie aus einer anderen Welt.

»Was ist denn los?«, setzte Gunnarsson an. Dann fiel ihr Blick auf das plakativ groß geschriebene, erste Wort der Seite. Sofort wechselte ihre Gesichtsfarbe von Hellrosa zu Dunkelrot.

»Kündigung! Was soll das heißen, Kündigung?«

»Sie feuern mich, Sam.«

»Aber du hast doch nichts falsch gemacht, Haruki.«

»Das kannst du denen ja gerne mal erklären.«

»Verdammt, das ist nicht fair. Wer hat dir die Kündigung gegeben?«

»Sie lag auf dem Tisch, als ich vorhin ins Büro kam.«

»Unverschämtheit!«, rief die junge Frau erzürnt aus. »Die hatten nicht mal den Anstand, mit dir persönlich zu sprechen?«

»Das hielt man wohl nicht für nötig«, gab Sato sichtlich geknickt zurück. »Ich weiß aber, wer das hier hingelegt hat.«

»Wer?«

»Die Personalchefin Melissa Sommers höchstpersönlich. Ihr Parfüm lag noch in der Luft. Daran habe ich es erkannt. Sie hatte es auch während des Krisenmeetings aufgelegt.«

»Na toll, ausgerechnet die …«, erboste sich Gunnarsson erneut. »Warum hat man nicht sie gefeuert? Sie hat schließlich Tomás Batedor eingestellt und nicht du.«

»Irgendjemanden mussten sie verantwortlich machen, um den Schaden soweit wie möglich zu begrenzen. Samantha, ich bin nur das Bauernopfer.«

»Verteidigst du die da oben etwa noch?«

»Nein, überhaupt nicht, Sam«, seufzte Sato. »Am liebsten würde ich diesen gesamten selbstgefälligen Verein erwürgen. Du weißt genau, wie meine Familie reagieren wird. Eine Kündigung, egal aus welchem Grund, ist und bleibt ein Gesichtsverlust. O-tou-san wird sich schämen.« Er senkte den Kopf.

»Das wird vermutlich so sein. Dein Vater ist in dieser Beziehung ziemlich traditionell, oder besser - altmodisch. Ich weiß noch genau, wie es deiner Schwester ergangen ist, als sie entschieden hatte ihr Studium abzubrechen.« Haruki schüttelte resignierend den Kopf.

»Und wie sollen wir den Gehaltsverlust ausgleichen? Bei den Kosten die wir haben?«

Samantha trat hinter ihren Freund, legte mitfühlend ihre Hände auf seine Schulter und begann behutsam sie zu massieren.

»Es tut mir so leid, Schatz. Wegen des Geldes mach dir bitte keine Sorgen. Wir haben ja noch mein Einkommen.«

»Das ist wahr, aber das wird nicht reichen, da sollten wir uns nichts vormachen.«

»Okay, wir werden uns ein wenig einschränken müssen«, wiegelte sie seine Bedenken ab.

»Allein die Wohnung kostet ein Vermögen. Und bis ich was Neues gefunden habe, ach was sag ich.« Kraftlos schob er ihre Hände beiseite.

»Wahrscheinlich muss ich eine Umschulung oder Weiterbildung machen. Die Ausbildung zum Scoutsupporter ist zu speziell. Wer stellt mich damit ein?«

»Ich könnte ausflippen. Die wissen gar nicht, was sie dir, was sie uns, damit antun. Typisch! Die haben nur einen Sündenbock gesucht.«

Grimmig dreinblickend verschränkte sie die Arme vor ihrem Körper. Man konnte ihrem Gesicht ansehen, wie angestrengt sie nachdachte.

»Wir werden etwas dagegen tun«, sagte sie entschieden. »Wann musst du gehen?«

»Ende dieses Monats. Bis dahin soll ich alles an Peters übergeben. Meine Stelle wird vermutlich intern neu ausgeschrieben. Wenn du willst, kannst du dich ja bewerben.«

»Also ehrlich, als wenn ich unter diesen Umständen damit glücklich werden würde. Außerdem fühle ich mich beim Historymonitoring wohl.«

»Ich weiß, war nur ein Scherz.«

»Bis Ende des Monats sagst du?«

»Ja, warum?«

»Dann bleiben uns noch zehn Tage Zeit.«

»Zeit, wofür?«

»Na was wohl? Um das Ganze ungeschehen zu machen natürlich.«

Für einen Augenblick herrschte absolute Stille. Der letzte Satz verschlug Sato die Sprache.

»Ich …, ich glaube, ich verstehe nicht?«

»Doch, ich denke schon, mein Schatz«, gab sie entschlossen zurück. »Ich werde dir helfen, dass du alles wieder geraderücken kannst. Wir holen Tomás Batedor zurück.«

»Soll das heißen, ich soll in die Vergangenheit reisen?«

»Na klar, was dachtest du denn?«

»Herrgott Sam, ich bin kein Historyscout. Das erlauben die niemals!«

»Ich habe nicht vor, um Erlaubnis zu fragen, Haruki!«

»Was dann? Auf eigene Faust etwa?«, brach es aus Sato heraus. »Das geht nicht, das können wir nicht tun.«

»Selbstverständlich können wir das.«

»Aber was ist mit dem Paradoxon? Es ist viel zu gefährlich. Ich habe den Vorstand doch gerade noch davor gewarnt.« Gunnarsson vollführte eine Bewegung mit der Hand in der Luft, als wollte sie seine Bedenken einfach beiseitewischen.

Und dann bombardierte sie Haruki mit Theorien von Experten wie Thorne Junior oder Niloy Akemi. Harukis Miene zeigte deutlich, dass er an Samanthas Ausführungen ernsthaft zweifelte. Nur fielen ihm keine schlagkräftigen Gegenargumente ein. Tief in seinem Inneren wollte er ihr vielleicht auch gar nicht widersprechen.

»Oder hast du eine belastbare Studie gefunden, die ich nicht kenne?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute ihn herausfordernd an. Sato schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Vertrau mir! Wir entfernen nur einen leptoquarkkleinen Staubpartikel aus dem Universum und bringen ihn zurück in seine Zeit. Lass uns erst mal einen Plan aushecken. Das Wichtigste ist, dass du Ruhe bewahrst und dich nicht verdächtig machst.« Sie schnappte sich einen Projektionsstift und startete damit eine Attacke auf das Holoboard.

»Und wir fangen damit an, dass wir unsere Ergebnisse schön für uns behalten. Leite nur die unwichtigen Informationen weiter. Von dem Pseudonym Thomas Wayfarer, der Buchveröffentlichung und der Anomalie in 2015 muss keiner was erfahren, nicht wahr?« Sie warf ihm einen verschwörerischen Blick zu.

Eine halbe Stunde später verließ die junge Frau mit grimmiger Entschlossenheit Satos Büro. Neben dem, was heute an regulärer Arbeit anstand, hatte sie nun ein paar zusätzliche Dinge vorzubereiten.

Als Erstes galt es ein ITER 4.0 Zeitreisetablet zu besorgen. Das würde, im Vergleich zu dem, was sonst noch auf ihrer Liste stand, ein Kinderspiel werden. Die Dinger lagen im Dutzend bei ihr in der Abteilung und wurden dort auf Zuverlässigkeit geprüft oder hinsichtlich ihrer letzten Benutzung analysiert. Vereinzelt gab es sogar Geräte, die länger als ein Jahr nicht mehr im Einsatz gewesen waren. Vermisst wurden sie dennoch nicht. Schließlich gab es genug davon und niemand wagte es, das Monitoringteam zur Eile zu drängen. Mit ihnen legte man sich besser nicht an - ein ungeschriebenes Gesetz des Hauses.

Schwieriger würde es dagegen sein, Harukis Aufbruch und Aufenthalt in der Vergangenheit zu verschleiern. Unzählige Sicherheitsmechanismen sorgten dafür, dass Missbrauchsversuche quasi unmöglich waren. Von Ausnahmen abgesehen, durften Historyscouts und ihre Tablets nur von den Transiträumen aus, ihre Reisen antreten. Jeder unautorisierte Versuch, eine portable Zeitmaschine aus der Agency zu bringen, durfte sogar durch Schusswaffengebrauch verhindert werden.

Gunnarsson war sich dieser Gefahr mehr als bewusst. Sie würde alles tun, damit Sato nichts passierte. Doch an das Sicherheitsprotokoll des Gebäudes kam selbst sie nicht heran. Kein Zugriff seitens ihrer Abteilung. Was sie brauchten, war ein effektives Ablenkungsmanöver. Etwas, dass genug Aufsehen erregte, um Sato samt ITER unbehelligt aus dem Gebäude verschwinden zu lassen.

Sie lächelte, als sie in ihrem Büro ankam. Der Gang durch die vielen gemäldegesäumten Flure des Baus, hatte sie auf eine Idee gebracht. Der Schlüssel zum Erfolg lag im Geltungsdrang des Unternehmens. Haruki und sie würden die Vorstandsmitglieder an ihrer verwundbarsten Stelle treffen - an ihrer eigenen Eitelkeit und natürlich am Portemonnaie.

Als sie gegen Abend nach Hause in die gemeinsame Wohnung fuhr, wusste sie, dass sie noch eine gehörige Portion Überzeugungsarbeit würde leisten müssen. Haruki Sato war alles andere als ein Gauner. Selbst der bloße Gedanke ein ITER Gerät zu entwenden, würde Magengeschwüre bei ihm heraufbeschwören. Zudem bliebe es nicht bei diesem einen Diebstahl. Für einen, von Grund auf korrekten und loyalen Menschen wie Sato, absolut ein Ding der Unmöglichkeit.

Manchmal fragte sie sich, wie es überhaupt je zu dieser Beziehung gekommen war. Zwei unterschiedlichere Personen konnte es auf der Welt kaum geben. Haruki Sato, der stets geradlinige und strukturiert planende Japaner im Biozwirn und Samantha Gunnarsson, die Kreative und Impulsive, die vor Energie regelrecht sprühte und sich erst im Chaos richtig wohlfühlte. Selbst rein optisch waren die beiden ein bemerkenswertes Paar. Überragte sie ihn doch um gut eine Kopflänge und pflegte eher bequeme statt formeller Kleidung zu tragen.

Trotz, oder gerade wegen all dieser offensichtlichen Unterschiede, hatte es schon bei ihrer ersten Begegnung, vor anderthalb Jahren, ordentlich geknistert. Und das, obwohl das zufällige Treffen in der Kantine der TT Agency unter einem denkbar schlechten Stern gestanden hatte. Bei dem Gedanken an ihren fliegenden Purple Macchiato mit Blaubeertopping musste die junge Schwedin noch immer laut lachen. Harukis sandfarbener Anzug hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Jeder andere wäre vermutlich vor Ärger ausgerastet, aufgesprungen und hätte sich vor allem baldmöglichst umgezogen. Doch was machte Sato stattdessen? Entspannt sitzenbleiben, als wäre nichts passiert. Er hatte ihr sogar spontan einen Stuhl angeboten. Die Tatsache, dass er von oben bis unten mit violetter Milch bekleckert war, schien ihn nicht sonderlich gestört zu haben.

Das ist mein Haruki, dachte sie liebevoll. Schöne Erinnerungen. Doch wenn die Zukunft weiterhin perfekt sein sollte, mussten sie jetzt schnell handeln.

»Wie bitte?«, polterte es aus Sato heraus, nachdem Gunnarsson zu Ende gesprochen hatte.

»Du willst das Eckstein Gemälde aus meinem Büro klauen?«

»Jaaaaa…«

»Aber warum das denn, um Himmels Willen?«

»Sobald ich das Bild von der Wand nehme, wird im ganzen Haus Alarm ausgelöst. Das ist gut!«

»Das ist nicht gut, das ist Selbstmord!«

»Nein, nein. Ist es nicht! Das Wachpersonal unten im Foyer wird noch im selben Moment benachrichtigt, was entwendet wurde. Ihre gesamte Aufmerksamkeit gilt somit einem Gemäldedieb mit einem rechteckigen Paket oder einer großen Rolle in der Hand.«

»Mag sein. Und weiter?«

»In dem Moment, in dem der Alarm ausgelöst wird, gehst du, mitsamt dem Zeitreisetablet, nach draußen.«

»Mit dem ITER?«, stieß Sato ungläubig hervor. »So blind können die doch gar nicht sein, dass sie das nicht merken.« Sam sah ihn leicht verwirrt an.

»Na, wenn ich jetzt erstmalig eine Tasche mit mir herumtrage, werden die sofort misstrauisch«, wandte er zu Recht ein. Sie schüttelte theatralisch den Kopf.

»Eine Tasche wirst du nicht dabeihaben. Wir binden dir das Tablet hinten auf den Rücken. Dein Jackett wird es perfekt verdecken. Da du bereits auf dem Weg zum Ausgang bist, wenn der Alarm ausbricht, wird dich niemand verdächtigen und man winkt dich durch. Du kannst nicht leugnen, dass du wohlbekannt bist, oder?«

»Mag sein«, gab Sato zerknirscht zu. »Aber was ist mit dir? Man wird dich mit dem Bild erwischen.«

»Vertrau mir, mein Schatz. Kein Mensch wird mich erwischen. Falls man auf mich stößt, habe ich das Bild längst nicht mehr bei mir.«

Die nachfolgenden Abende waren geprägt von weiteren, teils hitzigen Diskussionen. Außerdem bereitete Sato demonstrativ Bewerbungen für andere Unternehmen vor, obwohl er seine Arbeit bei der Agency in Wirklichkeit liebte. Je näher der Tag der Entlassung rückte, desto besser gefiel ihm der Gedanke, sich das Alles nicht ohne Gegenwehr gefallen zu lassen. Letztendlich stimmte er schweren Herzens dem Plan seiner Freundin zu. Gunnarsson hatte insgeheim nie mit etwas anderem gerechnet und daher zielstrebig alles in die Wege geleitet.

Ein bisschen über sich selbst erschrocken, musste sie feststellen, dass ihr das Hacken von Computern sogar Spaß machte. Doch noch eine weitere Sache jagte ihr einen Schreck ein. Jetzt, da sie selbst zum Gegner der Agency mutierte, stellte sie erst fest, wie anfällig das System der Agentur für Generalprävention im Grunde war. Insbesondere, wenn der Angreifer direkt an der Quelle nahezu aller sensiblen Systeme saß. Sogar eine simple Vier-Augen-Authentifikation hätte jeden Hackversuch erheblich schwieriger gestaltet. Nicht unmöglich, aber die Hürden wären deutlich höher gewesen. Zu Samanthas Glück jedoch, wies das Sicherheitskonzept klaffende Lücken auf.

Endlich war es soweit! Gunnarsson war bereit. Zumindest für Plan A. Wenn alles glatt lief, würde Plan B nicht mehr nötig sein, zumal dieser viel risikobehafteter war und einiges an Improvisation bedurfte.

Noch einmal atmete sie tief ein, warf verstohlen einen Blick links und rechts über ihre Schultern, schob eines der ITER Geräte unter ihren dicken Pullover und drückte auf den ENTER-Button des Terminals vor sich. Als nach ein paar Sekunden noch immer keine Reaktion erfolgt war, pustete sie erleichtert aus. Das System hatte ihr kleines Programm ohne Murren geschluckt. Jetzt blieben noch ungefähr fünf Minuten. Mit einem Ächzlaut stand sie auf und krümmte dabei leicht den Oberkörper. Demonstrativ hielt sie eine Hand vor ihren Bauch auf Höhe der Magengegend.

»Stimmt was nicht, Samantha?«. Noah Kelly, ihr Kollege und Stellvertreter, blickte sie besorgt an.

»Ich weiß nicht«, gab sie, mit gespielt leidender Miene, zurück. »Ich glaube, mir ist das Mittagessen nicht bekommen.«

»Schlimm?«

»Es geht«, lautete ihre bewusst knapp gehaltene Antwort. »Hältst du bitte kurz für mich die Stellung? Ich denke, ich sollte mal die Toilette aufsuchen.«

»Klar, lass dir Zeit«, versicherte ihr Gegenüber sofort.

»Danke, Noah!« Sie setzte sich Richtung Tür in Bewegung.

»Ach, Sam?« Gunnarsson stockte der Atem. Sie hielt inne, drehte sich aber nicht um.

»Was hast du eigentlich heute Mittag gegessen?« Samantha verzog das Gesicht. Offensichtlich machte er sich Sorgen, dass ihn gleich dasselbe Schicksal ereilen würde. Damit hatte sie nicht gerechnet. Fieberhaft überlegte sie, was Noah niemals anrühren würde.

»Den Tofu-Burger.«

»Dann wundert mich nicht, dass dir übel ist«, grinste der Kollege und wandte sich neuerlich seinem Terminal zu. Sam nickte stumm und war mit wenigen Schritten aus dem Büro. Sie hielt sich in Richtung der Toiletten. Wie üblich, zeichneten diverse Kameras und Wärmesensoren ihren Weg durch das Gebäude auf. Als sie das Damen-WC erreicht hatte, trat sie ein, vergewisserte sich, dass außer ihr niemand hier war und blickte auf ihre Armbanduhr. Hier drin waren Aufzeichnungen zum Glück verboten.

Um Punkt vierzehn Uhr verließ sie das WC wieder, begab sich nach rechts zur Notausgangstür des Treppenhauses und drückte die Klinke des elektronisch verriegelten Schlosses nieder. Wie es ihr kleines Programm vorsah, war es entsperrt und gab den Weg frei. Kaum fiel die Tür hinter ihr zu, hörte sie das Surren des Schließmechanismus. Ihr Weg von der Toilette in das, sonst nicht frei zugängliche, Treppenhaus, wurde währenddessen nicht aufgezeichnet. Vielmehr zeigten die Monitore der Kameras, dank des eingeschleusten Codes, einen vollkommen leeren Flur.

Leichtsinnigerweise war beim Design der Anwendung auf das Datum im Zeitstempel verzichtet worden. Daher konnte sie problemlos ein Video des Vortages verwenden. Die Uhrzeiten stimmten überein. Niemandem würde etwas auffallen. Selbst die Wärmesensoren glaubten, dass der Flur menschenleer sei. Die Software zu manipulieren, war lächerlich simpel gewesen. Gunnarsson hatte noch nie einen primitiveren Quellcode gesehen. Anfänger!

Kaum war sie im Treppenhaus angekommen, machte sie sich auf den Weg nach oben. Auf Satos Etage angelangt, wartete sie erneut bis zur nächsten vollen Minute und wiederholte die Prozedur. Weiterhin unsichtbar für alle Überwachungsmaßnahmen, kam es jetzt zur nächsten Phase ihres kleinen, durchtriebenen Plans.

Haruki Sato und Ralph Peters saßen währenddessen zusammen in einem kleinen Besprechungsraum im zweiten Stock. Dort waren alle Meetingräume zu finden, die nicht für die Geschäftsleitung reserviert waren. Sie hatten sich dort getroffen, um die Details der Arbeitsübergabe zu regeln. Erneut musste Sato feststellen, was Peters für ein feiner Kerl war.

Der junge Mann fühlte sich sichtlich unwohl in der Rolle des Nachfolgers. Wiederholt versicherte er Sato, wie unendlich leid ihm das Ganze täte, und wie viel Respekt er vor dessen Arbeit hätte. Er bot ihm sogar an, selbst mit dem Vorstand zu sprechen. Womöglich würden sie ihre Meinung ja ändern. Es kostete Sato sehr viel Mühe und gutes Zureden, um ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Er wusste genau, dass seine Entlassung eine rein politische Entscheidung gewesen war. Jeder, der sich dagegen aussprach, würde sich bestenfalls selbst die Karriere verbauen. Letztendlich sah Peters ein, dass es wohl keinen Zweck hatte. Sie besannen sich auf den ursprünglichen Grund ihres Treffens und begannen mit den Formalitäten der Übergabe.

Es waren ungefähr fünfundvierzig Minuten vergangen, als plötzlich Alarm im Gebäude losging. Beide fuhren erschrocken zusammen und schauten sich ratlos an. Keiner wusste, was jetzt zu tun war. In just diesem Moment folgte zum Glück eine Ansage durch die Deckenlautsprecher.

»Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit! Es hat einen versuchten Diebstahl gegeben. Das gesamte Personal wird gebeten, sich unverzüglich durch die Personenschleusen im Erdgeschoss nach draußen zu begeben. Folgen sie den Anweisungen des Sicherheitspersonals und warten anschließend auf weitere Instruktionen. Bitte verhalten sie sich ruhig und diszipliniert!«

Satos Gedanken überschlugen sich. War das etwa Samantha gewesen? Und wenn ja, wieso handelte sie früher als geplant? Wieso hatte sie ihn nicht informiert? Wie sollte er jetzt das Tablet nach draußen schmuggeln? Sein Herz schlug bis zum Hals. Er bereute, sich auf diesen Wahnsinn eingelassen zu haben.

Wie betäubt, folgte er Peters durch das Gebäude in Richtung Ausgang. Was, wenn sie Sam geschnappt hatten? Verdammt! Sie hatten sie bestimmt geschnappt. Sonst hätte es in der Durchsage nicht geheißen, dass es einen Diebstahlversuch gegeben hatte.

Ihm wurde ganz flau im Magen. Und warum zum Teufel, stellten die nicht als Allererstes das Gebimmel ab? Die Alarmanlage machte einen ja wahnsinnig.

Schließlich erreichten sie den Ausgang. Vor lauter Menschen hatten sich vor den Drehsperren lange Schlangen gebildet. Einer nach dem anderen wurde durch die Sicherheitsschleusen geführt und abgetastet. Endlich war Sato an der Reihe und durfte passieren. Mit blassem Gesicht gelangte er ins Freie. Auf dem Vorplatz des Gebäudes herrschte Gedränge.

Besorgt blickte er sich um. Wo war Sam? Die Menschenmassen machten es unmöglich, sie zu finden. Inständig hoffte er, dass sie nicht verhaftet worden war.

»He, Sato«, hörte er Peters in sein Ohr brüllen, denn in dem Stimmengewirr, hätte er ihn sonst nicht verstanden.

»Was denn?«, schrie er genauso laut zurück.

»Schau mal, da drüben! Ich glaube, da vermisst dich jemand.«

Sato blickte in die Richtung, die Peters ihm deutete. Dort hinten stand Samantha! Sie grinste über beiden Ohren und das Zeichen, dass sie mit ihren Händen machte, war unmissverständlich. Beide Daumen zeigten nach oben.

»Du hast was?«, brach es aus Sato heraus, als sie abends zu Hause waren. Er konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte.

»Du hast mich völlig richtig verstanden. Die Bilder und das Tablet hängen, mit Hilfe einiger Magnete, unter dem Käfig des Fensterputzers.«

»Der ist doch ganz oben am Gebäude. Wie sollen wir da jemals herankommen?«

»Ganz einfach. Heute Nacht wird sich der Käfig, wie von Zauberhand, senken, mein Schatz«, gab Gunnarsson stolz zurück. »Dafür habe ich gesorgt. Um 0:05 Uhr, während des Wachwechsels, halte ich das Päckchen bereits in meinen Händen«, trällerte sie übermütig.

»So hatten wir das aber nicht abgesprochen, Sam!«

»Ich weiß, ich weiß, sei bitte nicht sauer. Ich hab gemerkt, wie schwer du dich mit der ganzen Sache anfreunden konntest. Deswegen habe ich das selber in die Hand genommen.«

»Und die Bilder? Ich meine, warum hast du die gestohlen? Was machen wir jetzt damit?«

»Reines Ablenkungsmanöver.« Sie grinste verschmitzt. »Ehrlich gesagt, war es meine kleine Rache dafür, dass sie dich entlassen haben.«

»Ach Sam«, seufzte Haruki und nahm sie in den Arm. Sie kuschelte sich an ihn.

»Außerdem weiß ich, wie gern du den Eckstein hast.«

»Da ist wahr. Aber was machen wir jetzt damit?«

»Nimm ihn doch mit in die Vergangenheit. Dann kann er hier jedenfalls nicht mehr gefunden werden.«

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