Читать книгу Was auch immer wir hatten - Robin Lang - Страница 10
- Dana -
ОглавлениеAls ich am Morgen die Treppe runter ins Studio kam, war Michas erster Kunde schon wieder weg. Da ich bis spät in die Nacht an meinem Zeugnis und dem dazugehörigen Kündigungsschreiben gesessen hatte, war ich noch ziemlich müde. Das Telefonat mit meiner Mentorin hatte ich verschoben. Ich schlenderte in die Küche, um mir einen guten Kaffee zu gönnen und blätterte die Skizzen und Bilder durch, die wohl von dieser Vorbesprechung liegen geblieben waren. Eindeutig ein Musiker, der sich hier tätowieren lassen wollte, den Motiven nach zu urteilen. Ich war gespannt, was meine Arbeitgeber wohl aus diesen Ideen machen würden. Ich wollte gerade den Stapel wieder in Frieden lassen, als mein Blick auf die Mappe fiel, die ganz zu unterst lag. Ein gelber Schnellhefter, wie er in der Schule benutzt wurde. Das passte nun so gar nicht zu dem Rest. Neugierig zog ich ihn heraus und musste schmunzeln. In ziemlich krakeligen Großbuchstaben stand da:
„KIGA RASSELBANDE
HAUSAUFGABEN BEN“
Da hatte wohl jemand aus Versehen den Schnellhefter seines Sohnes hier vergessen. Die Buchstaben sahen aus wie gemalt, eben genau so, wie ein Kind, das noch nicht richtig schreiben konnte, schreiben würde. Etwas wunderte ich mich schon, denn zu meiner Zeit gab es im Kindergarten noch keine Hausaufgaben, aber ein Blick in den Ordner zeigte, dass es sich nur um Schwungübungen, Ausmalbilder und erste Buchstaben und Zahlen handelte.
Mit dem Ordner in der Hand, ging ich zu Micha – ich musste gestehen, dass ich vor David immer noch ein bisschen Angst hatte.
„Guten Morgen! Sag mal, das habe ich in der Küche gefunden. Kann das euer Kumpel vergessen haben?“
Micha nahm ihn mir aus der Hand und blätterte ihn kurz durch. „Oh je, ja, das wird er wohl. Da wird Ben aber sauer auf seinen Vater sein, wenn er ohne seine Hausaufgaben in der Vorschule sitzt.“ Er blickte kurz auf die Uhr. „Mist, Christian ist die nächsten Stunden auch nicht auf dem Handy zu erreichen, das macht er immer aus. Sag mal, würde es dir was ausmachen, das schnell in den Kindergarten zu bringen? David und ich können jetzt hier auch nicht weg. Wir und auch Christian und Ben erst recht wären dir echt dankbar. Sag einfach, du hättest was für Ben Möller.“
„Kein Problem, soll ich bei der Gelegenheit direkt noch was vom Bäcker oder so besorgen?“
So verließ ich keine zehn Minuten später mit der Mappe und einem Bestellzettel das „Mr. Van T.“ in Richtung Kindergarten.
Ich klingelte und eine eindeutig gestresste junge Frau öffnete mir die Tür. „Was kann ich für Sie tun? Bitte schnell, ich bin alleine in der Gruppe!“
„Ich habe die Vorschulmappe von Ben Möller, sein Vater hat sie vorhin in der Küche vergessen.“ Ich wollte jetzt nicht erklären müssen, dass er in einem Tattoostudio gewesen war. Ich wusste ja auch gar nicht, ob Bens Vater wollte, dass das hier bekannt wurde. Der bisher eher desinteressierte Blick der Frau musterte mich jetzt eher neugierig. „Sind Sie eine … Freundin von Bens Vater?“ Was jetzt? Sollte ich jetzt lügen oder alles aufklären? „Sowas Ähnliches, ich soll aber Ben seine Mappe bringen …“
„Gehen Sie die Treppe rauf, Ben ist in der Gruppe oben links und grüßen Sie Bens Vater von mir!“ Damit zwinkerte sie mir zu und ich hatte das Gefühl, dass ich irgendetwas nicht verstanden hatte. Aber dafür hatte ich keine Zeit, also ließ ich sie stehen und ging in die mir zugewiesene Richtung. Am Raum angekommen, ging es mir durch den Kopf, dass ich Ben ja gar nicht kannte. Was, wenn der Junge nun doch nicht da war und die Situation komisch wurde. Vielleicht hätte ich ja eben doch die Wahrheit sagen sollen? Aber alle Bedenken waren umsonst gewesen, denn kaum hatte ich den Raum betreten, kam ein kleiner Blondschopf auf mich zugerannt.
„Hey, du hast meine Mappe, das ist toll! Ich hab sie Papa heute Morgen in die Hand gedrückt, aber der hat sie dann vergessen, als er mich in den Kindergarten gebracht hat. Hat Papa dich geschickt? Wer bist du überhaupt? Bist du ein Groupie?“
Ich war völlig erschlagen von der Masse an Information und woher kannte ein kleiner Junge den Begriff 'Groupie'?
„Nein, ich bin Dana, dein Papa hat die Mappe heute Morgen bei David und Micha liegen gelassen und ich sollte sie dir bringen.“
„Ach, stimmt, er wollte ja wieder ein Tattoo, er hat mir versprochen, wenn ich groß bin, dann tätowiert mich Micha auch!“
Ich musste schmunzeln. „Aber ich weiß nicht, ob dein Papa will, dass alle das wissen?“ „Stimmt, er hat vorhin gesagt, dass er es mag, wenn ihn nicht alle kennen.“
Der Junge sprach in Rätseln.
In diesem Moment kam Bens Erzieherin auf uns zu.
„Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, ihr Blick war eindeutig neugierig und wanderte an mir hinunter und wieder hinauf.
Ben antwortete an meiner Stelle: „Das ist Papas Freundin Dana, wir haben meine Vorschulmappe heute Morgen vergessen und sie hat sie mir jetzt gebracht!“
Für einen Augenblick schien die Erzieherin mich mit Blicken zu durchbohren. „So, Sie sind Chris' neue Freundin? Na, dann …!“ Mehr sagte sie nicht, dann wendete sie sich Ben zu: „Ben, dann räum' deine Mappe weg, damit du sie gleich für die Vorschule hast … und die Freundin deines Vaters kann ja dann wieder gehen, oder wollten Sie noch etwas?“
Was für eine Schnepfe – ich kannte diese Frau doch gar nicht, was hatte ich ihr getan?
„Nein, ich bin hier fertig. Tschüss, Ben!“
Der Kleine strahlte mich an – ich konnte deutlich eine Zahnlücke entdecken und zwei Grübchen. Er war ein süßer Kerl, seine blonden Haare waren leicht gelockt und etwas zu lang. Seine Hose hatte Flicken an den Knien und der grüne Pulli passte gut zu seinen grünen Augen. So, wie er mich anlächelte, konnte man erahnen, dass er den Schalk im Nacken hatte und ein glückliches Kind war. Wieso er mich allerdings als Freundin seines Vater vorgestellt hat, das verstand ich nicht.
Der Erzieherin schien das auf jeden Fall nicht zu gefallen. Doch das war nicht mein Problem, ich würde weder diese Frau noch das Kind jemals wiedersehen.
Auf dem Rückweg zum Tattoostudio kam ich wieder an diesem Klamottenladen vorbei und diesmal hatte er auf. Ich ging also hinein und schaute mich um. Der Blick ins Schaufenster hatte nicht zuviel versprochen und so nutzte ich die Gelegenheit, mir einige Stücke zu kaufen und damit einen Grundstock für mein neues Selbst zuzulegen. Beim Blick in den Spiegel in der Umkleidekabine musste ich über mich selbst schmunzeln: so wäre ich in Hamburg noch nicht mal joggen gegangen. Meine Haare waren zu einem höchst lockeren Zopf geflochten, im Grunde hingen fast so viele Haare lose um meinen Kopf, ich trug kein Makeup, ein altes, bequemes Band T-Shirt und dazu eine „Freizeithose“, wie es so schön in Neudeutsch hieß. Im Grunde sah ich aus, als wäre ich gerade aus dem Bett gestiegen. Aber es war mir egal, ich fühlte mich wohl und bisher hatte sich im Studio keiner über mich beschwert. Irgendwann in naher Zukunft würde ich mit Sicherheit wieder mehr Wert auf mein Äußeres legen, aber im Moment genoss ich es viel zu sehr, mich mal hängen zu lassen und nicht jeden Morgen wie aus dem Ei gepellt das Haus zu verlassen.
Nach einem kurzen Stop in der Bäckerei war ich wieder im Studio, verstaute meine Einkäufe in meinem Apartment und das Essen in der Küche, bevor mein Arbeitstag mit Telefonaten, Kundengesprächen und Bestellungen langsam, aber geschäftig vorüberging. Es hatte eine ganz eigene Qualität des Arbeitens, wenn man am Ende des Tages wusste, dass man mit Menschen interagiert, ihnen geholfen, wirkliche Gespräche mit ihnen geführt hatte. Das hatte es in meinem alten Job nicht gegeben, da hatte man Zahlen, aber keine Menschen. Schon nach so wenigen Tagen hier fragte ich mich, wie ich überhaupt so lange das Hamsterrad in der Hamburger Firma als gut oder befriedigend hatte bezeichnen können!