Читать книгу Was auch immer wir hatten - Robin Lang - Страница 4
- Dana -
ОглавлениеNovember 2016
Ich stellte meinen Trolley ab, auf Dauer war er wirklich schwer geworden. Ich stand vor dem Eingang des Tattoostudios „Mr. Van T.“ und atmete tief durch. So ganz sicher war ich mir nicht, ob ich willkommen wäre, aber wo sollte ich sonst hin? Natürlich könnte ich zu meinen Eltern zurück, aber die hatten vor ein paar Jahren das Haus verkauft und waren in eine kleine Mietwohnung gezogen. Ich war ihr einziges Kind und mittlerweile 33 Jahre alt. Ich hatte sehr erfolgreich VWL studiert, direkt nach der Uni einen äußerst lukrativen Job in Hamburg angenommen und dieser Kleinstadt den Rücken gekehrt. Die paar Male, die ich seitdem hierher zurückgekommen war, konnte man an einer Hand abzählen. Ich hatte ihnen sogar zu dem Schritt geraten, denn es war finanziell, auch bezogen auf den Aufwand, die beste Lösung. Sie lebten vom Erlös des Verkaufs sowie der Rente meines Vaters und sollte es Probleme mit der Wohnung geben, dann riefen sie den Vermieter und ließen es erledigen. Für wen sollten sie auch ihr Geld sparen? Ich hatte mich für Karriere entschieden und hatte bereits jetzt genug Geld verdient und es so angelegt, dass ich auch eine Durststrecke gut aushalten konnte. So eine Durststrecke war wohl genau jetzt – und das nicht zu knapp!
Ich hatte mich voll und ganz auf meine Karriere konzentriert und mich gegen Familie und Kinder entschieden. Ich hatte in den letzten zehn Jahren zweimal die Abteilung gewechselt und mich jedes Mal verbessert, bis ich zum Schluss die Personalabteilung leitete. Man konnte mich durchaus als Karrierefrau bezeichnen. Immer korrekt konservativ gekleidet, immer bei den richtigen Leuten eingeladen. Doch dann hatte ich einen riesengroßen Fehler gemacht und nun stand ich hier.
Mein Verhältnis zu Michael und David war … interessant und gespalten. Damals, als ich noch studierte, waren Michael und ich sowas wie ein Paar. Oder besser, ich habe mich ständig an ihn rangeschmissen und ihn genau einmal ins Bett bekommen. Doch ehrlich gesagt war das eine Erfahrung gewesen, auf die ich auch hätte verzichten können. Er war leicht angetrunken gewesen und es war sehr schnell vorbei, nichts, was in Erinnerung geblieben wäre. Wie sich kurz darauf herausgestellt hatte, war Michael nie wirklich glücklich mit seinem Leben gewesen. Er hatte seine wahren Gefühle, seine wahren Empfindungen jahrelang unterdrückt. Als er David kennenlernte, hatte dieser die Geduld und die Liebe, um den Weg mit Michael gemeinsam zu gehen. Es war gewiss nicht leicht für Michael, sich selbst und der Welt (und seinem bekloppten Vater) gegenüber zuzugeben, dass er schwul war. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie er es mir gegenüber zugegeben hat. Ein paar Typen hatten mich total abgefüllt, um mich willig zu machen (nicht, dass das damals besonders schwer war). Michael war schon in einer geheimen Beziehung mit David oder zumindest kurz davor. Aber er rettete mich aus dieser Situation, brachte mich nach Hause, kümmerte sich um mich, blieb sogar die Nacht über bei mir. Das führte fast dazu, dass David die Hoffnung aufgab, aber auch dazu, dass Michael die Augen öffnete und den Mut fand, zu David zu stehen.
Mir hatte dieser Abend auch die Augen geöffnet, ich stürzte mich mit Feuereifer in mein Studium, beendete es mit Bestnoten und verschwand aus diesem Kaff. Und wofür? Um gut zehn Jahre später wieder hier zu stehen, arbeitslos, ohne Zeugnisse, enttäuscht und alleine.
Nun könnte man meinen, dass ich nach einer solchen Karriere doch über Zeugnisse verfügen würde. Aber das Ganze war so frisch, dass ich mit meinem letzten Rest Würde und Selbstbewusstsein mein Büro geräumt und meinem Exchef eine Flasche Rotwein über den Kopf geschüttet hatte, bevor ich gegangen war. In ein paar Tagen würde ich mich dort melden, mir mein Zeugnis selber schreiben – kein unübliches Verfahren, ich war lange genug in der Personalabteilung gewesen – und es dem Vorstand zur Unterschrift zuschicken. Doch bis dahin hieß es den Ball flach halten, die Wunden lecken und sich verstecken. Was mich genau hier hin gebracht hatte. Aber was, wenn die beiden mich nicht aufnehmen würden? Aus der Ferne betrachtet war es eine gute Idee gewesen, Michael und ich hatten immer lockeren Kontakt über Email und seit ein paar Jahren über Whatsapp gehalten. Meine letzten Nachrichten waren mit Sicherheit nicht mehr so positiv gewesen wie in den Jahren davor. Und er hatte mir auch immer Mut zugesprochen und sogar seine Hilfe angeboten. Aber wie weit ging diese Hilfe? Je länger ich hier stand, desto bescheuerter fand ich meine eigene Idee. Was genau hatte mich geritten ausgerechnet bei dem schwulen Paar unterschlüpfen zu wollen, deren Beziehung ich auf eine harte Probe gestellt hatte?
Weil du verzweifelt bist, Dana, eine Schulter zum Anlehnen und einen Platz zum Ausruhen brauchst und deine Eltern nicht beunruhigen willst.
Ich hatte mich in Hamburg in den Zug gesetzt, war hier ausgestiegen und meine Füße hatten wie von selbst den Weg zum Tattoostudio gefunden. Doch im Grunde war es eine Schnapsidee gewesen. Ich seufzte tief und griff nach dem Bügel meines großen Trolleys. Ich sollte mir erstmal ein Hotelzimmer suchen, durchatmen und dann etwas überlegtere Entscheidungen treffen. Eigentlich war ich gar nicht so, normalerweise plante ich meine Züge besser, so kopflos und nur aus dem Bauch heraus hatte ich seit Jahren nicht agiert!
Ich drehte mich zum Gehen, vielleicht würde ich mich in den nächsten Tagen mal bei Michael melden. Ich brauchte ein Hotelzimmer, ich musste aus diesem verschwitzten Businesskostüm raus und die Schuhe brachten mich auch um.
„Dana – bist du das wirklich?“
Ups – ich war wohl zu lange vor dem Laden stehen geblieben. Ich zog den Kopf ein und wagte einen Blick über die linke Schulter. Da stand David – ein Bild von einem Mann, immer noch. Die
Jahre waren sehr gut mit ihm umgegangen. Er wirkte nicht mehr so jungenhaft wie vor zehn Jahren, alles an ihm schien kantiger, männlicher geworden zu sein. Er hatte eindeutig mehr Tattoos als damals, aber seine Liebe zu Farbe war geblieben. Seine blonden Haare waren an den Seiten rasiert, er sah gut aus – kein Wunder, dass Michael sich damals in ihn verliebt hatte.
„David – hallo, ich …“
„Was treibt dich hierher?“, fiel er mir ins Wort und kam auf mich zu.
„Wir haben uns ja ewig nicht gesehen, wolltest du uns besuchen? Micha wird sich freuen, dich zu sehen.“
„Bist du da sicher?“
„Klar, warum denn nicht, ihr kennt euch doch schon so lange.“
„Und was ist mit dir – hast du ein Problem damit, dass ich hier bin?“
„Wieso sollte ich? Ach, du meinst wegen damals? Dana, das ist ewig her, beinahe schon in einem anderen Leben. Du glaubst doch nicht wirklich, dass mir das noch irgendetwas ausmachen würde? Wir haben tatsächlich erst vor ein paar Wochen noch von dir gesprochen. Aber komm doch erstmal rein, hier draußen ist es ungemütlich. Magst du einen Kaffee? Micha hat noch 'nen Kunden, aber das dauert nicht mehr lange!“
Und so fand ich mich tatsächlich keine fünf Minuten später in der kleinen Küche des Studios wieder, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Die Schuhe hatte ich ausgezogen – ich wusste zwar nicht, wie ich da jemals wieder reinschlüpfen sollte, aber das war mir egal. Ich genoss die Ruhe. David hatte mir kurz Gesellschaft geleistet und Smalltalk gehalten, dann klingelte aber das Telefon und er verschwand mit den Worten: „Sorry, unser Mädel für alles hat gekündigt und wir haben noch keinen Ersatz, es ist im Moment ein bisschen chaotisch!“
Ich nutzte die Zeit, um mich ein bisschen umzusehen. Ich war seit der Eröffnung nicht mehr hier gewesen, ich hatte mich für mein Verhalten geschämt und das trotz Michaels Versicherung, dass ich willkommen wäre.
Die Küche, die wohl auch als Aufenthaltsraum diente, wirkte gemütlich, ein bisschen chaotisch, denn überall lagen Skizzen und Stifte rum, Zeitungen und Zeitschriften. An den Wänden hingen Fotos – aber andere, als im vorderen Bereich des Ladens. Dort hatte ich den einen oder anderen Promi gesehen. Bilder mit Widmungen, es waren wohl Leute, die man kennen musste und die sich im „Mr. Van T.“ hatten tätowieren lassen. Da ich mich aber nie für Klatsch und Tratsch interessiert hatte, waren mir nur wenige bekannt vorgekommen. Außerdem hatte David mich direkt in die Küche gebracht, so dass ich die Bilder nicht wirklich hatte studieren können. Hier in der Küche hingen eher Momentaufnahmen von vielen verschiedenen Menschen. Pärchen, Familien, in ganz unterschiedlichen Situationen. Hier gab es Bilder einer Frau mit zwei Söhnen, scheinbar über viele Jahre hinweg aufgenommen. Die Frau hatte immer einen traurigen Zug um die Augen, ein neueres Foto zeigte diese kleine Familie zusammen mit einem jungen Mann und alle strahlten glücklich in die Kamera. Dann war da ein anderes Bild einer wunderschönen weißblonden Frau, die von einem dieser Modelltypen – getrimmter Bart, man bun, Anzug – umarmt wurde. Daneben hing ein Bild von einem Pärchen, sie saß im Rollstuhl, der tätowierte Mann daneben war verhältnismäßig klein, er hielt ihre Hand. Diese Personen waren alle in unterschiedlichen Bilder zu sehen – eins hatten all diese Menschen gemeinsam: sie sahen glücklich aus. Traurig musste ich mir eingestehen, dass ich in den letzten Jahren nicht viel Zeit in Freundschaften investiert hatte. Wohl mit ein Grund, warum ich jetzt hier bei meiner Exaffäre in der Küche saß.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als die Tür sich öffnete und eine der Frauen, die ich auf den Fotos gesehen hatte, in die Küche kam, oder besser gesagt rollte, denn es war die Frau im Rollstuhl.
„ …ja, ich warte in der Küche auf dich … Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass hier jemand ist.“
Ich weiß nicht, mit wem sie zuerst geredet hatte, der zweite Teil des Satzes galt auf jeden Fall mir. Ich stand auf – stimmte ja, ich hatte die Schuhe ausgezogen – und stellte mich vor: „Hallo, ich bin Dana, eine alte Freundin von Michael, David hat gesagt, ich könne hier warten.“
Sie strahlte mich freudig an: „Endlich mal ein Gesicht aus Michas dunkler Vergangenheit. Cool, da werde ich dich bestimmt mal interviewen. Ich bin Lucca und mein Freund Sascha arbeitet hier als Tätowierer. Er hat noch einen Kunden, dann wollen wir zusammen Mittag essen. Ich hab Reste von gestern dabei – hast du auch Hunger?“
In diesem Moment knurrte mein Magen wie als Antwort und mir fiel ein, dass ich seit meinem Abgang gestern Mittag wirklich nichts gegessen hatte. „Hunger habe ich, wie du hörst, schon, ich möchte euch aber nicht stören oder zur Last fallen!“
„Quatsch, wenn du hier sitzt, dann kannst du auch mitessen, so funktioniert unsere Familie nun mal!“
„Wieso Familie? Ich gehör doch nicht zu Michas Familie, ich bin nur eine alte Bekannte.“
Lucca lachte: „Das ist egal, die beiden Oberglucken Micha und David haben so die Eigenschaft, ihre Frauen um sich zu scharen und uns als ihre Familie zu bezeichnen – und wenn du hier sitzt, dann wird das einen Grund haben. Das hat mich das letzte Jahr gelehrt! Also, keine falsche Bescheidenheit, wenn du Hunger hast, bist du herzlich eingeladen. Wir haben genug, selbst, wenn mein Freund wie ein Scheunendrescher essen kann. Zur Not gibt es bestimmt noch andere Reste im Kühlschrank.“
Ich blickte von ihr zu den Bildern an der Wand. Das war es, was mich an diesen Bildern so angesprochen hatte, sie wirkten tatsächlich wie eine Familie, vor allem auf den Gruppenbildern. Als Einzelkind und besonders in den letzten Jahren hatte ich einen solchen Zusammenhalt nicht kennengelernt. Ich hatte auch keine Zeit dafür, ich lebte für die Firma und wenn ich nicht in der Firma war, dann trieb ich Sport. Natürlich lernte man da Menschen kennen, aber die hatten alle ähnliche Ziele wie ich, gut aussehen, sportlich, erfolgreich sein. Lauter „Dinks“ - (double income no kids), wenn sie überhaupt in einer Beziehung gewesen waren. Wir trafen uns in den richtigen Lokalen, gingen in die richtigen Clubs, hatten Sex mit den richtigen Menschen (oder, so wie ich, auch schon mal mit den falschen), trugen die richtigen Klamotten, sagten die richtigen Dinge, kannten die richtigen Personen. Aber echte Freundschaften, tiefe Gespräche oder gar Schwächen zeigen? Fehlanzeige! (Und wenn ich ehrlich war, dann wurde mir das alles erst jetzt klar, ich hatte bisher nie darüber nachgedacht!) Im Gegenteil, würden die meisten meiner sogenannten Freunde aus Hamburg mich hier jetzt so sehen, dann würden sie sich naserümpfend wegdrehen. Apropos naserümpfend – ich glaube, ich müffelte tatsächlich ein bisschen. Verstohlen versuchte ich an mir selber zu schnüffeln. Gott, hoffentlich hatte diese Lucca keine besonders gut ausgebildete Nase. Ich schielte zu ihr hinüber. Sie beobachtete mich ganz offensichtlich und lächelte mir nun freundlich und offen zu: „Lass mich raten, du hast ein paar echt harte Tage hinter dir, oder? Aber glaub mir, es gibt nichts, was eine gute Tasse Kaffee, eine Flasche Rotwein, ein heißes Bad und ein bisschen Zeit nicht wieder in Ordnung bringen können. Wie viel Zeit das ist, liegt an jedem selbst …“
Sie wurde unterbrochen, als ein junger Mann den Kopf zur Tür reinsteckte. Er schien ihren Satz gehört zu haben. „Süße, hast du in deiner Aufzählung nicht etwas vergessen? Zum Beispiel den besten Freund der Welt?“ Er wirbelte sie in ihrem Rollstuhl herum und küsste sie ausgiebig auf den Mund, bevor er sich mir zuwendete und sich vorstellte: „Hi, ich bin Sascha, und du bist Dana?“
Als ich ihn fragend ansah erklärte er, dass David ihm eben kurz Bescheid gegeben hätte, dass eine Freundin von Micha und ihm in der Küche säße.
„Hat er diese Worte benutzt?“, wollte ich wissen. „Hat er gesagt, dass ich eine Freundin von ihm und Micha sei?“ Ich konnte das gar nicht glauben!
„Lass mich kurz überlegen … 'Sascha, benimm dich, wenn du in die Küche gehst, da sitzt eine Freundin von Micha und mir und wartet, bis wir Zeit haben, so 'n Scheiß, dass wir ausgerechnet jetzt ohne jemanden am Empfang auskommen müssen' … ja, das waren seine Worte, wieso?“ Ich war etwas erschlagen von der Genauigkeit seiner Wiedergabe und musste erstmal nachdenken. Diese Worte lösten eine Sehnsucht in mir aus, die ich jetzt erstmal besser nicht hinterfragte.
„Ich war nur neugierig, ich habe die beiden lange nicht gesehen und da wundert es mich ein bisschen, dass sie mich als ihre Freundin vorstellen.“
Sascha wurde ernst: „Auf eins kannst du dich verlassen – die beiden gehen mit diesem Wort echt vorsichtig um. Und wenn sie mir sagen, dass du eine Freundin bist, dann meinen sie das auch so.“ Damit wandte er sich wieder seiner Freundin zu: „Und nun fütter' mich, Frau, ich muss nachher noch als Kurier los und heute Abend habe ich Bandprobe, da brauche ich Kraft – von heute Nacht ganz zu schweigen.“ Bei diesen Worten wackelte er so übertrieben mit den Augenbrauen, dass sowohl Lucca als auch ich laut auflachen mussten.
- Michael -
Als ich die Tür zur Küche öffnete, hörte ich Danas Lachen. Dieses Lachen würde ich wohl überall wiedererkennen, denn unabhängig von allem, was so zwischen uns passiert war, wir hatten damals als Freunde viel Spaß miteinander gehabt. Sie saß mit Lucca und Sascha in der Küche und unterhielt sich offensichtlich gut. Als ich sie dann sah, war ich geschockt – das war nicht die Dana von damals. Diese Frau hätte ich auf der Straße nicht erkannt. Sie war viel dünner, ein regelrechter Hungerhaken, die Schminke war zwar verwischt oder verschwunden, aber Dana schminkte sich eindeutig anders als damals. Die Klamotten waren elegant, spießig, teuer. Diese Frau strahlte (außer Müdigkeit) vor allem Unnahbarkeit, Kälte und Distanz aus. Ich war gespannt, wie viel von der alten Dana noch in ihr steckte. Von der Frau mit Feuer, Liebe, Leidenschaft, Verrücktheit, Coolness, einem Hang zu dramatischen Auftritten und zum Teil fragwürdigen Entscheidungen. Aber vor allem war ich gespannt, wieso sie mit Koffer und eindeutig zu wenig Schlaf scheinbar direkt vom Bahnhof aus hierher gekommen war. Laut David hatte sie einige Minuten vor dem Studio gestanden, bevor sie sich zum Gehen abgewendet und er sie aufgehalten hatte.
„Na, da sieh mal einer an, wen die steife Hamburger Brise nach Hause geschickt hat!“, machte ich auf mich aufmerksam.
Dana hörte auf zu lachen und sah mich an. Mehrere Emotionen auf einmal spiegelten sich in ihrem Gesicht: Überraschung, Freude, Angst und noch mehr Müdigkeit. Dann sprang sie auf und warf sich mir in die Arme. Zuerst war ich etwas überrascht, aber als sie anfing zu zittern und sich an mir festklammerte, konnte ich nicht anders, ich drückte sie an mich, streichelte ihr über den Rücken. „Hey, Kleines, so schlimm wird’s schon nicht sein.“
Sie schluchzte – weinte sie etwa?
Nach ein paar Minuten löste sie sich von mir.
„Warum seid ihr alle so nett zu mir?“
„Warum sollten wir das nicht sein, Dana?“
„Ich war so lange weg, ich war nicht gerade eine treue Freundin, ich habe nicht viel für den Kontakt getan … und nun spricht hier jeder von Familie, Freundschaft und zu Hause – womit hab ich das verdient?“
„Dana, Freunde und Familie erkennt man doch nicht daran, wie oft sie sich melden, sondern wie man sich mit ihnen fühlt, oder? Und nun setz dich, Lucca und dem Grünschnabel hier wird die Szene unangenehm, außerdem ist das Essen fertig und so dünn wie du bist, müssen wir dich erstmal füttern, damit wieder was an dich dran kommt, oder?“
Während unseres kurzen Gesprächs hatten Lucca und Sascha sich bemüht, möglichst wegzuhören und sich um das Essen gekümmert, außerdem hatten sie den Tisch für vier gedeckt. Es sah aus wie ein Sammelsurium von Resten, aber das war okay für mich. David und ich brachten immer Reste vom Wochenende mit und es sah so aus, als hätte Lucca auch etwas mitgebracht.
Ich rückte Dana einen Stuhl zurecht und packte ihr eine ordentliche Portion auf ihren Teller. Sie winkte zwar schon nach der Hälfte ab, aber ich machte einfach weiter. An diesen Körper musste ein bisschen was dran, denn es sah schon ungesund aus – und ich hatte schon viele nackte und halbnackte Frauen beim Tätowieren oder Piercen gesehen, ich durfte mir ein Urteil erlauben!
Nach dem Essen nahm ich Sascha kurz zur Seite und bat ihn, mich für die nächsten zwei Stunden zu ersetzen. Dies war möglich, weil ich nur ein Vorgespräch und eine kleine Arbeit auf dem Terminplan hatte, das konnte er auch erledigen oder verschieben.
Dana saß wie betäubt am Tisch, es wirkte, als würde sie gleich im Sitzen einschlafen – zumindest hatte sie alles gegessen, was ich ihr gegeben hatte.
Lucca verabschiedete sich und deutete an, dass wir telefonieren würden, so jung dieses Mädel auch war, sie war eine Glucke und wollte sich um alle kümmern.
Ich setzte mich wieder neben Dana und legte meinen Arm um sie.
„Du musst mir jetzt erstmal gar nichts erzählen, beantworte mir nur eine Frage – weißt du, wo du als nächstes hin willst?“
„In ein Hotel? Bei meinen Eltern ist nicht genug Platz und so will ich da auch nicht hin!“
„Darf ich dir einen Vorschlag machen? Zu diesem Gebäude gehört ein kleines Apartment. Nur ein Zimmer mit Bad, Küchenzeile und einem winzigen Schlafzimmer, es ist möbliert und steht leer. Zuletzt hat hier ein Student gewohnt, der ist vor ein paar Wochen ausgezogen. Was hältst du davon, wenn du da erstmal hingehst, duschst und dich ausruhst? Du kannst auch ein paar Tage dort wohnen, oder so lange, wie du willst. Nimm dir die Zeit, die du brauchst – du siehst so aus, als bräuchtest du viel davon!“
Allein die Tatsache, dass Dana mir nur zugenickt und sich ihre Handtasche unter den Arm geklemmt hatte, hatte mir gezeigt, dass sie völlig am Ende sein musste. Ich hatte sie um die Hüfte gefasst und halb die Treppe hochgetragen. Zum Glück war der Schlüssel für die Hintertür des Apartments an meinem Schlüsselbund. Den hatte ich mir bei dem kurzen Weg durchs Studio schnell gegriffen und dabei David ein Zeichen gegeben, damit er Danas Koffer auch nach oben brachte.
Das Apartment war wirklich nicht groß, vielleicht 30 Quadratmeter. Es gab einen separaten Eingang von außen über den Hinterhof, man konnte aber auch über eine kleine Treppe direkt vom Studio aus dort hineingelangen. Was sich die Bauherren dieses Gebäudes damals dabei gedacht hatten, war mir nie klar gewesen, jetzt war ich dankbar, dass wir diesen Raum hatten.
Ich schob Dana in den Raum, David stellte den Koffer neben die Eingangstür und ließ uns kurz allein.
Ich drückte Dana einen Kuss auf die Stirn: „So, Kleines, hier kannst du tun und lassen, was du willst. Ich bin noch bis gegen 22 Uhr im Studio, also komm runter, wenn du etwas brauchst. Handtücher und alles andere sind im Wandschrank, das Bettzeug liegt im Bettkasten. Ich bring dir nachher noch etwas zu essen und zu trinken. Okay?“ Wieder nickte sie mir zu und flüsterte: „Danke, ich bin dir so dankbar, ich kann nicht zurück nach Hamburg, ich …“ Ich unterbrach sie, es war weder die Zeit noch der Ort für ernste Gespräche. „Alles gut, Dana, wir klären das nicht heute!“ Ich drückte sie ein letztes Mal an mich und ließ sie alleine.
Als ich die Tür hinter mir zuzog, sah ich David am Treppenaufgang stehen. Er hatte ein wissendes Lächeln auf den Lippen. „Na, du Papabär, setzt mal wieder dein Beschützerinstinkt ein?“
Ich knuffte ihn spielerisch in den Oberarm, ich wusste, dass er es nicht ernst meinte, dazu kannte ich ihn viel zu gut.
„Mensch, David, hast du ihre Augen gesehen? Sie war völlig fertig, müde, traurig, ohne Leben. Ich weiß, du hast Dana damals nicht besonders gut gekannt, aber diese Frau ist so total anders. Wir werden uns ein bisschen um sie kümmern. Ihre Eltern haben nur noch eine kleine Mietwohnung, da kann sie nicht hin und wenn man die Größe ihres Koffers und ihr Äußeres betrachtet, dann ist sie nicht wegen eines geplanten Besuchs hier. Irgendetwas ist mächtig schief gelaufen in Hamburg - warum sollte sie sonst nach Hause kommen?“
„Du bezeichnest gerade unser Studio als ihr Zuhause – du bist süß, weißt du das?“
Ich musste grinsen, nur mein Mann konnte auf die Idee kommen, mich als süß zu bezeichnen, sonst wählten die Menschen immer eher ziemlich gegenteilige Attribute für mich. Ich zog ihn an mich und küsste ihn ausgiebig, bevor wir gemeinsam nach unten gingen und uns um unsere Kunden kümmerten, die von Sascha abgelenkt worden waren.