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6

Nachdem Mickey wieder aufgebrochen war, nahm Ross zwei große Seesäcke aus dem Lagerraum und warf sie in seinen Van. Er schloss den Eingang zum Studio ab, stieg ein und setzte gerade auf dem Parkplatz zurück, als er Andre Wallace auf dem Fahrrad kommen sah.

»Hey, Mann«, rief Andre freudig. »Was geht?«

»Ich hab gerade zu tun, Dre.«

»Ach jetzt komm schon, ich muss mit dir sprechen.«

Ross seufzte. »Bist du krank? Fühlst du dich in irgendeiner Weise schlecht?«

»Nein, überhaupt nicht, mir geht's prima.«

»Alles klar, dann leg dein Rad in den Kofferraum und steig ein.«

Andre wuchtete sein Bike hinten auf den Van. Nachdem er sich zu Ross gesellt und angeschnallt hatte, legte dieser den Rückwärtsgang ein und fuhr auf die Straße.

»Wohin fährst du denn?«

»Ich muss noch kurz nach Hause«, antwortete Ross, »und ein paar Sachen mitnehmen.«

»Öffnest du den Club wieder?«

»Nein, so bald nicht.«

»Öffnest du ihn überhaupt jemals wieder?«

»Warum fragst du? Bist du so scharf drauf, abermals Fenster zu putzen und Klos zu schrubben?«

»Das hast du schon 'ne ganze Woche lang nicht gemacht, oder?«, erwiderte Andre völlig nüchtern. »Wahrscheinlich hätten sie es bitter nötig, saubergemacht zu werden.«

Ross grinste. Er mochte Andre. Der Kerl hatte schon seit seinem ersten Besuch im Club vor über vier Jahren einen Stein bei ihm im Brett. Damals war er 16 gewesen und ging noch zur High School. Zwar hatte er den Mitgliedsbeitrag nicht zahlen können, aber mit solchem Feuereifer boxen wollen, dass ihm Ross Stunden gab, wenn er im Gegenzug einige der lästigen Reinigungsarbeiten übernahm. Seine Ungeschicklichkeit machte ihn weder zu einem guten Boxer noch Hausmeister, doch Ross mochte sein Engagement und hatte ihn gerne um sich, obwohl Andre dazu neigte, ihm gelegentlich auf die Nerven zu fallen.

»Also, worüber musst du nun mit mir sprechen?«, fragte Ross.

»Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.«

»Das tust du ständig.«

»Ich weiß, aber du hast noch nie einen abgeschlagen.«

»Worum geht es, Dre?«

»Ich würde gerne eine Weile bei dir bleiben.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, weil ich momentan erhebliche persönliche Probleme habe.«

»Mann, die haben wir alle. In meiner Nachbarschaft hungern manche Menschen und können nicht mal ihre Babys ernähren. Niemand hat Benzin oder kann Medikamente auftreiben. Keiner arbeitet mehr, und das wenige, was noch vorhanden ist, reißt man sich gegenseitig aus der Hand. Neulich erst ist ein Freund von mir ausgenommen worden.«

»Die Tatsache, dass jeder mit Problemen kämpft, macht meine eigenen nicht weniger schwierig, Dre. Es gibt wohl kaum jemanden, der mit mir tauschen würde. Falls du Geld, zu Essen oder sonst irgendetwas brauchst, kann ich dir helfen, aber …«

»Hör zu, Mann, du begreifst nicht. Meine Mom hat mich zu Hause ausgesperrt, und nachdem ich bei meiner Ex und ihrer Mom untergekommen war, wollten die auch, dass ich mich verziehe. Ich weiß nicht mehr wohin, und draußen ist es kalt. Du bist wie ein Vater für mich, deshalb bitte ich dich.«

»Aus welchem Grund setzt dich deine Mutter mitten im Winter vor die Tür? Das ergibt für mich überhaupt keinen Sinn. Du musst da was missverstehen. Ich weiß, dass du manche Dinge in den falschen Hals kriegst.«

»Da gibt es nichts misszuverstehen: Vor ein paar Tagen schickte sie mich zum Einkaufen, aber der Laden war geschlossen, also kehrte ich nach Hause zurück. Als ich dort ankam, stand eine Tüte mit meinen Klamotten vorm Eingang. Ich versuchte, mir Zugang zu verschaffen, aber Mom kam ans Fenster und meinte, ich dürfe nicht reinkommen, sondern müsse mir was Anderes suchen.«

»Den Grund dafür hat sie nicht genannt?«

»Nein.«

Ross lenkte in die Auffahrt seines Hauses ein und stellte den Motor ab.

»Hast du seitdem noch einmal versucht, wieder daheim einzuziehen?«

»Als ich gestern erneut hinging, kam sie gar nicht erst zur Tür.«

»Wenn das so ist, lass mich kurz ein paar Sachen zusammenpacken; wenn ich fertig bin, fahren wir gemeinsam zu deiner Mom und schauen mal, ob sie dich nicht doch reinlässt.«

Andre schien damit zufrieden zu sein. Ross nahm die beiden Seesäcke, die zwischen den Sitzen klemmten, und stieg aus. »Kommst du mit, oder willst du warten?«

»Nein, nein, ich komme mit dir. Kann deiner Frau ja Hallo sagen, oder ist sie noch in England?«

Ross kam es vor, als schnüre ihm jemand die Kehle zu. »Frankreich – sie flog nach Frankreich, Dre. Und ja, sie ist nach wie vor dort.«

»Oh, und wann kommt sie zurück?«

Ross biss sich auf die Unterlippe, holte tief Luft und widerstand dem Drang, sich noch vor dem Haus hinzuwerfen und wie ein Kleinkind zu heulen. Was bist du? Ich bin ein echter Fighter. »Kommst du jetzt, oder was?«, drängte er.

Drinnen drückte Ross Andre einen der Säcke in die Hand und wies ihn an, nicht verderbliche Lebensmittel aus der Küche zusammenzutragen, während er selbst ins Schlafzimmer ging, um ein paar Kleider, seine Pistole und zwei Schachteln .38er Patronen zu holen.

»Sag mal, willst du längere Zeit verreisen?«, fragte Andre.

»Nein, ich bleibe vorübergehend im Studio.«

»Hat man dich rausgeschmissen, oder was?«

»Nein, Dre, nichts dergleichen; ich will mich momentan einfach dort aufhalten.«

»Warum kann ich dann nicht hierbleiben? Wäre ja sonst niemand da.«

»Weil du dich um deine Mom kümmern musst.«

»Aber meine Mom lässt mich nicht rein.«

»Ich erkläre dir das später, jetzt packst du brav ein paar Sachen für mich zusammen, dann verschwinden wir wieder.«

Ross füllte seinen Seesack, hängte sich einen Stoß T-Shirts über den Arm und brachte alles nach draußen in den Van. Dann ging er wieder hinein, um Handtücher und Decken, ein wenig Angel- und Campingausrüstung, Batterien und eine Videospielkonsole zu holen, dazu ein paar Games, CDs und DVDs, einen Kanister Bleichmittel, Seife, Zahnpasta sowie andere grundlegende Bedarfsartikel. Nachdem er alles in den Kofferraum geladen hatte, bereitete er in der Küche zwei Tiefkühlfertiggerichte in der Mikrowelle zu, während Andre im Schneckentempo Konserven einsammelte.

»Mann, dass du nicht auch noch die Spüle ausbaust, ist alles«, bemerkte der Junge.

»Ich weiß ja nicht, wie übel es ausgeht … ob ich sechs Monate oder vielleicht ein ganzes Jahr im Studio bleiben muss, falls ich nicht sogar zum Campen in den Bergen gezwungen werde. Keine Ahnung, wie ich sterben werde, Andre, aber eines kann ich dir sagen: Ich will weder verhungern noch verdursten oder mich von einem beschissenen Virus killen lassen, das wahrscheinlich in irgendeinem Labor gezüchtet wurde. Bis infizierte Menschen hier in Wenatchee auftauchen, ist es nur eine Frage der Zeit, und wenn es soweit ist, wird alles noch viel schlimmer.« Ross schob eine Schale Spaghetti mit Fleischbällchen über die Arbeitsfläche zu Andre und reichte ihm eine Gabel. »Hier, Kumpel, iss erst mal was.«

Sie aßen im Stehen. Danach nahm Ross ein Bettlaken aus dem Wäscheschrank und breitete es über dem Esszimmertisch aus. Die Lebensmittel, die noch in den Schränken standen, legte er in die Mitte, bevor er die vier Enden des Lakens zusammenknotete. Dann steckte er die Sachen aus dem Kühlschrank in zwei Einkaufstüten. »Das nehmen wir als Friedensangebot mit zu deiner Mom«, erklärte er Andre. »Was auch immer du angestellt hast, um sie zu verärgern, wird vergeben und vergessen sein, wenn wir mit dem Futter bei ihr aufkreuzen.«

»Danke, Sir. Ich wusste gleich, dass dir was einfällt.«

»Freu dich nicht zu früh; vielleicht will sie dich trotzdem nicht wieder ins Haus lassen – und nenn mich nicht Sir. Da komme ich mir vor wie ein alter Sack.«

»Okay, Sir.«

Bevor sie die Wohnung verließen, nahm Ross noch ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer. Es zeigte ihn mit Monica an ihrem Hochzeitstag beim Händchenhalten vor einem 10 Meter hohen Wasserfall in den Cascade Mountains, er in einem cremefarbenen Anzug mit einer Calla als Ansteckblume am Revers, sie im ärmellosen, weißen Chiffon-Kleid mit einem Lächeln, das selbst kälteste Herzen erwärmt hätte. Sein Blick blieb an diesem Strahlen hängen, bis er es fast nicht mehr aushielt. Er klemmte sich den Bilderrahmen unter einen Arm und ging zur Tür hinaus.

Sie hielten sich auf den Nebenstraßen, um vielbefahrene Strecken zu meiden – rein aus Gewohnheit, obwohl von Verkehr, den es zu umfahren galt, kaum die Rede sein konnte. Andres Mutter wohnte in einem kleinen Haus in Appleyard, gleich am südlichen Stadtrand, wo vorwiegend Menschen mit geringem Einkommen lebten. Die Fahrt dauerte weniger als zehn Minuten. Ross fuhr auf den geschotterten Parkplatz vor einer heruntergekommenen, freistehenden Garage und half Andre dabei, die Lebensmittel zur Haustür zu tragen. Er klopfte mehrmals, doch niemand öffnete. »Miss Wallace?«, rief er. »Miss Wallace, ich bin es, Coach Ross. Andre ist bei mir, und wir waren für Sie einkaufen.«

Keine Reaktion.

»Komm schon, Mama«, rief Andre ungeduldig. »Mach die Tür auf.«

Ross beugte sich nach rechts, um durch ein Fenster zu schauen. Drinnen war es dunkel. Abgesehen von seinem eigenen Spiegelbild konnte er nichts erkennen. »Ich glaube nicht, dass sie daheim ist, Dre.«

Kaum dass er zurückgetreten war, fing es im Haus zu poltern an, und zwar in schnellem Rhythmus – schwere Schritte auf dem Fußboden, als trample ein Ochse über den Flur. Dabei vibrierten die Fensterscheiben. Ross zuckte erschrocken zusammen, als sich Miss Wallace gegen das Glas warf und mit blutigen Fingerspitzen daran kratzte, sodass rote Streifen auf der Innenseite zurückblieben.

Ihre Lippen sahen aus wie mit weißem Puder verklebt, blutverschmiert und gespickt mit Holzsplittern. Das Fleisch in ihrem Mund war schwarz, einige Zähne fehlten, die übrigen waren angesprungen beziehungsweise abgebrochen. Ihre dunkle Haut wirkte rings um die Augen noch dunkler – Augen, die aus den Höhlen hervorstanden und Ross derart eindringlich anstarrten, dass ihm die kalte Winterluft noch eisiger vorkam. Die Frau schnappte ein paarmal mit dem Mund nach dem Glas und stieß dann einen animalischen Schrei aus, der immer schriller und lauter wurde, sodass Ross glaubte, er müsse den Verstand verlieren. Dabei nahm er nur am Rande wahr, dass Andre hektisch am Türknauf zog, augenscheinlich nicht wissend, dass sie nach innen aufging, und Worte schrie, die für Ross aufgrund seiner Verwirrung genauso gut aus einer Fremdsprache hätten stammen können. Miss Wallaces unmenschlicher Schrei erstarb abrupt in Würgelauten und einem Gurgeln, sie spuckte einen Schwall Blut aus.

Ross stolperte einige Schritte rücklings. Er rief zu Andre, der nun gegen die Tür trat: »Stopp, warte!« Seine Worte wurden jedoch nicht erhört. Sie ist krank. Scheiße, scheiße, sie hat das Virus.

Da zerbrach die Scheibe und Miss Wallace streckte die Arme hindurch nach Ross aus wie eine Ertrinkende, die um Hilfe bat, doch ihre Hände griffen ins Leere. Ein weiterer markerschütternder Schrei.

Ross sah Andre zum Fenster treten. Er wollte seiner Mutter helfen, und als sie sich ihm zukehrte, hörte ihr Schreien auf. Einen Augenblick lang herrschte schaurige Stille, doch als der Junge seine Hand behutsam auf den Unterarm seiner Mutter legte, entstieg ein tiefes, kehliges Knurren ihrem Hals, und sie erging sich abermals in abscheulichem Geschrei. Miss Wallace packte das Handgelenk ihres Sohnes und zerrte kräftig daran. Gleichzeitig schlug sie mit dem Kopf durch die hölzerne Fenstersprosse, um Andre mit ihren schartigen Zähnen zu beißen.

Ross stürzte vorwärts, schlang die Arme um den Jungen und riss ihn aus der Umklammerung seiner Mutter. Andre wehrte sich, aber Ross war stark und schwerer als er. Er zog ihn fort, warf ihn auf dem Rasen nieder und befahl ihm, liegenzubleiben.

»Deine Mom ist krank; ich rufe einen Arzt.« Händeringend suchte er in den Taschen seiner Jacke nach seinem Handy, bis ihm einfiel, dass er es im Van liegengelassen hatte. »Rühr dich nicht vom Fleck, Dre, ich hole schnell mein Telefon. Wir rufen gleich Hilfe.« Andre stand auf, machte aber keinerlei Anstalten, sich fortzubewegen.

Ross schnappte sich das Handy von der Ablage, wählte die Notrufnummer und erklärte dem Bediensteten am anderen Ende der Leitung die Situation, während er im Laderaum nach dem Verbandskasten suchte. Ihm fiel ein Paket Desinfektionsmittel in die Hände, aus dessen Plastikhülle er eine Sprühflasche entfernte und sie rasch zusammen mit einem Badetuch zu Andre brachte. Dort stellte er fest, dass Miss Wallace vom Fenster verschwunden war. Er hörte sie an die Haustür hämmern und am Holz kratzen, während er Andre Spray und Tuch zuwarf, damit er sich damit abrieb. In der Ferne heulten Polizeisirenen. Der Typ vom Rettungsdienst wies ihn an, nicht aufzulegen, bis seine Kollegen eintrafen.

Ross stand auf dem Rasen, unterhielt sich mit dem Mann am Telefon und hörte zugleich die Schreie aus dem Haus, die sein Blut in den Adern gefrieren ließen. Dann kündigten erneut donnernde Schritte an, dass Miss Wallace nahte: Sie stürzte mit einem Satz durchs Fenster, ging in einem Schauer aus Scherben und Holz auf der Erde nieder, wo sie einen Moment liegenblieb und krampfartig sowohl mit dem Kopf als auch Armen und Beinen zuckte, als ringe sie mit dem Tod. Schließlich schaute sie mit einem Blick um sich, der auf irrsinniges Staunen hindeutete, als sei sie nicht von dieser Welt, und raffte sich schwerfällig auf. Ross ließ es voller Ehrfurcht geschehen, dass sich die alte Frau schwankenden Schrittes auf ihn zubewegte. Dann rannte sie los.

RAG MEN

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