Читать книгу RAG MEN - Rocky Alexander - Страница 12
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Der Knabe steht mit gespreizten Beinen hinter der gedachten Linie zwischen dem zweiten und dritten Base, während er die Abdrücke seiner Stollen im weichen, feinen Sand betrachtet. Das Licht der Flutscheinwerfer hoch oben an den Masten leuchtet so grell aufs Feld, dass er weiße Flecke sieht, wenn er direkt hineinblickt. Diese verschwinden nur langsam, aber er kann es trotzdem nicht lassen, von Zeit zu Zeit hochzuschauen. Warum, weiß er nicht. Die Tribünen sind heute Abend sehr voll; die ganze Stadt muss gekommen sein, um sich das Spiel anzusehen. Auch Lyle ist da und sitzt in einer der mittleren Reihen hinterm Schlagmal, wo die hohen Zäune zusammenlaufen. Der Junge mag ihn nicht, wünscht sich aber dennoch, dass Lyle stolz auf ihn ist, denn dann würde er sich ihm gegenüber vielleicht nicht andauernd so gemein verhalten. Vielleicht. Ach, wäre seine Mom doch bloß hier, statt in der Stahlfabrik arbeiten zu müssen … Shortstop-Spieler wollte er schon immer sein, und da er heute endlich die Gelegenheit dazu bekommt, ist es schade, dass sie nicht kommen kann, um ihn zu sehen. So schlimm findet er es aber nicht; wenn sie heimkommt, wird er ihr davon erzählen. Dann plötzlich der aufregende Knall, als der Schläger den Baseball trifft, und die Fans losjubeln. Es handelt sich um einen Line Drive, der direkt auf ihn zufliegt – schnell. Er hebt den Handschuh, um ihn zu fangen, aber wegen der hellen Flecke vor seinen Augen ist es schwierig, den Ball zu sehen. So erwischt er ihn am rechten Wangenknochen. Er fällt auf die Knie hält sich das Gesicht und strengt sich nach Kräften an, nicht in Tränen auszubrechen, die letztlich aber doch fließen. Leute rufen ihm zu, er solle sich den Ball schnappen, aber er kann nicht. Nein, er schafft es einfach nicht, denn es tut zu sehr weh. Endlich beruhigt sich das Publikum, und auf einmal ist sein Trainer da, der ihn fragt, ob alles in Ordnung sei. »Ich denke, mein ganzes Gesicht ist gebrochen«, jammert er. Dann kommt Lyle aufs Feld, obwohl der Junge glaubt, dies sei Eltern gar nicht gestattet, doch niemand versucht, ihn zurückzuhalten. Vermutlich haben sie Angst vor Lyle. Das kann der Kleine nachvollziehen, auch wenn sein Stiefvater kleiner als viele andere Männer ist. Einmal meinte jemand, er sei hinterhältig wie eine Schlange. Der Junge kennt sich nicht mit Schlangen aus, doch ihm fällt wirklich niemand ein, der so fies ist wie Lyle. »Geht es dir gut?«, will Lyle von ihm wissen. »Hab mir sehr wehgetan, ich muss bestimmt ins Krankenhaus.« Der Mann besieht sein Gesicht. »Nein, musst du nicht, das wird bloß ein kleines Veilchen. Steh auf und reiß dich zusammen.« Als der Trainer fragt, ob er weiterspielen könne, verneint der Knabe, also sagt Lyle zu ihm, er solle seine Sachen zusammenpacken und mit zum Auto kommen. Auf dem Nachhauseweg fragt er den Erwachsenen, was ein Veilchen sei, doch Lyle antworte nicht.
Tags darauf, bevor der Junge zur Schule aufbricht, betritt Lyle sein Zimmer und gibt ihm ein abgetragenes, altes Kleid, das aussieht, als sei es einmal ein Männerhemd gewesen. Er solle es anziehen, meint der Stiefvater. »Was?« »Du hast mich genau verstanden: Zieh es an, und ich sage es nicht noch einmal. Wenn du dich anstellst wie ein Mädchen, musst du auch so herumlaufen.« Der Knabe weigert sich, da schlägt ihm Lyle auf den Mund. »Ich will, dass Mom kommt«, schluchzt er, woraufhin er noch eine Ohrfeige bekommt, diesmal fester. »Deine Mutter schläft noch. Wenn du sie weckst, wird es dir leidtun, geboren zu sein.« Der Junge tut, wie ihm befohlen, während Lyle zuschaut. Nachdem er das Kleid angezogen hat, begleitet ihn der Erwachsene die Einfahrt hinunter bis zum Gehweg und wartet mit ihm auf den Schulbus. »Bitte lass mich nicht so fahren«, heult der Junge. Lyle erwidert, er solle sein verdammtes Maul halten; nachdem er abgeholt worden ist, hören die anderen Kinder nicht mehr auf zu lachen.
***
Nach dem Schuss, der Roosters Hand erzittern ließ, sackte Reggie sofort auf die Knie und kippte vornüber auf den Bürgersteig. Der mit der großen Klappe, der an den Hinterläufen des Hundes gezogen hatte, ließ los und trat ein paar Schritte zurück, wo er verharrte. Rooster richtete die Waffe sofort auf den dritten Typen, um ihn zu erschießen, bevor er sich mit seinem Proviant davonmachen konnte, doch der Armleuchter hatte die Säcke schon abgesetzt und sprintete die Straße hinunter. Überraschenderweise verlor Lotto das Interesse an Roosters Arm und lief dem Flüchtigen hinterher.
Der Beifahrer duckte sich auf der anderen Seite des Schleppers, während sein Begleiter aufs Trittbrett sprang und wieder einsteigen wollte, dann aber innehielt, da Rooster auf ihn zielte. Er war schon im Begriff, den Abzug zu betätigen, als er es sich anders überlegte. Er entsann sich einer Szene aus einem Film mit James Caan. ›Ein Schuss ist eine Fehlzündung; drei Schüsse sind eine Schießerei‹, hieß es dort. Den Schuss, mit dem Reggies letzte Lebensminuten eingeläutet worden waren, hatte sicherlich jedermann in Hörweite mitbekommen, aber aller Wahrscheinlichkeit führte man ihn nicht auf eine Waffe zurück, sondern etwas eher Alltägliches, etwa die Fehlzündung eines Motors. Erst bei weiteren Schüssen sollten sich jegliche Zweifel erübrigen. Rooster verwendete noch die Sig, hatte aber den Schalldämpfer abgeschraubt, um sie leichter verstecken zu können. Schätze, heute ist dein Glückstag, Wichser. Er befahl dem Mann, in seinen Wagen zu steigen und zu verschwinden, ehe er sich dem Räuber zuwendete, der zitternd am Bordstein stand. Auch ihn hielt er dazu an, sich aus dem Staub zu machen, was der Kerl ohne Zögern tat.
Rooster ging zu seinen beiden Säcken, und als er sich bückte, um sie aufzuheben, merkte er, dass er die Finger seiner linken Hand nicht mehr schließen konnte. Lotto hatte seinen Arm in Mitleidenschaft gezogen, aber um die Verletzung zu untersuchen, blieb jetzt keine Zeit, denn seine Priorität bestand nun darin, so weit wie möglich wegzukommen, bevor die Bullen anrückten. Er steckte den Revolver zurück in seinen Hosenbund und nahm die Säcke mit der Rechten auf. Dann trat er zu Reggie, der wimmernd dalag und ihn anflehte, während er sich den Schritt hielt und im Blut wand, das durch die Austrittswunde an seinem Hintern strömte. Rooster beugte sich nach vorne und spuckte ihm ins Gesicht. »Schönen Tag noch, Arschgesicht.«
Er rannte, so schnell er konnte, zur nächsten Kreuzung, bog an einem zweistöckigen Bürogebäude rechterhand ab und lief durch einen weiteren Block. Er bekam bereits Seitenstechen, als er die vernagelten Fenster eines Grillrestaurants und eines Friseursalons passierte, dann Houser Way überquerte und einen Parkplatz hinter drei angrenzenden Gebäuden erreichte, die östlich der Main Avenue standen. Dort hörte er die erste Sirene. Sie klang nahe; eventuell war es der Cop, den er wenige Minuten zuvor beim Trampen gesehen hatte. Er schlug einen noch schnelleren Schritt an, obwohl seine Muskeln schmerzten. Mann, er war wirklich schlecht in Form. Dies mochte das erste Mal seit seiner Schulzeit sein, dass er so weit so schnell lief, und die war 20 Jahre her. So anstrengend hatte er es gar nicht in Erinnerung.
Auf der anderen Seite der Main Avenue erstreckte sich in Richtung Südosten ein bewaldeter Hang, in dem sich Rooster zu verstecken hoffte, um Luft zu schnappen und sich zu orientieren. Mehr als eine oder zwei Minuten konnte er aber nicht dort bleiben, denn gewiss brachten die Polizisten einen Spürhund mit, um seine Fährte aufzunehmen, und binnen kurzer Zeit würde wohl auch ein Hubschrauber im Anflug sein. Seine einzige Chance bestand darin, in Bewegung zu bleiben. So brachte er die vierspurige Straße im lockeren Lauf hinter sich, folgte einem Maschendrahtzaun, der den Hof einer Autowerkstatt an der nächsten Abzweigung umgab, und überquerte noch eine Straße, bis er die Anhöhe hinaufkriechen konnte und Schutz unter hohen Zedern fand. Er war nicht weiter als 15 Meter hochgestiegen, als er einen Highway sah, von dem ihn nur etwas Gestrüpp und Unterholz trennten. Um zu wissen, dass es sich dabei um die Interstate 405 handelte – die Schnellstraße, die ihn an seinen Zielort in Newport Hills 20 Kilometer weiter nördlich führen würde – musste er seine Karte nicht bemühen. Er war davon ausgegangen, jemanden anzuhalten, sobald er genau diesen Highway erreichte, das Auto zu stehlen und die verbliebenen 20 Kilometer zu fahren beziehungsweise sich fahren zu lassen, indem er dem Besitzer die Knarre vorhielt, doch als er auf der Kuppe der Böschung stand und seinen Blick über die lange Asphaltstrecke schweifen ließ, entdeckte er kein einziges Fahrzeug. Ihm war bewusst, dass man die meisten, falls nicht sogar alle Schnellstraßen im Großraum Seattle für den normalen Verkehr gesperrt hatte, doch wider Erwarten fuhren nicht einmal ein paar Güterlastwagen oder die Katastrophenhilfe herum, sondern wirklich … kein Schwein. Andererseits war er sich sicher, jemand würde schon vorbeikommen, wenn er nur lange genug wartete, doch selbst in diesem Fall fehlte ihm ein genauer Plan, um einen Fahrer zum Anhalten zu bringen. Täuschte er eine Verletzung vor, mochte man glauben, er habe sich dieses verfluchte Virus eingefangen, dessen Namen nur die wenigstens korrekt aussprechen konnten, wie es schien. Niemand wollte Gefahr laufen, sich mit dem Dreck anzustecken, also musste er die Fahrer zum Bremsen zwingen, indem er vor ihren Wagen lief und mit der Waffe auf sie zielte, aber sie konnten durchaus imstande sein, ihn schlicht zu überfahren. Wie man angesichts einer solchen Bedrohung reagierte, ließ sich nicht vorhersehen. Am besten blieb er wohl einfach am Rande des Highways stehen und versuchte, jemanden heranzuwinken, denn selbst im gegenwärtigen Klima der Angst und Ungewissheit gab es noch einige barmherzige Samariter, und wenngleich man sie selten antraf, wog eine horrende Zahl leichtgläubiger Idioten diesen Mangel auf. All dies war momentan aber auch nicht weiter von Belang, denn Rooster hörte, wie sich gleich mehrere Sirenen näherten, dazu von irgendwoher über den Dächern das Knattern von Rotorblättern.
Auf der anderen Seite des Highways verlief eine 5 Meter hohe Lärmschutzmauer, die sich etwa 100 Meter weiter südlich zum Boden hin verjüngte. Darauf folgte noch ein steiler Hang, der sich 10 bis 15 Meter oberhalb in einen dichten Wald zu verflachen schien. Rooster holte einmal tief Luft, bevor er über die Fahrbahn gen Süden preschte, die Begrenzung übersprang und die in die Gegenrichtung verlaufenden Spuren überquerte. Dann hielt er sich an der Mauer, bis sie nur noch ungefähr zwei Meter hoch war, erklomm sie und lief den Hang hinauf.
Unter den Bäumen am höchsten Punkt stand ein wiederum zwei Meter hoher Drahtzaun, hinter dem sich eine schmale Straße zu einer Wohnsiedlung auftat. Unmittelbar gegenüber lag ein unbebautes, überwuchertes Grundstück, hinter dem Reihen von Eigentumswohnungen mit je drei oder vier Terrassen standen. Weiter unten säumten Häuser in unterschiedlichen Baustilen die Straße, und davor parkten mehrere Autos, Pickups und Geländewagen.
Rooster setzte sich an einen Baum und klappte seine Karte auf. Er befand sich an der Mill Avenue. Annähernd eine halbe Meile weiter nordöstlich gab es einen Park. Er wusste zwar wenig über den Geruchssinn von Polizeisuchhunden, rechnete sich aber aus, dass er, wenn ihm eines dieser Tiere bis zu der Grünfläche folgen sollte, etwas Zeit gewinnen konnte, da die Gerüche zahlloser anderer Köter es vielleicht verwirrten oder sogar gänzlich von seiner Fährte abbrachten. Um dies herauszufinden, gab es nur eine Möglichkeit, aber jetzt musste er seinen Hintern in Bewegung setzen, denn der Helikopter kreiste bereits über der Stelle, wo er Reggie die Klöten weggeschossen hatte.
Weil ihm die Muskeln wehtaten und sein linker Arm immer weniger zu gebrauchen war, fiel es ihm schwer, über den Zaun zu klettern. Als er es endlich geschafft hatte, schlug er sich durchs Gestrüpp auf dem leeren Grundstück, bis er in eine Gasse gelangte. Dort stand neben einem Boot, das mit einer Plane zugedeckt war, ein schwarzes Kawasaki-Motorrad. Er schaute nach, ob der Besitzer eventuell töricht genug gewesen war, den Schlüssel steckenzulassen, doch Pech gehabt, also ging er noch ein Stück weiter und kreuzte einen Hof, um auf eine Parallelstraße zu gelangen. Nachdem er durch zwei weitere Vorgärten gelaufen war, erreichte er die Kreuzung der Renton Avenue mit dem Beacon Way. Diesen nahm er, um sich in den Wald hinter den Häusern zu stehlen. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zum Park.
Als er dort ankam, staunte er nicht schlecht, ein ältliches Paar anzutreffen, das einen schwarz-weißen Mischling ausführte. Er hätte nicht erwartet, dass noch Anwohner die Anlage nutzten. Obwohl dies vor der Epidemie völlig normal gewesen wäre, wirkte es jetzt äußerst merkwürdig.
Nachdem er die Gegend abgesucht hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst zugegen war, näherte er sich den beiden mit den Worten: »Hallo, netter Tag heute, nicht wahr?«, und schnitt ihnen die Kehlen mit demselben Messer durch, das er verwendet hatte, um Timbo zu töten. Die Leichen schleifte er in ein Toilettenhäuschen, ehe er ihren weißen Chrysler PT Cruiser nahm und davonfuhr.
Er blieb bis zur Kreuzung Houser Way auf dieser Straße, die weniger als drei Blocks von dem Platz entfernt war, wo man bestimmt gerade einen dämlichen Kleinkriminellen namens Reggie in einen Leichenwagen schob, bog dann rechts ab und fuhr weiter in Richtung Norden.
»Ich bin bald da, Prediger«, flüsterte er. »Schon unterwegs.«