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Arztbesuch, Leipzig, 2025

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Klaus Scharfschwert saß mit sorgenvollem Gesicht an seinem Schreibtisch. Heute plagte ihn sein Nierenleiden wieder besonders, die Beschwerden waren heftig, und er versuchte sie mit starken Scherztabletten zu bekämpfen. Sein Hausarzt hatte eine noch vorhandene Organfunktion von 35 Prozent festgestellt, bei 10 Prozent drohte eine ständige Dialysebehandlung. Obwohl der Arzt auf die Dringlichkeit einer Behandlung der Nierenfilter hingewiesen hatte und einen sehr schlechten Kreatinwert als Indikator einer schweren Nierenerkrankung nachweisen konnte, war dessen Überweisung für Scharfschwert zur stationären Behandlung vom Krankenhaus wegen Kapazitätsproblemen und extremer Auslastung der zuständigen Klinik und deren Fachabteilung abgelehnt worden. Momentan hätte man eine überwiegende Belegung durch Neubürger, deren Krankenhausaufnahme nach dem „Behandlungsvorranggesetz von 2020“ aus Gründen der humanitären Hilfe Vorrang hätte. Selbstverständlich würde man Scharfschwert auf die Warteliste setzen, aber da die Fluktuation des ärztlichen Fachpersonals leider weitergehen würde, wären gerade einmal 60 Prozent der Betten verfügbar. Außerdem käme die Industrie nicht mehr hinterher Ersatzteile für die Medizintechnik in ausreichendem Maß zu liefern und auch die Pharmaunternehmen hätten zunehmend Lieferengpässe, zumal einige Wirkmittel früher aus dem Ausland importiert worden wären und jetzt nicht mehr zur Verfügung ständen. Unter günstigen Umständen könnte Scharfschwert mit einer Behandlung im Jahr 2027 rechnen, aber man wolle sich nicht verbindlich festlegen da es zu viele Unwägbarkeiten geben würde, die niemand im Moment richtig einschätzen könne. Es bliebe also nur, so lautete die Antwort an Scharfschwerts Hausarzt und in Kopie an ihn, sich in Geduld zu fassen. Um die Form zu wahren würde ein offizieller Verwaltungsbescheid über die vorläufige Ablehnung einer stationären Behandlung diesem Schreiben beiliegen. Warum der Sachbearbeiter die Probleme in den Krankenhäusern so klar benannt hatte war Scharfschwert nicht verständlich, aber in letzter Zeit gab es zunehmend wieder kaum noch verhohlene Kritik an der Politik der Regierung.

Als Scharfschwert bei seinem Hausarzt im Behandlungszimmer saß schaute ihn dieser mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck an.

„Tja, Herr Scharfschwert, wie lange kennen wir uns jetzt schon, 14 oder 15 Jahre?“

„15 Herr Doktor. Genau im März 2010 bin ich zu Ihnen gekommen, weil mein damaliger Hausarzt in Rente gegangen war und keinen Nachfolger für seine Praxis finden konnte. So mit Abstand betrachtet war das eine glückliche Fügung, denn ich fühle mich bei Ihnen bestens aufgehoben. Ich bin nicht scharf darauf, zu Ihnen in die Praxis zu kommen, weil mein Blutdruck beim Anblick von Weißkitteln unverzüglich in die Höhe geht, aber wenn ich dann einmal hier bin fühle ich mich sehr willkommen, in guten Händen und vor allem verstanden.“

Der Arzt lachte.

„Das geht vielen Patienten so. Manche denken schwer krank zu sein, dabei ist es vielfach nur Einbildung oder Produkt einer ausufernden Phantasie. Bei Ihnen liegen die Dinge leider anders. Ich will ganz offen mit Ihnen reden. Wenn Sie nicht im nächsten Jahr operiert werden ist mit einer weiteren Schädigung der Nierenfilter zu rechnen, und das heißt, dass die Organfunktion immer geringer und irgendwann die kritische Grenze erreichen sein wird. Letztlich droht eine Dialysebehandlung und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass die Kapazitäten viel zu gering sind, um alle Betroffenen ausreichend zu versorgen. Sagen wir es mal so, es gibt momentan nur noch eine Behandlung light, mit sehr eingeschränkten Leistungen.“

„Herr Doktor, ich habe seitdem ich arbeite Beiträge in die Krankenkasse eingezahlt. Anfangs war es noch nicht so viel, weil ich die Firma erst aufbauen musste und das Ergebnis sehr schmal war, später, als der Betrieb dann richtig gut lief, habe ich dann richtig heftig gelöhnt. Das muss doch aber jetzt berücksichtigt werden, die von mir eingezahlten Beiträge dürften deutlich über dem Durchschnitt liegen.“

Der Arzt lachte zynisch.

„Mein lieber Herr Scharfschwert, verabschieden Sie sich doch endgültig von dem Gedanken, dass die Höhe Ihrer ehemaligen Beitragszahlungen heute noch eine Rolle spielt und berücksichtigt werden würde. Sie waren doch glücklicherweise nicht privat versichert. Nicht umsonst ist doch vor 3 Jahren die Einheitskasse geschaffen wurden, und gleichzeitig, sozusagen in einem Zuge, sind die privaten Krankenversicherungen nach dem „Neuausrichtungsgesetz der Krankenversicherung“ abgeschafft worden. Das hat zwar für eine Weile für einigen Aufruhr gesorgt, weil die privaten Versicherer auf einmal ohne Einzahlungen ihrer Beitragszahler dastanden und ihre Verbindlichkeiten aus den Behandlungen ihrer Versicherten kaum noch bezahlen konnten. Wie zu erwarten war, kam es schnell zu einer Überschuldung der Versicherer, und die von der Regierung eingesetzte „Liquidierungskommission für private Krankenversicherungen“ hatte dann alle Hände voll zu tun, die Rücklagen der Unternehmen zu beschlagnahmen, um deren Klienten nach Befriedigung der Verbindlichkeiten gegenüber dem medizinischen Sektor wenigstens eine Abfindung zahlen zu können. Man munkelt, dass die Abfindungen bei gerade einmal 15 Prozent der eingezahlten Beiträge gelegen hätten. Aber wie es heute so üblich ist, gab es natürlich keine sicheren Informationen und vermutlich mussten die Betroffenen eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben, das ist ja ein seit einiger Zeit gern genutztes Instrument um unbequeme Dinge nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, und unter den Teppich zu kehren. Es wurde lediglich mitgeteilt, dass die ehemals privat Versicherten nahtlos in die Einheitskrankenkasse eingegliedert wurden.“

„Das ist doch eigentlich eine sinnvolle Überlegung gewesen, die unzähligen Krankenkassen abzuschaffen, und wie früher in der DDR, eine Einheitskasse zu schaffen“ meinte Scharfschwert „die Unterschiede in den Beitragssätzen und den angebotenen Leistungen der Kassen waren doch so wie so nicht so erheblich. Und ich habe mich oft geärgert, dass die privat Versicherten schneller zur Behandlung drankamen und bessere Leistungen erhielten.“

„Natürlich ist das nicht von der Hand zu weisen“ sagte der Arzt „aber damit wurde ein wichtiges Prinzip des Gesundheitssystems aufgegeben: Anreize zu schaffen, besser als andere Anbieter zu sein, für die Versicherten günstigere Tarife anbieten zu können. Jetzt haben wir eine nach Einkommen gestaffelte Beitragstabelle, aber bei den Leistungen gibt es keinen Unterschied. Keinen einzigen. So erhält der Geschäftsführer genau die gleichen Behandlungen wie der, das ist jetzt nicht überheblich gemeint, der Müllfahrer. Der eine hat, sagen wir mal als Beispiel, 100.000 Euro Neumark im Jahr Verdienst, der andere nur 25.000. Da die Staffelung progressiv erfolgt, zahlt der Geschäftsführer natürlich erheblich mehr ein. Anders und besser als der Müllfahrer wird er aber nicht behandelt und bekommt den gleichen Krankenhausfraß wie alle anderen auch und liegt, nicht wie früher, im Einzelzimmer mit Chefarztbehandlungen, sondern im 4-Bett-Zimmer. Dass diese Leute jetzt erheblichen Frust haben, kann ich schon nachvollziehen.“

„Aber letztlich kommt es ja nicht entscheidend darauf an wie ich untergebracht bin, und ob das Essen nun wie im Hotel schmeckt oder aus der Großküche kommt, und überwiegend aus Convenience Produkten besteht. Mich interessiert viel mehr, dass ich dort ordentlich behandelt werde.“

„Wann waren Sie das letzte Mal zu einer Krankenhausbehandlung“ fragte der Arzt

„Sie wissen es sicher nicht, weil es schon so lange her ist.“

Er schaute auf seinen Monitor und scrollte durch ein Menü.

„Hier, 2013. Entfernung der Gallenblase wegen akuter Beschwerden. Vollkommen problemloser Verlauf, Entlassung nach 4 Tagen. Erinnern Sie sich?“

„Nur noch schwach. Aber die Betreuung durch die Pflegekräfte war gut, das weiß ich noch.“

„Ich kenne einen Krankenhausarzt, Studienfreund von mir. Der hat sich nach der Wende gescheut eine eigene Praxis zu eröffnen. Einen Kredit aufnehmen um die Ausstattung und die Geräte zu finanzieren und sich so für lange Zeit privat zu verschulden, einen Kundestamm aufbauen, das Personal finanzieren zu können, die Abrechnung zu organisieren. Das alles wollte er nicht und hat sich im Krankenhaus anstellen lassen. Dort hat er sich kontinuierlich hochgearbeitet, Dienste ohne Ende geschrubbt und auch so gut wie kein Privatleben gehabt. Dafür ist er heute Chefarzt in der Chirurgie. Ab und an treffen wir uns mal auf ein Bier und reden über Gott und die Welt. Wir beiden alten Säcke sind jetzt 65, und da fragt man sich langsam, wie lange man noch arbeiten will, und kann. Was er mir vom jetzigen Krankenhausalltag erzählt hat stimmt nicht gerade positiv. Die Auslastung der Kliniken und Stationen liegt schon lange an der Kapazitätsgrenze. Man muss aber auch wissen, dass vor allem Fachkräfte, also erfahrene Ärzte und qualifiziertes Pflegepersonal, die Häuser zunehmend verlassen. Wohin, darüber wird nichts bekannt. Ich vermute, dass sich die Leute eine Arbeit im Ausland gesucht haben. Bereits 2019 ist diese Entwicklung in Gang gekommen, und sie nimmt an Tempo zu. Ich will Sie jetzt mit weiteren Einzelheiten verschonen, aber wie sich die Dinge im stationären Bereich entwickeln macht mir größte Sorgen. Wir beiden können offen miteinander reden, nicht wahr? Seit 2016 gibt es einen Ansturm der Neubürger auf die Krankenhäuser und Arztpraxen. Die Mentalität dieser Bürger ist bekannterweise auch durch ein ausgesprochenes Forderungsverhalten geprägt und hat seitdem dazu geführt, dass sie ihre Behandlungswünsche fast immer durchsetzen konnten, obwohl andere Patienten seit langem auf eben diese Behandlung warten. Da müssen sich die Einheimischen eben in Geduld üben. Seit 2015 hatten wir ja auch selbst schon viele Möglichkeiten, mit dem Verhalten dieser Bürger Bekanntschaft zu machen. Auch ich musste mich dem „Behandlungsvorranggesetz für den niedergelassenen Bereich von 2020“ stellen. Das heißt, dass ich keinen der Neubürger abweisend darf, auch wenn ich aus Kapazitätsgründen eigentlich keinen Patienten mehr aufnehmen könnte. Was das konkret bedeutet, brauche ich Ihnen ja nicht erklären. Allerdings muss man wie überall im Leben differenzieren. Da gibt es Neubürger, die perfekt Deutsch sprechen, in einer qualifizierten Beschäftigung sind und mit ausgesuchter Höflichkeit auftreten. Andere, die zum Beispiel ab 2015 als unbegleitete minderjährige Ausländer gekommen sind, haben in all den Jahren nichts getan, haben nur rumgehangen, Kurse abgelehnt, Schul- und Lehrstellenangebote nach kurzer Zeit abgebrochen. Diese jungen Kerle sind eigentlich für alle Zeit verloren. Sie waren aufgrund ihrer nicht vorhandenen Bildung damals gegenüber unseren Gleichaltrigen weit zurück, eigentlich hätten sie in der 1. Klasse anfangen müssen, um überhaupt erst einmal das Analphabetentum zu überwinden. Aber wenn man aus einer Kultur kommt die ein Versagen oder Scheitern überhaupt nicht toleriert, ist es einfacher, sich eben cool zu geben und einen auf dicke Hose zu machen, so nach dem Motto, das habe ich nicht nötig, mir noch viele Jahre Schule anzutun. Na ja, es hat in den letzten Jahren immer öfter Stress bei der Patientenaufnahme in der Praxis gegeben, und ich habe innerhalb von zwei Jahren jetzt schon die fünfte Arzthelferin.“

„Und wenn Sie einen dieser renitenten Patienten nicht annehmen würden?“

Der Arzt lachte, aber es klang irgendwie falsch und hilflos.

„Noch einmal, Herr Scharfschwert. Ich glaube, Ihnen vertrauen zu können. Vielleicht liegt das auch an unserer ähnlichen Sozialisation. Wir beide sind in der DDR aufgewachsen. Alles Negative habe ich nicht vergessen: die Bevormundung durch den Staat, die Bespitzelung, der Mangel an vielen Dingen, der allgemeine Verfall, die Zerstörung der Umwelt, die alles durchdringende Propaganda. Aber ich bin 1960 geboren worden und hatte eine behütete Kindheit, für mich hat nach meinem Empfinden damals kaum etwas gefehlt. Ich konnte das Abitur ablegen, studieren, hab im Krankenhaus angefangen. Dann gab es bald die Familie, 1984 wurde unsere Tochter geboren, 1987 kam unser Sohn zur Welt. Wir kamen so hin, und als meine Frau wieder arbeiten ging, sie war Kinderkrankenschwester, besserte sich auch unsere finanzielle Situation und für Ostverhältnisse ging es uns gut. Nach der Wende musste wir uns fast alle ja neu orientieren und uns irgendwie in das neue Gesellschafts- und Wirtschaftssystem einfügen. Ich blieb noch 3 Jahre im Krankenhaus, dann machte ich meine Praxis auf. Nach vielen schlaflosen Nächten wegen der Kreditbelastungen war ich nach 4 Jahren über den Berg, denn die Praxis lief gut. So nach hatten wir uns als Familie eingerichtet, und zu Beginn der zweitausender Jahre hatten wir auch genügend Geld zusammen, um uns in einer kleinen relativ abgelegenen Siedlung ein Stück ordentliches Stück Land am Rande eines Waldgebietes kaufen zu können und ließen dort einen, ich sag mal Bungalow, errichten. Das Haus ist so um die 45 Quadratmeter groß, hat ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Gästezimmer, ein Bad und einen Abstellraum. Draußen habe ich einen Schuppen für die Gartengeräte gebaut. Das Gebäude ist schon damals an das Stromnetz und die Kanalisation angeschlossen gewesen, was wollten wir mehr. Wir sind regelmäßig am Wochenende dorthin gefahren, wenn meine Frau Dienst hatte war ich eben einen Tag allein dort. Die Kinder hatten schnell andere Dinge im Kopf, beide waren sehr zielstrebig. Katja war 2005 mit ihrem Studium der Finanzwissenschaft fertig, sie hat dann noch ein Jahr frei gemacht und ist in der Welt herumgereist. Danach hatte sie bei der Dresdner Bank angefangen. 2011 hat sie ein Angebot aus London bekommen, es angenommen und arbeitet seitdem im Investmentbanking dort. Durch den Brexit ist sie ganz gut durchgekommen, nach der Ausdünnung der Belegschaft sitzt sie heute relativ sicher im Sattel. Sie und ihr Mann haben sich ein kleines Haus kaufen können, und ich bin Opa von 2 Jungen. Mein Sohn war schon als Junge ein Computerfreak und ich habe bald nicht mehr verstanden, was er eigentlich so macht. Er hat dann Informatik studiert und sich nebenbei schnell einen Ruf als Hacker gemacht. Als Hacker im positiven Sinne, zusammen mit einem Kumpel hatte er eine Firma gegründet, die Sicherheitslücken in Unternehmensnetzwerken aufgespürt hat. Er bekam dann eine Vielzahl von Angeboten, ist aber ist im Frühjahr 2015 in die USA gegangen, hat Kapitalgeber finden können und besitzt heute eine Firma, die sich mit Kryptographie und der Sicherheitsarchitektur von globalen Rechnernetzen beschäftigt. Leider ist meine Frau schon 2019 an Krebs gestorben, aber so muss sie wenigstens nicht mehr miterleben, wie dieses "Unabhängige Europäische Reformland" sich jeden Tag immer schneller verändert, so dass es in weniger Jahren, als wir beide es uns vorstellen können, nicht mehr wiederzuerkennen sein wird.“

Er machte eine Pause, und auch Scharfschwert blieb still.

„Aber zurück zu Ihrer Frage. Das „Behandlungsvorranggesetz für den niedergelassenen Bereich von 2020“ sieht eine Vielzahl von Sanktionen für die Abweisung für Patienten durch einen Arzt vor. Je nach Schwere des „Vergehens“ werden Geldstrafen fällig, kann das Budget gekürzt werden, im schlechtesten Fall kann die Approbation entzogen werden. Die Bewertung der Vergehen nimmt eine „Neutrale Schiedsstelle der Einheitskrankenkasse für den Fall von Leistungserbringungsverweigerung im niedergelassenen Bereich“ vor. Der Beschwerdeführer, also der abgewiesene Patient, muss den Fall beschreiben, der Arzt kann seine Sicht auf die Dinge darlegen.“

„Haben Sie schon mal einen Patienten abgewiesen?“

„Da ich noch eine Weile als Arzt arbeiten will, natürlich nicht. Nur über den Buschfunk habe ich gehört, dass für die Vergehen je nach Schwere unterschiedliche Punktzahlen vergeben werden. Welchen „Kontostand“ man hat bleibt unbekannt, es gibt keine Möglichkeit, sich darüber zu informieren.“

„Aber das widersprecht doch unseren rechtsstaatlichen Prinzipien“ wandte Scharfschwert ein.

„Sie leben offensichtlich immer noch auf einem anderen Planeten Herr Scharfschwert, und Ihre Informationen beziehen Sie sicher aus dem „Reformlandfernsehen“. Können Sie sich noch daran erinnern, dass einen die Vielzahl von Fernsehsendern vor ein paar Jahren noch regelrecht genervt hatte? Glücklicherweise hat uns die Regierung davon befreit, ein Sender reicht ja auch dicke aus, um sich umfassend und differenziert informieren zu können. So, wir müssen jetzt mal langsam mal zur Sache kommen, wenn ich die Leute zu lange warten lasse gibt es wieder Tumult im Wartezimmer. Schließlich haben die meisten der Neubürger leider immer nur wenig Zeit, die Gründe dafür zu benennen spare ich mir lieber. Also, im „Behandlungsvorranggesetz von 2020“ ist die Einrichtung einer Clearingstelle vorgesehen, sie soll also bei Streitigkeiten schlichten. Dorthin können Sie sich mit Ihrem Anliegen auf eine unverzügliche Krankenhausbehandlung wegen akuter Verschlechterung der Organfunktion der Nieren wenden, irgendwann werden Sie eine Antwort erhalten. Bedenken Sie aber, dass eine Beschwerde gegen einen Verwaltungsakt einer staatlichen Einrichtung oder den einer Behörde oder regierungsrelevanten Organisation aktenkundig vermerkt wird, also in Ihrer elektronischen Akte eingetragen wird und dort unlöschbar bis zum Sankt Nimmerleinstag verbleibt. Aber das ist Ihre ureigene Entscheidung, schließlich sind Sie ja ein gestandener Mann. Um Ihnen aber jetzt helfen zu können, werde ich Ihnen Tabletten für die Verbesserung der Filterfunktion der Nieren verschreiben. Leider wird da eine Zuzahlung von 125 Neumark für eine 30iger Packung fällig, die Einheitskasse übernimmt nur noch wenige Medikamentenverschreibungen vollständig. Ich muss Sie auch darauf hinweisen, dass die Tabletten erheblich lebertoxisch sind, Sie wissen, was das bedeutet.“

„Herr Doktor“ lächelte Scharfschwert „um meine Leber mache ich mir herzlich wenig Sorgen. Als 2019 auf Druck der muslimischen Verbände das „Erweiterte Präventionsgesetz gegen Suchtgefahren“ beschlossen wurde bin ich komplett weg vom Alkohol. In früheren Zeiten habe ich gern mal ein kühles Bier getrunken, na ja, nicht nur eins, und dazu nach dem Essen noch einen Schnaps, das gehörte einfach dazu. Aber jetzt 15 Neumark für eine Flasche Bier im Laden zu bezahlen, oder 300 Neumark für eine Flasche billigen Fusel, das ist mir doch zu viel. Da in den öffentlichen Einrichtungen wie Gaststätten oder Clubs auch kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden darf, gehe ich dort auch nicht mehr hin. Also wird meine Leber sich vor allem um die Nebenwirkungen der Medikamente kümmern können.“

„Sie sehen das wenigstens mit Humor, Herr Scharfschwert. In 4 Wochen sehe ich Sie zur Kontrolle wieder. Bis dahin alles Gute.“

„Ihnen auch, Herr Doktor.“

Als Klaus Scharfschwert die Praxis durch das Wartezimmer verließ sah er, dass alle Stühle besetzt waren und er erkannte, dass die überwiegende Zahl der wartenden Frauen Kopftücher trug. Etliche junge Männer in schicken Sachen lümmelten sich auf den Stühlen, alle hantierten an ihren Smartphones herum. Zwei schon ältere Frauen standen am Ausgang, aber keiner der anderen Patienten dachte daran, ihnen einen Platz anzubieten. Vermutlich lag es daran, dass sie wie Scharfschwert eine hellere Hautfarbe hatten, und zur perspektivisch immer mehr schrumpfenden Bevölkerungsgruppe der „Schon länger hier Lebenden“ gehörten.

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