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Auf dem Grat, Energiehauptleitstelle, 2021

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Der Kontrollraum erinnerte Dr. Jürgen Großmann immer wieder an eine halbkreisförmige Arena, in der zwar keine Gladiatoren gegeneinander kämpften und die Besucher fehlten, aber viele Leute auf den ansteigenden Rängen konzentriert an ihren Arbeitsplätzen saßen und vor allem auf Grafiken und Zahlenreihen auf ihren Monitoren starrten. An der vor ihnen befindlichen gut 10 Meter hohen und geraden Wand des abgedunkelten Raumes waren im linken Bereich in 3 Reihen übereinander insgesamt 12 riesige Monitore angebracht worden, die ebenso verwirrende Bilder mit einer Vielzahl von Informationen zeigten. An der rechten Raumkante beginnend und in linker Richtung angebracht befanden sich nebeneinander 3 Monitore in jeweils 7 Reihen übereinander. Diese 21 Geräte waren etwas von den weiter links befestigten angebracht worden und bildeten so einen extra etwas abgesetzten Block. Auf dieser großen Fläche war das Staatsgebiet mit seinen Grenzen zu den Nachbarländern gut zu erkennen. Innerhalb des Landes konnte man fünf mit roten Kreisen markierte Gebiete sehen: bei Augsburg, in der Nähe von Köln, südlich von Hamburg, westlich von Berlin und bei Leipzig. Großmann hatte sich öfter gefragt wie es möglich gewesen war, die 8K-Monitore mit einer Bildschirmdiagonale von 80 Zoll – das entsprach 203 Zentimetern – überhaupt zu beschaffen. Die eigene Wirtschaft war auf diesem Gebiet schon vor Jahren von der internationalen Konkurrenz gnadenlos abgehängt und die Entwicklung und Produktion eingestellt worden. China war lange Zeit führend in diesem Sektor gewesen, aber erstaunlicherweise hatten die Russen schnell nachgezogen. Aus einem dieser beiden Länder mussten die Monitore wohl stammen, aber eigentlich war das Großmann vollkommen egal, ihn interessierte nur deren technische Funktion, und diese war erstklassig. 80 Zoll Bildschirmdiagonale ergab 177 Zentimeter Breite und 100 Zentimeter Höhe pro Gerät, die Gesamtfläche war also 531 Zentimeter breit und 700 Zentimeter hoch und lieferte eine gestochen scharfe Darstellung. Die roten Kreise wurden von blau schraffierten Flächen überlagert, die das gesamte Staatsgebiet lückenlos abdeckten. In Grenznähe befanden sich in unregelmäßigen Abständen grüne und gelbe Pfeile, wobei die Spitzen der grünen in das Staatsgebiet hineinragten, die gelben in die Nachbarstaaten zeigten. Es waren allerdings nur sehr wenige Pfeile zu sehen. Innerhalb des Staatsgebietes waren noch dicke braune Linien zu erkennen, die wie sich immer wieder verzweigende Adern den Körper des Landes durchzogen, die wichtigsten Blutgefäße der Energieversorgung.

Für Jürgen Großmann war der Anblick des Raumes alltäglich, hier ging er an wechselnden Wochentagen seiner Arbeit als diensthabender Schichtleiter nach. Da er leicht klaustrophobisch veranlagt war hatte er an manchen Tagen Probleme mit dem Zugang zu der zentralen Schalt-, Energieversorgungs- und Überwachungszentrale des Landes. Aus für ihn unerklärlichen Gründen war kein freistehendes Gebäude dafür errichtet worden, sondern alle Räume befanden sich in einem in den 1990iger Jahren aufgegebenem ehemaligen Atombunker, der damals mit einem enormen finanziellen und technischen Aufwand gebaut worden war. Die ehemals projektierte und dann so ausgeführte Anordnung der Räume für die technischen Bereiche sowie für die anderen Funktionen war so vorteilhaft gewesen, dass lediglich der zentrale Raum umgebaut werden musste. Dass man diese geschützte Unterbringung gewählt hatte war für Großmann aber das beredte Zeichen eines tiefgründigen Umdenkens gewesen.

In der Vergangenheit hatten Belange der Energieversorgung zwar immer schon eine wichtige Rolle gespielt, aber es war doch so gewesen, dass man mit der Verfügung über die dann relative sichere Atomkraft die Vorstellung entwickelt hatte, dass damit eine nie versiegende Energiequelle bereitstand, die man lediglich mit geeigneten Überwachungsmaßnahmen gut im Blick behalten musste und zu noch effektiveren Formen weiterentwickeln könnte. Von der Öffentlichkeit nie richtig wahrgenommen war mit den ausgesonderten aber noch radioaktiven Brennelementen ein Entsorgungsproblem angefallen, dass aber immer wieder mit Argumenten, dass es sich schon von selbst irgendwie lösen würde, verdrängt und verschleiert wurde. Selbst die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 hatte keinen Richtungswechsel verursacht und es blieb bei der Dominanz der Kernkraftwerke. Kritikern hielt man entgegen, dass man mit dieser Energiequelle die schädlichen CO2 Emissionen der Verbrennungskraftwerke dramatisch verringern und somit auch die Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt mindern würde. In den 1990iger und 2000er Jahren war es immer mehr zu einer tiefen Vernetzung der Stromversorgungssysteme der europäischen Länder über deren Grenzen hinweg gekommen, da es einen vielfältigen Energieerzeugungsmix gab, der sich aus konventioneller Erzeugung, Atomstrom und erneuerbaren Energieträgern speiste, und deren zeitlichen und quantitativen Verbrauchsspitzen unterschiedlich anfielen.

Erst nach dem Desaster von Fukushima im März 2011 kam es zu einer anderen Sicht auf die Dinge, aber diese Erkenntnisse mündeten in Deutschland nicht in eine durchdachte Handlungsweise, sondern in blanken Aktionismus. Von „IHR“ wurde die Marschrichtung mit der sofortigen Schaffung von Ersatz für die geplante wegfallende Atomkraftkapazität durch erneuerbare Energien festgelegt, ohne dass dafür belastbare Voraussetzungen bestanden. Jürgen Großmann war Techniker genug und hatte ausreichend Berufserfahrung um einschätzen zu können, dass man so einen Strategiewechsel nicht von heute auf morgen bewältigen konnte. Aus seiner fachmännischen Sicht gab es mehrere zu beachtende Komponenten. Technisch gesehen würde das bedeuten, die hohen Kapazitäten der abzuschaltenden Atomkraftwerke durch andere zu kompensieren. Aus dem Stand heraus würde das nicht möglich sein, denn Windkraft- und Solarkraftanlagen waren gerade erst in der Startphase. Die Wasserkraftwerke hatten nicht primär die Energieerzeugung zum Schwerpunkt, sondern die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser. Seiner Meinung nach musste man die Ablösung der Atomkraft als eine langfristige gesellschaftliche Aufgabe begreifen und vor allen energisch koordinieren, denn die Akteure in diesem Spiel um den Energiemix vertraten zum Teil grundsätzlich andere Interessen. Dass die Betreiber der Atomkraftwerke 2017 6 Milliarden Euro Brennelementesteuer zurückbezahlt bekamen hatte ihn eigentlich nicht großartig gewundert weil er es erwartet hatte, aber als Bürger und Privatverbraucher empört. Dass die ganze Sache noch viel teurer werden würde musste ihm als Fachmann niemand sagen.

Die geplante Anteilsverschiebung der Energiearten würde man mit viel Aufwand womöglich schon irgendwie in den Griff bekommen hatte er damals gedacht, aber der Druck, der politisch ausgeübt worden war, war inhaltlich und zeitlich gesehen so kontraproduktiv gewesen, dass Fehler nicht nur zu erwarten gewesen waren, sondern mit Sicherheit eintreten mussten. Großmanns für sich selbst behaltene Prognosen des Eintretens von größeren Problemen waren fast monatsgenau eingetreten, aber er konnte sich natürlich nicht darüber freuen. Ende der 2010er Jahre hatte der Staat sein Alleinbestimmungsmonopol zwar schon schrittweise und zum Teil mit für die Bürger kaum zu durchschauenden Finten etabliert (Großmann erinnerte sich an die Zulassung von Staatstrojanern, deren Einsatz im Gesetz über den "Führerscheinentzug für Straftäter" mit einer derartigen Chupze versteckt worden waren, dass er es anfangs kaum glauben konnte), aber noch gab es auch eine starke grün orientierte Bewegung. Obwohl diese Klientel die angestrebte Energiepolitik euphorisch begrüßt hatte war schnell klar geworden, dass das Hemd auch bei diesen Leuten doch näher saß als der Rock. Der Transport der im Norden produzierten Windenergie in den zu dieser Zeit noch stromfressenden hochindustrialisierten Mittel - und Südteil des Landes stieß, egal ob ober- oder unterirdisch geplant, auf vehementen Widerstand. Letztlich wurden diese erheblich störenden Aktionen beim Netzausbau durch das 2019 verabschiedete "Gesetz zur Vorrangstellung des Staates in Energiefragen" kurzerhand beseitigt, Klagemöglichkeiten gegen Enteignungen waren grundsätzlich ausgeschlossen worden.

Dr. Jürgen Großmann hatte den Vormarsch des Staates zur Manifestierung der durch seine Institutionen wahrgenommenen Meinungsbildungs- und Durchsetzungsmacht ohne Einbeziehung der Bürger mit großem Unbehagen verfolgt. Allerdings war er aber auch Vater von Zwillingen, die nächstes Jahr das Abitur ablegen wollten. Was die beiden jungen Männer zu Hause manchmal für Meinungen in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung äußerten hatte ihn ob ihrer Blauäugigkeit und verqueren Ansichten anfangs amüsiert, aber bald musste er einsehen, dass sie es ernst meinten. Beide argumentierten, dass sich der Begriff der Nation schon lange überlebt hätte, und die Zukunft demzufolge nur in einer vielkulturellen Gesellschaft zu finden wäre. Großmann hatte einmal gesagt, dass dann aber auch jeder einen adäquaten Beitrag zu deren Funktionieren zu leisten hätte. Nein, war ihm erwidert worden, es würde immer Menschen geben, die aufgrund der Unterdrückung in ihren ehemaligen Heimatländern und damit eventuell fehlender Bildung oder Ausbildung der unbedingten Solidarität bedürften, und falls sie die dadurch erlittenen Nachteile nicht in die Lage versetzen würden so einen Beitrag durch eine Beschäftigung gleich welcher Art zu leisten, müsste dann eben die Gemeinschaft für sie eintreten. Sie müsste ihnen ein Leben ermöglichen, das sich von dem der einer Arbeit nachgehenden Menschen in Bezug auf die verfügbaren finanziellen Mittel nicht, oder nur im geringen Maß, unterscheiden dürfe. Großmann hatte das Ganze ins Lächerliche ziehen wollen und entgegnet, dass er dann ab morgen zu Hause bleiben und seinen Hobbys nachgehen würde, wenn er dafür auch noch ordentliches Geld bekommen würde. An die dann folgende und sich immer mehr verhärtende Diskussion erinnerte er sich mitBestürzung. Er hatte keine Angst davor gehabt, dass seine Jungs eines Tages eine andere Meinung haben würden als er, das gehörte zum Leben. Dass sie aber so weltfremd ausfiel, an vielen Realitäten vorbeiging, und vermutlich gar nicht ihren eigenen Gedanken entsprungen war sondern Teil der ansonsten katastrophalen Bildungspolitik war, machte ihn nur traurig.

Am Tag darauf war er wieder wie immer zur Arbeit gegangen, schließlich war er ein wichtiger Mann, dessen Verantwortung vor allen darin bestand, das löchrige und manchmal kurz vor dem Kollaps stehende Stromnetz des Unabhängigen Europäischen Kernlandes mit seiner ganzen langjährigen Erfahrung vor dem Blackout zu bewahren. Einige Male hatte er mit seiner hochqualifizierten Mannschaft schon knapp davor gestanden, irgendwann würde dieser Katastrophenfall aber zwangsläufig eintreten müssen.

Dr. Jürgen Großmann hoffte inständig, dass er am Tag des GAU dienstfrei haben und es die Leute einer anderen Schicht treffen würde.

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