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Der Enttäuschte, 2017

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Abdul Mahoudi hatte sich wieder nicht aufraffen können am Vormittag aufzustehen. Er war nachts gegen 3 Uhr zurück in seine Wohnung gekommen, um diese Zeit waren die Handelsgeschäfte meist vorbei und es hatte keinen Sinn mehr gehabt, sich vor den Clubs herumzudrücken. Mit dem Ergebnis war er ganz zufrieden gewesen, alles in allem würden so um die 120 Euro für den Einsatz in dieser Nacht bei ihm hängenbleiben. Da er schon 2015 mit der ersten Flüchtlingsflut nach Deutschland hereingeschwappt war hatte er die chaotischen Szenen bei den vollkommen überforderten Behörden selbst miterlebt, aber mit einem bisschen Glück die Erstaufnahmeeinrichtung schnell verlassen können, denn sein Asylantrag wurde nach den Worten des Bearbeiters im Amt als recht erfolgsträchtig angesehen. Mahoudi sprach ganz leidlich Englisch, und das half ihm im Alltag schon. So wie die anderen Migranten hatte er vor der deutschen Grenze seinen Pass weggeworfen, er überschritt die Schwelle in das Land seiner Wahl als ein Mister X. Jetzt lag es nur an ihm, wer er ab sofort sein wollte, und wie seine Vergangenheit verlaufen sein sollte.

Was er bis zum heutigen Tag nicht begriffen hatte war, wie leicht man in diesem Land als Mister X ohne richtige Nachweise zu seiner Person an Geld oder Leistungen herankommen konnte. Als er noch in der Erstaufnahmeeinrichtung gewesen war hatten Hinweise die Runde gemacht, sich mit mehreren vorgetäuschten Identitäten das Taschengeld deutlich aufbessern zu können. Es war so einfach gewesen, dass er es kaum glauben konnte. Er ließ sich an einem Ort registrieren und seinen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz dokumentieren, als Alleinstehendem standen ihm 143 Euro Taschengeld zu. Später fuhr er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in das im nächsten Ort gelegene Amt und trug diesmal eine Brille. Er ließ ein paar Tage vergehen und suchte mit einem dann mittlerweile gut sichtbaren Bart eine weitere Behörde auf. Auf diesem vollkommen unverfänglichen Wege war er nun im Besitz von drei Identitäten und somit auch drei Taschengeldzahlungen. Wundersamer Weise hatten sich somit aus dem eineiigen Mister X nunmehr Drillinge entwickelt, die zwar von ihren Genen her absolut identisch waren, und nur durch ihr etwas unterschiedliches Aussehen nicht verwandt zu sein schienen. Mahoudi kam die deutsche Verwaltung wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen vor, in dem das Federvieh ohne Plan hektisch durcheinander rannte und an bestimmten Stellen wie wild auf dem Boden herumpickte, um vielleicht doch eine früher vergrabene Anweisung zu finden, wie man denn nun mit dieser unübersichtlichen Situation umgehen sollte. Er konnte nicht begreifen, dass dieser in aller Welt für seine Ordnung und Disziplin so hoch gelobte Staat nunmehr sein totales Verwaltungsversagen so deutlich zeigte. Hatte man übrigens nicht gewusst, was sich in Nordafrika und Syrien, Afghanistan und anderswo zusammenbraute oder nur die Augen in der Hoffnung zugemacht, dass der Kelch schon an dem Land vorbei gehen würde und alle Probleme an den Außengrenzen der EU hängen bleiben würden, und sich die Griechen und Italiener dann damit herumschlagen müssten? Das hielt er für wahrscheinlich, aber es war ihm eigentlich egal.

Abdul Mahoudi verfügte wie nahezu alle Migranten über ein leistungsfähiges Smartphone und hatte sich schon in Tunesien lange damit beschäftigt sein Heimatland zu verlassen. Als sechstes von sieben Kindern war er in der im äußersten Norden des Landes liegenden Region Cap Bon – schönes Cap - aufgewachsen, hatte nur eine rudimentäre Bildung erhalten und musste zeitig bei der Bewirtschaftung der weitläufigen Plantagen seiner Eltern mithelfen. Der Familie ging es finanziell sehr gut, denn seit Generationen bauten die Mahoudi Obst an, verfügten über ein enormes Wissen über ihr Arbeitsgebiet und hatten sich auch aufgrund der hervorragenden Qualität ihre Produkte recht stabile Partnerschaften mit ihren Abnehmern vor allem in Europa aufgebaut. Abduls Vater hatte immer darauf bestanden, dass die Kinder neben den angestellten Arbeitern mit auf den Plantagen eingesetzt wurden. Traditionell würde der älteste Sohn den Obstbaubetrieb übernehmen wenn er 25 Jahre alt geworden wäre, der Vater hätte dann zwar immer noch das letzte Wort bei wichtigen Entscheidungen, aber er würde sich nach und nach aus dem Geschäft zurückziehen. Die jüngeren Kinder hatten dann zwei Optionen: sie konnten auf der Plantage bleiben aber würden akzeptieren müssen, dass die Führung der Familienbelange ganz klar in der Hand des Vaters und des ältesten Sohnes liegen würde. Sie wären in dieser Konstellation von der Sache her nur deutlich besser bezahlte leitende Angestellte des Clans ohne wesentliches Mitspracherecht, aber mit einem Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung und könnten so mit der Zeit einen bescheidenen Wohlstand erwerben (sofern die Geschäfte weiter so gut liefen). Die zweite Möglichkeit war die, sich mit einem vom Clan gezahlten Startkapital von 5.000 Dollar auf den Weg zu machen und mit einem Geschäft oder einer Anstellung irgendwo für sich selbst zu sorgen. Nicht zuletzt entsprang diese Verfahrensweise des Clans der Überlegung, den Landsitz nicht mit einer großen Anzahl von Familienmitgliedern zu überlasten, denn die Kinder würden eines Tages selbst auch Eltern werden.

Eigentlich war die Heimat von Abdul Mahoudi eine nahezu paradiesische Gegend, geprägt von einem milden Klima und einer zauberhaften Landschaft mit feinen Sandstränden an den Küsten. Der junge Mann hatte allerdings keinen Blick für diese Schönheiten, seiner war täglich durch den auf Weintrauben und Zitrusfrüchte eng begrenzt. Mehrere Ernten im Jahr waren wegen dem guten Klima möglich und der junge Mann fühlte sich im stets wiederkehrenden monotonen Einerlei der Arbeit und der wenig abwechslungsreichen Freizeit wie gefangen. Mit der Tradition des Hauses bestens vertraut wusste er auch, dass es für ihn – sicher später etwas besser – aber immer so bleiben würde, denn er stand in der Erbfolge ganz weit hinten. Was ihn aber immer noch in seinem Entschluss mit 16 Jahren wegzugehen schwanken ließ war die Tatsache, dass er sich sehr eng an die Familie gebunden fühlte, weil er von Kindheit an behütet aufgewachsen war und im Clan immer das Wohlergehen aller – besonders der Jungen - im Mittelpunkt stand. Natürlich gab es Hierarchien, ansonsten würde eine chaotische Situation entstehen wenn jeder mitreden durfte, aber es gab einen enorm starken Zusammenhalt der sich nicht nur auf die gemeinsamen Mahlzeiten erstreckte, sondern allumfassend war. Dennoch wollte er etwas Eigenes auf die Beine stellen und nahm Abschied.

Zuerst kam er bei seinem großen Bruder Hamid in Tunis unter. Dieser wohnte mit seiner Frau und vier Kindern in einem heruntergekommenen Haus am Stadtrand von Tunis und betrieb eine Autowerkstatt. Abdul war freundlich aufgenommen worden und konnte ein kleines Zimmer im Haus beziehen. In Gegenzug musste er seinem Bruder bei der Arbeit helfen. Alles war neu für ihn, viele Jahre lang hatte er nur mit der Pflege der Obstgewächse und der Ernte zu tun gehabt und der Anblick von Motorteilen und Werkzeugen verwirrte ihn anfangs. Da es sich bei den Fahrzeugen aber um durchweg ältere und technisch wenig anspruchsvolle Autos handelte merkte er schnell, dass es nicht auf Präzision oder Akkuratesse ankam, sondern manchmal nur rohe Gewalt zum Ziel führte. Er begriff aber recht schnell wie so eine Maschine funktionierte und konnte bald einige Arbeiten eigenständig ausführen. Sein Bruder zahlte ihm nur einen schmalen Lohn, denn die Geschäfte liefen nicht gut. In den Abendstunden trieb sich Abdul oft in den Randbezirken der Hauptstadt herum, die einem brodelnden und kochend heißen und kurz vor der Explosion stehendem Kessel mit den Zutaten Kriminalität, Prostitution, Drogenhandel, Diebstahl und brutalen Überfällen glichen. Diese Atmosphäre erschreckte ihn in der ersten Zeit, aber übte auch eine ungeahnte Faszination auf ihn aus, weil es ein scheinbar rechtsfreier Raum war, in dem sich nur die Stärksten durchsetzen konnten. Der von Tunesien ab dem Februar 2011 ausgegangene „Arabische Frühling“, - der auch die auch die Regime in Libyen und Ägypten hinweggefegt hatte – hatte die jahrelang zementierte Übermacht des Staates verschwinden lassen. Er ließ die Bürger aber auch ratlos zurück, denn mit der neu gewonnen Freiheit konnten viele noch nichts anfangen. Abdul Mahoudi war zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt und nahm sich vor, nicht mehr jeden Tag mit ölverschmierten Händen alte Autos zu reparieren, sondern sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Da er einem Clubbesitzer recht hartnäckig auf der Pelle saß, bekam er eine Chance, sich im Straßenhandel mit Drogen zu versuchen. Er stellte sich geschickt an und hatte sich schnell von anderen diverse Tricks abgeschaut, um nicht erwischt zu werden oder bei Auseinandersetzungen zu Schaden zu kommen. Von da an trug er ständig ein Messer bei sich. Mit der Zeit hatte er alle ungeschriebenen Gesetze der Gegend verinnerlicht und gelernt, sich lieber zurückzuziehen, wenn die Polizei zu einer ihrer seltenen Razzien erschien. Nach zwei Jahren stieg er das erste Mal auf, man übertrug ihm die Verantwortung für einen Teil des Viertels, Mitte 2015 war er der für die gesamte Gegend zuständig. Seine finanziellen Mittel waren erheblich angewachsen und er konnte sich nun Dinge leisten, die für ihn früher unerschwinglich gewesen wären. Sein Selbstbewusstsein war aufgrund seiner Stellung enorm gewachsen, aber er trug auch den Kern einer gewissen Selbstüberschätzung in sich. In einer Auseinandersetzung mit einem Kontrahenten im Herbst des Jahres verlor er – selbst unter Drogeneinfluss stehend – die Kontrolle über sich und stach den Mann nieder. Ein Strohmann bei der Polizei warnte ihn noch rechtzeitig vor einer Verhaftung wegen Mord und Abdul Mahoudi wusste genau, wie es in den tunesischen Gefängnissen zuging. In aller Eile leerte er sein Konto, einen Tag später war er bereits auf dem Transit durch Libyen, sein Ziel war Alexandria in Ägypten, dort würde er sich dem Flüchtlingszug anschließen und über das Mittelmeer nach Griechenland übersetzen. Er war gut informiert, in diesem Land konnte er wegen den seiner Meinung nach schlechten Bedingungen und fehlender finanzieller Versorgung nicht bleiben, sondern sich auf den Weg nach Deutschland machen, dort war mit anderen Zuständen zu rechnen. Aber das war nicht das Ausschlaggebende gewesen: er verfügte über Bargeld in Höhe von fast 15.000 Euro, damit könnte er sein ehemaliges Geschäft in seinem bevorzugten Zielland wieder aufziehen. Weiterhin bestehende enge Kontakte zu seinen alten Vertrauten in Tunesien würden ihm dabei sehr von Nutzen sein können. Seinen Eltern schickte er eine SMS und teilte ihnen mit, dass er sich entschlossen hätte, sein Glück in Deutschland zu machen, und später als reicher Mann in die Heimat zurückzukommen.

Zu dieser Zeit glaubte er selbst noch fest daran, dass es ihm gelingen würde.

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