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Schorndorf, Baden-Würrtemberg, Juli 2017
ОглавлениеNach dem Straßenfest herrschte am darauffolgenden Vormittag in der gerade einmal 40.000 Einwohner zählenden und sonst recht beschaulichen Stadt gespenstische Stille. Die eigentlich im Regelfall recht belebten und von schön hergerichteten Fachwerkhäusern eingerahmten Innenstadtgassen waren vollkommen verwaist, lediglich einige Reinigungstrupps waren dabei, den überall verstreuten Müll und zum Bruch gegangene Glasteile wegzuräumen. Bei dieser Aktion handelte es sich nicht allein um die typische schwäbische Angewohnheit für gründliche Ordnung zu sorgen, sondern es ging heute auch darum, die in der Nacht vom Samstag zum Sonntag entstandenen Schäden zu beseitigen. Wie immer hatten die Schorndorfer ihr jährliches Straßenfest wieder mit Herzblut und viel Engagement vorbereitet und die seit vielen Jahrzehnten existierenden Vereine hatten wie üblich dabei an der Spitze gestanden. So gesehen war diese Veranstaltung mit einer der kulturellen Höhepunkte des kleinen Ortes im Jahr, und die Vorfreude darauf verständlicherweise groß gewesen. Was den ausgesprochen bodenständigen Menschen in der Stadt immer wichtig gewesen war, war, mit thematisch auf ihre Heimat bezogenen Angeboten an Waren und kulturellen Darbietungen ihre seit Jahrhunderten gewachsenen Traditionen in Erinnerung zu halten und ihren berechtigten Stolz auf ihre Arbeit und deren gut sichtbare Ergebnisse zum Ausdruck zu bringen. Dabei waren die Schorndorfer keine ausschließlich im Denken an die Vergangenheit gefangenen und rückständigen Leute, sondern sehr weltoffene und tolerante Menschen, die sich ihres hohen Wohlstandes durchaus bewusst waren. Sie hatten sich gerade nach dem hohen Zustrom von Migranten in den letzten Jahren nicht hinter den Festungsanlagen des imposanten Burgschlosses abschottet, sondern auch einen Beitrag zur Integration der Zugezogenen leisten wollten. Etliche der Bürger engagierten sich seitdem ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, und mit ihrer im Ländle weitverbreiteten humanistisch und grün orientierten Denkhaltung war es für diese Menschen selbstverständlich, anderen, denen es nicht so gut wie ihnen selbst ging, mit Hilfe zur Seite zu stehen. Zum Straßenfest hatte es noch nie Probleme mit den Besuchern gegeben, lediglich ein paar unter Folklore verbuchte Schlägereien zwischen jungen Burschen waren das einzig Auffällige gewesen. Die Polizeiführung in Aalen bereitete sich also wie jedes Jahr vorher auf eine entspannte Einsatzbereitschaft vor. Schorndorf, an der Bahnstrecke Stuttgart-Aalen gelegen, wurde am Samstag wie aus dem Nichts heraus von einer größeren Zahl von zum Stadtfest strömenden, vor allem jugendlichen Besuchern heimgesucht. Das war von der Sache her nichts Neues, aber diesmal hatte sich die Zusammensetzung der nach und nach eintreffenden Gruppen im Vergleich zu den Vorjahren grundlegend geändert und auch deren Anzahl war außergewöhnlich groß. Schon auf dem Bahnhofsvorplatz war es zu ersten Übergriffen gekommen, 3 afghanische Asylbewerber hatten eine 17jährige sexuell belästigt und den Beamten in den 3 Polizeidienststellen in der Stadt schwante, dass dies erst der Auftakt für weitere Auseinandersetzungen gewesen sein könnte.
Polizeihauptkommissar Gunther Riedel wusste zu diesem Zeitpunkt schon, dass die Polizei die Lage nicht in den Griff bekommen würde, dazu waren zu viele der vermutlich auf Randale eingestellten Leute in die Stadt gekommen. Erste Lageberichte beschrieben die Ankommenden vorwiegend als Personen mit Migrationshintergrund sowie Schwarzafrikaner. Nicht unerwartet eskalierte die Situation dann schnell, als im Schlosspark in den Abendstunden ungefähr 1.000 deutsche und ausländische Jugendliche aneinandergerieten, die Ausländer waren in der Mehrheit. Auslöser waren wohl Flaschenwürfe gewesen, die die aufgeheizte Stimmung noch mehr anfeuerten. Riedels Einsatzkräfte waren deutlich in der Unterzahl, wurden auch beworfen und mussten sich zurückziehen. Die zwar leichte Reibereien beim Straßenfest gewohnten Polizisten waren von den ihnen entgegenschlagenden Aggressionen entsetzt gewesen und mussten um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Hektisch wurde die übergeordnete Dienststelle um Verstärkung gebeten. Mittlerweile hatte sich die Menge aufgelöst aber es war keineswegs Ruhe eingetreten. Gruppen von bis zu 50 Personen zogen laut skandierend durch die Stadt, etliche der Leute zeigten demonstrativ ihre Stichwaffen, dann wurden Schreckschusswaffen abgefeuert. Die verängstigten Anwohner hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, und für eine ganze Weile gehörte die Stadt den Migranten, von der staatlichen Ordnungsmacht war weit und breit nichts zu sehen. Erst als die Polizei auf diese Vorfälle aufmerksam gemacht wurde versuchte sie einzugreifen, aber die Randalierer waren verschwunden. Gegen 4 Uhr morgens saß Polizeihauptkommissar Gunther Riedel mit ausdruckslosem Gesicht mit seinen Einsatzgruppenleitern zusammen, um die Vorfälle auszuwerten.
Riedel war seit 36 Jahren im Polizeidienst. Ihm war von jeher bewusst gewesen, dass es in jeder noch so zivilisierten Gesellschaft immer Leute geben würde, für die Gesetze, Recht und Ordnung keine Bedeutung hatten, und die sich ohne Skrupel darüber hinweg setzen würden. Eigentlich war es für ihn in der Erinnerung bislang, ausgenommen die angespannte Phase der Anschläge durch die RAF in den später 70iger Jahren, aber da war er gerade erst 14 Jahre alt gewesen, im Land immer ruhig gewesen, und als er später selbst bei der Polizei war hatte er auch keine Häufung von Gewalttaten oder sonstigen Ausschreitungen feststellen können. Besondere Vorkommnisse hatten sich mal auf einen Einbruch, Fahrzeugdiebstähle oder ähnliche vergleichsweise Kleinigkeiten beschränkt. Personenschäden hatte es nie gegeben. Seit 2 Jahren aber hatte Riedel gespürt, dass sich die Dinge geändert hatten, aber noch nicht in seiner Stadt angekommen waren. Das war seit dieser Nacht vorbei. Er besaß genügend Intelligenz und Lebenserfahrung voraussagen zu können, dass er mit Zeitzeuge eines Veränderungsprozesses wurde, den er sich für das Land niemals so gewünscht hatte. Er war selbst Kind seines Landes und auch durch dessen Erziehungs- und Bildungssystem geprägt worden. Was er tiefgehend wie automatisiert verinnerlicht hatte war die Forderung, dass Deutschland nie wieder für den Ausbruch eines Krieges verantwortlich sein dürfte, und diesen Standpunkt vertrat er auch offen und hatte seine Kinder in diesem Sinne erzogen. Dass die Deutschen aber für immer und ewig und jede der der vorangegangenen nachfolgende Generation weiterhin schuldbeladen sein sollte, und die damals verübten Grausamkeiten durch eine besondere moralische Haltung gegenüber Bedürftigen in der ganzen Welt vergessen machen sollten, lehnte er ab. Mit dieser Haltung war er rigoros gegen den unkontrollierten Zuzug von Migranten, zumal bald bekannt wurde, dass diese Leute ihre Identität aufgrund (weggeworfener) nicht vorhandener Papiere nicht nachweisen konnten. Riedel hatte früher schon als Polizist einmal gelernt, dass sich ein Staat durch drei Merkmale konstituierte: ein von Grenzen geschütztes umgebenes Territorium, eine dort ansässige als Kernbevölkerung bezeichnete Gruppe von Menschen, sowie eine auf diesem Gebiet herrschende Staatsgewalt.
Wenn er sich die seit 2015 eingetretene Situation ganz objektiv ansah musste er feststellen, dass bis heute eines dieser Merkmale, die geschützten Grenzen, von der Regierung bereits vollständig aufgegeben worden war, weil jedermann ohne tiefere Kontrolle in das Staatsgebiet einreisen konnte. Welche Absichten diese Leute verfolgten konnte natürlich nicht festgestellt werden. Dass die Staatsgewalt immer mehr erodiert war hatte er in den vergangenen Jahren selbst miterleben können, denn anstatt den Personalbestand der Polizei zumindest auf einem konstanten Niveau zu halten, waren fortlaufend die Mittel gekürzt worden. Gunther Riedel war technisch durchaus interessiert, und da sein Sohn Elektronikfacharbeiter war hatte er diesem von den Schwierigkeiten bei der Einführung des Digitalfunks erzählt. Dieser hatte nur gelacht und ihm entgegnet, dass selbst Entwicklungsländer in dieser Hinsicht weiter wären. Über den Zustand der Dienstfahrzeuge hatte er aus Scham lieber geschwiegen. Riedel konnte es sich selbst nicht richtig erklären, dass man die Polizei nach seiner Auffassung immer mehr kaputtgespart hatte und dann auf deren Angehörige vor allem medial einprügelte, wenn bestimmte Einsätze schief gelaufen waren.
Was ihn aber am Meisten verunsicherte und frustrierte war die Tatsache, dass er als Polizeiführer vor ein paar Stunden selbst hilflos hatte mit zusehen müssen, wie in Gruppen durch die Stadt marodierende und ihre Waffen zeigenden Migranten zeitweise die Kontrolle über seinen Verantwortungsbereich übernommen hatten. Sie hatten die Staatsgewalt ohne Mühe demonstrativ so dastehen lassen, wie sie mittlerweile in Wahrheit war: wehrlos, ängstlich, sich bei Auseinandersetzungen lieber zurückziehend, verunsichert wegen etwaiger disziplinarischer Konsequenzen bei hartem Anpacken, kurzum; sich der Situation als Schwächerer unterwerfend. Gunther Riedel wusste ganz genau, dass er als Vorgesetzter eine bestimmte Rolle spielen musste, auch wenn es ihn selbst anwiderte, was er seinen Unterführern jetzt sagte:
„Na ja, mit unseren schwachen Kräften haben wir uns ja doch noch ganz gut geschlagen. Wenigstens hat es keine Personenschäden gegeben, auch was wert. Wir werden unsere Einsatzplanungen aber gründlich überdenken müssen, auch wenn man vermuten kann, dass die Störer uns wohl nicht mehr heimsuchen werden. Aber das ist sicher kein Trost, wer weiß, wo sie morgen aufkreuzen. Und die Kollegen, wo auch immer, stehen kapazitiv genauso schlecht da wie wir.“
Die vor ihm sitzenden Männer schauten ihn an, und er meinte Wut in einigen Augen erkennen zu können. Alle ahnten, dass sie als Polizei bei der obligatorischen Pressekonferenz zu den Vorfällen wieder den schwarzen Peter zugeschoben bekommen würden und womöglich auch wieder Tatsachen verdreht wurden. Einer der Kommissare blätterte in seinem Arbeitsbuch, dann sagte er:
„Herr Hauptkommissar, gestatten Sie eine Anmerkung?“
Riedel nickte.
„Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel“ las der Polizist aus seinem Buch vor.„Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein. Das Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden.“ Das sagte eine Vertreterin der Regierung übrigens vor einiger Zeit“ erklärte er noch und ergänzte mit bitterer Stimme:
"Wie das Aushandeln aussieht, haben wir ja heute erlebt."
Polizeihauptkommissar Gunther Riedel schwieg, was hätte er auch erwidern sollen. Durch den Schlafmangel körperlich am Ende, mit einer kaum noch zu bändigenden Wut wegen des Ablaufes der Ereignisse fast bis zum Bersten geladen und in Erwartung der unvermeidlichen medialen Abstrafung seiner Mitarbeiter – und natürlich ihm selbst auch – voller Frust, wollte er am liebsten seine Dienstwaffe abschnallen und die Ecke des Raumes schleudern. Dann riss er sich zusammen, holte Luft und sagte nur:
„Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz und den Ihrer Männer.“
Er stand mit steifen Gliedern auf, stakste ungelenk aus dem Raum und wusste, dass die Blicke in seinem Rücken nicht freundlich waren. Er hatte als höherer Vertreter der Staatsmacht wieder einmal wie erwartet funktioniert aber er wusste auch, dass er diesen Tag der tiefen Demütigung niemals vergessen würde. Dass er bei seinen Untergegebenen an Reputation eingebüßt hatte kam dazu, und dies bedrückte ihn noch mehr.
Als er an die Zukunft des Landes dachte hatte er das Gefühl, dass er als Besucher einer Oper im ersten Rang des Konzerthauses saß, gerade die Ouvertüre eines Stückes hörte und ahnte, dass die folgenden Akte des Stückes mehr als disharmonisch werden würden. Die jetzt schon zu hörenden falschen und schrägen Töne schienen die wohl höhergestellten Leute, die entspannt in der ehemaligen Königsloge saßen und auf die Besucher unter ihnen, ohne sie überhaupt noch wahrzunehmen, hinwegschauten, überhaupt nicht zu stören. Offensichtlich war das Konzert so ganz in ihrem Sinne.