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Die Bibel der Kampfkunst der „leeren Hand“
ОглавлениеDas moderne japanische Karate mit seinen verschiedenen Stilrichtungen existiert seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts1. Es entwickelte sich aus dem Ryûkyû Kempô Karate Jutsu, auch Okinawa te genannt. Verschiedene Strömungen der chinesischen Kampfkünste spielten zusammen, als sich im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte die Techniken des Kampfes mit bloßer Hand herausbildeten. Diese Strömungen waren das Tô-De („Kontinentaltechnik“)2, auch „Hand der Tang“ genannt, des weiteren jene Kampftechniken, die heute im Westen unter dem Gattungsnamen Kungfu (korrekter ist die Bezeichnung Wushu) bekannt sind, sowie die Prinzipien des Ch’i kung bzw. Qigong (Beherrschung der „Lebensenergie“). Kenntnisse über diese Techniken gelangten aus dem Reich der Mitte nach Japan und verbanden sich mit dort bereits vorhandenem Wissen. Die Insel Okinawa, die etwa 600 Kilometer südlich von Japan liegt, war das Bindeglied zwischen China und Japan, wirkte selbst aber als eine Art Tiegel, in dem unterschiedliche Strömungen der ostasiatischen Kampfkünste miteinander verschmolzen. Auf diese Weise wurde Okinawa zum Ursprungsort mehrerer durchaus eigenständiger Kampfkunststile, wie dem Shuri te, dem Naha te und dem Tomari te.
Die Umstände der alten, bekannten Verbindung China – Okinawa – Japan werden seit langem von den Historikern der Kampfkünste studiert. Die Untersuchungen über die Wurzeln der Kampfkunst mit bloßer Hand3 führten diese Forscher schon bald über die Grenzen Japans und selbst über die Okinawas hinaus. Sie richteten ihr Augenmerk auf das südliche China, genauer gesagt, auf die Provinz Fujian (auf japanisch Fukien). Dort haben, wie es scheint, vor sehr langer Zeit alle Entwicklungen ihren Anfang genommen. Hier vermuteten die Historiker die Quelle, der die oft zueinander gegenläufigen Strömungen entsprangen, die heute den Weg der reinen Kampfkunst überfluten. Den ernsthaft Praktizierenden befallen mitunter grundsätzliche Zweifel, wenn er darüber nachsinnt, was aus seiner inzwischen von Medien und Kommerz vereinnahmten „Kunst“ geworden ist. Um so reizvoller der Gedanke, es existiere eine Quelle, rein, ungetrübt und ursprünglich4.
Tatsächlich traten, um bei diesem Bild zu bleiben, die ersten Rinnsale, die am Ende jenen mächtigen Strom bildeten, der die Kampfkünste revolutionierte5, in der Region von Fujian hervor, wahrscheinlich im Umkreis der Stadt Fuzhou. Hier wurde vor mehreren Jahrhunderten der Kampfstil des Weißen Kranichs (Baihequan, oder auf japanisch Hakutsuru ken) geboren. Der Name resultiert daraus, daß Körperhaltungen und Bewegungen von Vögeln imitiert werden, was zahlreiche Spuren in den Kampfkünsten hinterlassen hat, die sich vereinzelt selbst noch in den Techniken des modernen Karate wiederfinden: in einigen Kata (Gankaku/Chintô) oder in manchen Stellungen (Tsuruashi dachi). Und ebendieser Stil ist es, der das Zentrum des Bubishi bildet, einer Sammlung illustrierter Texte, die gleichfalls in jener Region entstanden ist und die den Gegenstand dieser Arbeit darstellt.
Das Bubishi ist ein kleines Buch, das vor rund 250 bis 300 Jahren entstand und dessen Autor unbekannt ist. Es wurde in einem mitunter schwer zu entschlüsselnden Altchinesisch verfaßt und mit einer Reihe von Zeichnungen in naivem Stil illustriert. Es stellt die Frucht der Erfahrungen mehrerer anonymer Meister der „leeren Hand“ dar. Auch wenn es vielleicht nicht als die Quelle von allem, was die Techniken des waffenlosen Kampfes betrifft, angesehen werden kann, so ist es doch ein wesentlicher Beitrag dafür, daß wir heute manches über diese Quelle wissen. Kein ebenso altes Kampfkunst-Werk solch unschätzbaren Wertes ist uns gegenwärtig bekannt. Sein Text, wenngleich teilweise unverständlich, ist lebendig geblieben, er vermittelt eine Botschaft. Bu Bi Shi (oder Bu Bi She) lautet sein chinesischer Titel, der auch auf Okinawa beibehalten wurde. Ein programmatischer Name, der auf japanisch folgende Begriffe umfaßt: Goshin (Selbstschutz), Sonaeru (Vorbereitung) und Hakitome Teoku (Anmerkungen). Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beschreibt die Geschichte des Stils des Weißen Kranichs und ist mit 48 Bildern von Nahkampftechniken, sehr einfach und roh gezeichnet, illustriert. Der zweite Teil enthält Anmerkungen darüber, wie im Kampf die Hände auf richtige Weise eingesetzt werden müssen, um auf die Vitalpunkte des Gegners einwirken zu können. Der dritte Teil handelt von der Pflege und Heilung von Verletzungen. Es scheint, daß dieses Manuskript, das heute alle Kampfkunst-Historiker einmütig für äußerst wertvoll erachten, seinen Weg nach Okinawa zuerst durch Higaonna Kanryô (1853 - 1916) gefunden hat.
Zwei Zweige des Karate verdanken dem Bubishi ihren Ursprung: das Gôjû ryû, das durch Miyagi Chojûn (1888 - 1953) entwickelt wurde, und das Shitô ryû, entwickelt durch Mabuni Kenwa (1889 - 1952). Diese beiden Meister haben unterschiedliche Kopien des chinesischen Bubishi besessen und gaben sie später weiter. Die Kopie Chojûns war Grundlage einer Arbeit von Ôtsuka Tadahiko Sensei6, und das Exemplar Kenwas diente Patrick McCarthy7 als Vorlage.
Ôtsuka Sensei hat mir sein Exemplar des Bubishi anvertraut, damit es auch einer nicht-japanischen Öffentlichkeit zugänglich würde.8 Das vorliegende Werk beruht allerdings gleichermaßen auf den ausführlichen Gesprächen, die ich mit Ôtsuka Sensei während seines Besuches im „Centre de Recherche Budo“ (CRB) in Straßburg im Herbst des Jahres 1993 führte. Bei diesem Besuch lehrte er insbesondere die Happoren no kata, die im Bubishi erwähnt wird.
Ich habe nicht versucht, eine vollständige Übersetzung des Originaltextes zu unternehmen.9 Anstelle dessen habe ich mich dazu entschlossen, mich auf drei Schwerpunkte zu beschränken. Als erstes werden die 48 Zeichnungen aus dem Bubishi vorgestellt und erläutert (auch wenn ich mich dabei möglicherweise der Gefahr allzu persönlicher Interpretationen ausgesetzt habe). Der zweite Schwerpunkt ist der Ablauf der Hakufa no kata des Weißer-Kranich-Stils, und der dritte besteht in der Geschichte und der Beschreibung der Happoren no kata.
Das Bubishi enthält die Schöpfungsgeschichte einer Linie der Kampfkünste. Alles darin ist noch ursprünglich, nichts deformiert. Man kann es mit der Bibel vergleichen, denn wenn in ihm auch nicht alles zu finden ist, was heute existiert, so finden sich doch alle Anfänge, verbunden mit der Frische und Unschuld, wie sie der Morgendämmerung zu eigen ist, der Stunde, bevor das marktschreierische Gehabe der falschen Propheten und alle anderen Verfälschungen sich wie Staub auf die frischen und echten Farben legen und die wahre Gestalt der Dinge verhüllen.