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Zum neuen Kara des Karatedô

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Die Meiji-Restauration (1868 - 1912) bedeutete für Japan einen eindrucksvollen Sprung ins moderne Zeitalter. Diese Entwicklung war jedoch begleitet von dem unbeugsamen Willen, nichts vom japanischen Wesen aufzugeben. Die traditionellen Werte, vor allem der Geist des Bushidô, des traditionellen Moralkodex der Samurai, sollten bewahrt bleiben. Vor dem Hintergrund dieses Nationalismus und später des offenen Militarismus, der seit den 20er Jahren herrschte, ertüchtigten sich die Anhänger des Budô, vor allem in den Kampfstilen des Jûdô, des Kendô und später auch des Aikidô. Dies geschah im Rahmens eines Ausbildungssystems, welches die Absicht verfolgte, die zukünftigen Führungskräfte des Landes heranzuziehen. Männer wie Itosu und Higaonna begriffen, daß es sich um eine unausweichliche Entwicklung handelte, und sie erblickten darin eine Möglichkeit, die Kunst der „leeren Hand“ zu bewahren, die für eine hochtechnisierte Armee nicht mehr von Interesse war. Es ist vor allem das Verdienst Itosus, daß das Ryûkyû Kempô Karatedô Eingang ins Ausbildungssystem seiner Zeit fand. Damit hatte eine Kunst, die traditionell geheim gehalten worden war, ein modernes Gewand gefunden. Das war natürlich mit Zugeständnissen an den Zeitgeist verbunden, und es gab eine Reihe von Abänderungen, sowohl in Bezug auf den Geist der Kampfkunst als auch hinsichtlich der Praxis.

Von nun an stand der körperliche, sportliche Aspekt im Vordergrund, während das Kriegerische und der Gesichtspunkt der Verteidigung in den Schatten traten. Das wahre Bunkai (Anwendungsmöglichkeiten) der Kata wurde vernachlässigt, und der tiefere Sinn der Techniken, der einst im Vordergrund gestanden hatte, ging nach und nach verloren. Und damit sich alles noch mehr dem westlichen Boxen anglich, welches im damaligen Japan zunehmend Fuß faßte, weil es modern war, schloß man schließlich die Hände zu Fäusten. Ein neues Karate war entstanden, ähnlich, wie eine neue Stadt auf den verschütteten Ruinen einer alten entsteht. Die Wurzeln waren natürlich geblieben und würden es künftigen, wieder daran interessierten Generationen gestatten, Kenntnis von den Fundamenten, auf denen ihre Kampfkunst gegründet ist, zu erlangen. Itosu hatte nichts anderes getan, als auf äußerst opportunistische Weise das Wesen seiner Kunst zu verhüllen. Ohne sein Wirken würde man heute wahrscheinlich bedeutend weniger vom Wesentlichen der Kampfkünste wiederentdecken können.

All dies war jedoch noch immer zu wenig in den Augen der fremdenfeindlich und vor allem antichinesisch eingestellten Japaner. Um das aus Okinawa30 stammende Karatejutsu damit adeln zu können, daß man es als gleichwertig zu den Budô-Kampfkünsten achtete, mußte nachgewiesen werden, daß es auf alten einheimischen Traditionen beruhte. Dieser Aufgabe nahmen sich jene Pioniere der okinawanischen Kampfkünste an, die als erste nach Japan gingen, um die alte geheime Kunst des Ryûkyû dorthin zu bringen – Funakoshi Gichin (1869 - 1957), der Vater des Shôtôkan, Miyagi Chojûn (1888 - 1953), Begründer des Gôjû ryû und Mabuni Kenwa (1889 - 1952), der Schöpfer des Shitô ryû. Japaner wie Yasuhiro Konishi und der Jûjutsu-Experte und Begründer des Wadô ryû Ôtsuka Hironori (1892 - 1982) wirkten in dieselbe Richtung. Auch sie wollten, daß die Japaner das Karate als wesentliche und achtenswerte Kampfkunst akzeptierten. Dies gelang, indem im Jahre 1936 dem Begriff Kara im Karate ein neuer Sinn verliehen wurde.

Ursprünglich bezog sich das chinesische Ideogramm für Kara, das auch als To oder Tou gelesen werden konnte, auf die Dynastie Tang (618 - 907). Später galt es einfach als Synonym für „China“. Das zweite Ideogramm, aus dem der Begriff Karate gebildet wird, wird als Te (oder Di) gelesen und bedeutet „Hand“. Bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs interpretierten die okinawanischen Meister den Begriff Karate folglich als „chinesische Hand“. Es besteht eine gewisse Uneinigkeit über die Geschichte des folgenschweren Bedeutungswechsels des Begriffes Kara. War dafür Funakoshi Gichin verantwortlich, der 1929 die Entscheidung fällte, die Kunst, die er lehrte, Dai Nippon Kempô Karatedô zu nennen und dabei Karate die Bedeutung „leere Hand“ zu verleihen?31 Oder war es bereits Hanashiro Chômo (1889 - 1945), der in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1905 der Silbe kara den Sinn „leer“ in seiner materiellen Bedeutung verlieh, jedoch auch die metaphysische Lesart ku oder sora, was „leer“ bzw. „Himmel“ bedeutet, zuließ? In jedem Fall war es in den 30er Jahren an der Zeit, der „plebejischen“ Technik des Karatejutsu einen höheren Sinn zu geben, es als einen Weg zu betrachten, der zugleich nach innen und nach außen führt, zum Ziel des Wa (Harmonie). In einer hochoffiziellen Zusammenkunft, die im Oktober 1936 in Naha stattfand, kamen schließlich Kyan Chôtoku, Hanashiro Chômo, Motobu Chôki, Kentsu Yabu und Miyagi Chojûn überein, von nun an offiziell das kara im Karatedô in seinem neuen Sinn als „leer“ zu interpretieren.

Und gerade zu dieser Zeit begannen dieselben Meister in aller Öffentlichkeit von jenem Archiv ihrer Kampfkünste zu sprechen, dem Bubishi. Bei ihren japanischen Schülern fand dies zunächst keinen Wiederhall. Zu beschäftigt waren sie mit ihrem nationalistischen Gedankengut oder – im günstigsten Falle – mit ihren sportlichen Aktivitäten. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis schließlich einige „Archäologen“ der Kampfkunst der „leeren Hand“, in Japan wie in Europa, damit begannen, diese drei Silben behutsam auszusprechen, die noch heute – selbst in den größten Dôjô – so undurchdringlich erscheinen:



Foto 12: Zu den Erben der alten Techniken aus dem Bubishi zählt wahrscheinlich die gesamte Generation der Kampfkunstexperten des Okinawa te. Ihnen ist zu verdanken, daß die Kunst der „leeren Hand“ von China nach Japan gelangte. Sie alle schöpften aus derselben Quelle und waren einander oft viel näher, als die gegenwärtige Zersplitterung des Karatedô in unterschiedliche Stilrichtungen vermuten läßt. Sitzend in der Mitte Mabuni Kenwa, der Gründer des Shitô ryû. Stehend von links nach rechts: Funakoshi Gichin (1869 - 1957), der Gründer des Shôtôkan ryû, Nakasone Genwa (1895 - 1978), unbekannt, Konishi Yasuhiro (1893 - 1983), der Gründer des Shindô Jigen (Shizen) ryû, Mabuni Kenei (geb. 1918), der älteste Sohn Mabuni Kenwas und gegenwärtige Vorstand des Shitô ryû. Die Fotografie stammt aus dem Jahr 1930.


Foto 13: Funakoshi Gichin, sitzend in der Mitte des Bildes, als Vorsitzender bei einer Vorführung der „Japan Karate Association“ (JKA). Das sportorientierte Karate des Shôtôkan-Stils, wie es sich gegen Ende seines Lebens herausbildete, hatte sich bereits beträchtlich vom Wesenskern des Bubishi entfernt. Die heutigen Vertreter des Karate scheinen dieses alte Dokument nun wiederzuentdecken.

Fotos 14 - 23: Die folgenden Seiten geben zehn der charakteristischsten Wandmalereien wieder, die auf dem Fresko in der Baiyi-Halle des „Ersten Klosters unter dem Himmel“ (Shaolin) zu sehen sind, dem Heiligtum der chinesischen Kampfkünste. Sie gehen auf die Zeit der Ming-Kaiser zurück (das Fresko wurde im Jahre 1828 restauriert) und haben teilweise die schrecklichen Heimsuchungen, die das Kloster erleben mußte, überstanden (zum letzten Mal wurde das Kloster zu Beginn des 20. Jahrhunderts während der chinesischen Bürgerkriege zerstört). Heute werden die Wandmalereien erneut restauriert, wobei man sich streng an die Originale hält. Sie stellen nicht nur einen künstlerischen Schatz dar, sondern auch eine einzigartige und außergewöhnliche Quelle für alle, die heute Kampfkünste praktizieren, unabhängig davon, welche Stilrichtung sie betreiben. Es ist offensichtlich, daß der Künstler, der diese kämpfenden Arhats (buddhistische Heilige) gemalt hat, vollendete Kenntnisse über die Kampftechniken des alten Wushu besaß. Wir finden hier präzise Darstellungen von Blocks, Bereitschaftsstellungen, Fußtritten, Befreiungen und anderen Haltungen. Man beachte vor allem zwei simultan ausgeführte angetäuschte Fußtritte (Finten) und einen Fußtritt nach hinten (Foto 21) oder einen Block mit gleichzeitigem Ergreifen des Handgelenks (Foto 16). Darüber, was der uns unbekannte Künstler zum Ausdruck bringen wollte, indem er manche der Gegner mit dunklerer Haut darstellte, können wir lediglich spekulieren. Es ist denkbar, daß damit auf einen Fremdling hingewiesen werden sollte oder auf einen Kämpfer, der einen anderen Stil praktizierte. Die dunkle Hautfarbe könnte jedoch auch die rohe Gewalt im Gegensatz zur Technik des „Guten“ oder ein böses Ch’i (Qi) symbolisieren.


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Figuren eines Dao Lu (Quan) des chinesischen Boxens. Sie wurden einer zeitgenössischen Kopie des zweiten Bubishi entnommen.


Figuren aus dem Bubishi in einer korrigierten Darstellung, wie sie Ôtsuka Tadahiko Sensei in einer Veröffentlichung seiner Gôjûkensha-Schule in Tokio verwendete. Die acht Kampfdarstellungen sind Teil der 48 Techniken, die im zweiten Teil dieses Buches vorgestellt werden.

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