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Ein geheimes Dokument

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Das Bubishi stellt aus heutiger Sicht die gemeinsame Wurzel zumindest der wichtigsten Stile des Ryûkyû Kempô Karate Jutsu dar. Dieses historische Dokument, dessen Authentizität unangefochten ist, wurde lange Zeit von den alten Meistern Okinawas, in deren Hände es anscheinend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte, geheimgehalten. Es ist bekannt, daß sowohl Higashionna Kanryô (1853 - 1915) als auch Itosu Ankô (1832 - 1916) ein Exemplar besaßen. Es scheint, daß Miyagi Chojûn (1888 - 1953) durch ein Kapitel des Bubishi inspiriert wurde, als er im Jahre 1929 seinen eigenen Kampfkunststil Gôjû ryû nannte. Darauf deutet die Verwendung der Begriffe (Härte; das Ausatmen) und (Weichheit; das Einatmen; aber auch: die Geschicklichkeit, sich aus einer mißlichen Lage zu befreien) hin. Andere, wie sich noch zeigen wird, wußten um die Existenz des Buches, ohne jedoch in jedem Fall die Möglichkeit zu einem intensiveren Studium der Schrift gehabt zu haben. Der erste, der das Dokument teilweise der Öffentlichkeit zugänglich machte, war Mabuni Kenwa (1889 - 1952), der Begründer des Shitô ryû. In seinem Buch „Studie der Seipa“, das 1934 in Tokio erschien, gab er einige Auszüge aus dem Bubishi wieder.16

Worum geht es nun im einzelnen auf diesen seit vielen Generationen von den Meistern an ihre Schüler weitergegebenen und immer wieder sorgfältig kopierten Seiten? In 32 Abschnitten werden die Techniken des Shaolin-Stils Quan-fa (Chuan-fa), die Techniken des Kranichs (auch Weißer Reiher) aus der chinesischen Provinz Fujian, die Übungen des Qigong (Beherrschung der inneren Energie), die geheimen Prinzipien des Tuidi (Dianxue, auf japanisch Atemi) und alle Formen des Angriffs auf die Vitalpunkte des menschlichen Körpers abgehandelt. Des weiteren werden das Bunkai (Anwendungsmöglichkeiten) der Kata Happoren, das Wissen über Heilkräuter und die Art ihrer Verwendung bei Kampfverletzungen beschrieben, und es werden moralische Richtlinien dargelegt, die durch jene, die in all diese Geheimnisse eingeweiht sind, zu befolgen sind.

Einerseits stellt das Bubishi einen äußerst bemerkenswerten Versuch dar, das Wissen über die Künste der „leeren Hand“, wie es in der Zeit der Entstehung des Buches bestand, als ein Ganzes zu begreifen. Andererseits sind die Informationen, die im Bubishi gegeben werden, nicht immer zusammenhängend dargestellt, und es ist auch nicht immer möglich, ihren praktischen Aspekt klar zu erkennen. Eine weitere Schwierigkeit der Textinterpretation ergibt sich daraus, daß es ursprünglich in dem chinesischen Dialekt, wie er in Fujian gesprochen wurde, verfaßt wurde und die heute existierenden Kopien auf Abschriften und auf Übersetzungen in andere Dialekte oder gar Sprachen beruhen. Dadurch haben sich zwangsläufig Irrtümer grammatikalischer und lexikalischer Natur eingeschlichen. Auf diese Weise bleibt das Bubishi gewissermaßen ein Text voller Geheimnisse, geschützt durch eine Art „Code“. Ähnlich wie bei einer alten Kata, die auch nicht durch bloße Übung all ihre Bunkai-Möglichkeiten enthüllt, werden, je nachdem, welchen Grad der Vollkommenheit (vielleicht auch der „Reinheit“) der Suchende erreicht hat, verschiedene Aspekte auf unterschiedliche Weise begriffen.


Foto 2: Die ersten Anfänge entwickelten sich höchstwahrscheinlich im alten Indien. Die riesigen Steinwächter am Eingang zur großen Höhle der Longmen-Grotten in der Nähe von Lo-Yang (China) nehmen verschiedene Haltungen aus der Vajramukti-Kampfkunst ein, die einst durch die Kriegerkaste des alten Indiens praktiziert wurde. Diese Positionenfinden sich gleichermaßen in japanischen Götterstatuen (Devas) und in Figuren der Tempelwächter im mittelalterlichen Japan (Kongo-Rikishi) wieder. Auch in der alten Kampkunst der Mönche des berühmten Shaolin-Tempels lassen sich diese Körperhaltungenwiederfinden. Dieser Tempel liegt an einer von Indien nach China führenden Pilgerstraße, über die im übrigen auch der Chan-Buddhismus nach China gelangt ist.


Das alte chinesische Symbol des Tai Ji repräsentiert das Universum im vollendeten Gleichgewicht gemäß den Prinzipien des Yin und des Yang, von denen jedes ein Teil des anderen enthält. Die Außenlinien der Begrenzungen fügen sich harmonisch in den Kreis, der das Dao symbolisiert. Alle aus China stammenden Kampfkünste, sowohl in ursprünglicher Gestalt als auch solche, die eine Synthese verschiedener Stilrichtungen darstellen, sind zutiefst von dieser taoistischen Sichtweise durchdrungen, die den philosophischen und religiösen Hintergrund für die Techniken bildet. Natürlich findet dies auch im Bubishi seinen Widerhall.


Foto 3: Um das Jahr 520 n. Chr. kam ein aus der Gegend von Madras stammender Mönch von Indien in die chinesische Provinz Henan und brachte das Chan (Zen) zum „Kloster des kleinen Waldes“ (Shaolin). Es ist denkbar, daß er das Vajramukti kannte. Fest steht, daß er dort eine bestimmte Kampftechnik lehrte und sich schließlich neun Jahre lang in eine Höhle zurückzog, um dort zu meditieren (das Foto zeigt den Eingang zu dieser Höhle). Auf diese Weise begann die Legende der unbesiegbaren Shaolin-Mönche.


Foto 4: Bodhidharma (auf chinesisch Da-mo, auf japanisch Daruma) überquert den Jangtse-Fluß auf einen Schilfrohr. Eine von zahlreichen modernen Darstellungen dieser Episode, wie man sie in den Tempeln Südchinas finden kann.


Foto 5: Klassische Darstellung derselben Begebenheit. Die Zeichnung (Tinte auf Papier, Museum von Stockholm) aus dem Jahre 1655 stammt von Shih Tsu (bekannter unter seinem Kaiser-Namen Shun Chih, 1638 - 1661).

Der Name Bu Bi Shi (Wu Bei Chi oder Wu Bei Zhi auf Mandarin) bezieht sich auf die Kenntnis der Kriegskunst. Bu steht für Krieger, Bi für Wissen und Versorgen und Shi für Geist und Ehrgeiz. Die genaue Entstehungszeit und der Entstehungsort des Werkes werden wohl für immer im Dunkeln bleiben. Wenig ist über seine Autoren bekannt. Es könnte sich um die Arbeit mehrerer Meister handeln, die ein und dieselbe chinesische Quelle studiert haben und der Nachwelt eine Art Vermächtnis hinterlassen wollten. In den folgenden Abschnitten sollen einige Hypothesen über die Herkunft des Buches und seinen Weg auf die Insel Okinawa erörtert werden.

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