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Das „fehlende Bindeglied“

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Es ist bekannt, daß alles, was Historiker über die Entwicklung der Kunst der „leeren Hand“10 in der Zeit vor Beginn des 20. Jahrhunderts aussagen, mit Vorsicht interpretiert werden muß und mit dem bereits bestehenden Wissen sorgfältig verglichen werden sollte. Jede voreilige „Erkenntnis“, die dem Enthusiasmus entspringt, der gerade auf diesem Forschungsgebiet jede neue Entdeckung zu begleiten pflegt, kann zu falschen Schlußfolgerungen und den Forscher in die verkehrte Richtung führen. Da einige dieser Irrwege äußerst verlockend erscheinen, fällt die Rückkehr dann oftmals nicht leicht. Größte Vorsicht ist also geboten, wenn man sich mit der Geschichte des Okinawa te oder des Ryûkyû-Kempô11 im 19. Jahrhundert befaßt.

Unter diesen Voraussetzungen betrachtet, können nur wenige Fakten als historisch gesichert angesehen werden, denn es gab zu jener Zeit keine zuverlässigen Aufzeichnungen; alles beruhte auf der Geheimhaltung der einzelnen Stile, auf Rivalität, und Wissen wurde grundsätzlich mündlich weitergegeben. Aus dem Geflecht überlieferter Geschichten und Legenden konnten lediglich wahrscheinliche Aussagen über die tatsächlichen Geschehnisse extrahiert werden.

Und an diesem Punkt kam es plötzlich zur Wiederentdeckung des Bubishi. Mit seinem Text und seinen Illustrationen schien es das Dokument schlechthin zu sein über die traditionellen chinesischen Kampfkünste. Zugleich war es Inspiration für die ältesten Schulen des Okinawa te, deren Vertreter während der letzten Jahre das Bubishi in zunehmendem Maße offen als wertvolle Quelle ihres gegenwärtigen Wissens bezeichneten. Das fragliche Dokument war 100 bis 300 Jahre alt, und es war authentisch. Endlich zeichneten sich die Konturen der Brücke zwischen China und Okinawa deutlicher ab, über welche die Kampfkunst mit bloßer Hand, deren Wurzeln sich bis ins berühmte Shaolinkloster verfolgen lassen, auf die Ryûkyû-Inseln12 gelangt war. Man hatte das „fehlende Bindeglied“ der Übertragungskette gefunden. Auch wenn im Bubishi nicht auf alle Fragen eine Antwort gefunden werden kann, so stellt es doch einen gewichtigen Beitrag zur Kenntnis der Herkunft und der Urbestandteile des Karatedô dar. Es vermittelt uns auch eine Ahnung des Wunderbaren, das das Leben dieser alten Meister aus Okinawa durchdrang, die uns ein Erbe an Kampftechniken und Kultur hinterließen, dessen Fülle wir selbst heute noch nicht vollkommen erschlossen haben.

Für den Karateka, der wissen will, woraus das Karate, das er praktiziert, im Grunde besteht, ist dieses wieder und wieder mit größter Sorgfalt kopierte Manuskript das historische Dokument schlechthin. Es sollte ihm jedoch klar sein, daß selbst diese Quelle, so unverzichtbar und unersetzlich sie auch sein möge, seinen Wissensdurst nicht völlig stillen wird. Dennoch, auch wenn das Bubishi nicht als Handbuch der Techniken, der Geschichte und der Philosophie des Karate begriffen werden kann, erhellen seine theoretischen und praktischen Ausführungen auf eine Weise die Wurzeln der Kampfkünste, daß dieses kleine Buch in seinem Rang mit dem berühmten Werk „Die Kunst des Krieges“ von Sun-Tsu oder auch mit Miyamoto Musashis „Buch der fünf Ringe“ vergleichbar ist.

Ich halte es für wichtig und für nur allzu gerecht, hervorzuheben, daß es zum großen Teil Ôtsuka Tadahiko Sensei zu verdanken ist, wenn heute das lange Zeit unbekannte (oder zumindest in seinem Wert verkannte) Bubishi von Seiten der Spezialisten mit wachsendem Interesse bedacht wird.13 Ôtsuka Sensei, Gründer und Leiter des Gôjûkensha in Tokio, ist einer der zeitgenössischen japanischen Meister, die all ihr Streben darauf richten, nach den Wurzeln des Karatedô zu suchen und es in seiner ursprünglichen Form zu rekonstruieren. Dank der Unterstützung durch Yang Ming-shi Shifu14 und die okinawanischen Meister Iken Tokashiki Sensei und Mie Shimizu Sensei gelang Meister Ôtsuka die erste Übertragung des Bubishi ins moderne Japanisch. Bereits Mitte der 70er Jahre erzählte er mir von diesem Dokument, dessen Wert ich damals noch nicht in vollem Umfang zu erkennen vermochte, und er hielt mich in der Folge über seine Forschungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema auf dem Laufenden. In meinen Augen stellt er die unangefochtene Autorität für das Bubishi in Japan dar. Gewiß existieren weitere Kopien des Originalmanuskripts in den von den alten Meistern Okinawas, Chinas und Japans hinterlassenen Archiven, aber es war niemand anders als Meister Ôtsuka, der seine Arbeiten zum Bubishi der Öffentlichkeit zugänglich machte. Wir verdanken ihm außerdem eine bemerkenswerte Studie über die Übertragung der chinesischen Dao15 auf die Koshiki kata aus Okinawa. Die Studie beruht auf der Wiederentdeckung einer sehr alten chinesischen Kata aus der Provinz Fujian (Fukien), die im Bubishi erwähnt wird und die den gemeinsamen Stamm der stark auf Atemtechniken orientierten modernen Kata des Gôjû ryû darzustellen scheint: der Happoren no kata. Mit seiner Erlaubnis und auf seine Anregung hin habe ich damit begonnen, diese Entdeckungen durch meine eigenen Bücher zu verbreiten. Dem Meister und auch Freund, der er mir geworden ist, sei hiermit für seine außerordentlichen Beiträge zum Wissen über die Tradition gedankt.

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