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2. Das deutsch-sowjetische Kräfteverhältnis

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Wie groß war nun vor Beginn der größten militärischen Auseinandersetzung der Weltgeschichte das jeweilige Kräftepotenzial? So viel ist gewiss: »Was die Deutschen angeht, so war ihnen das tatsächliche Ausmaß der Stärke der Sowjetunion verborgen geblieben […]. Die deutschen Kommandobehörden zeigten sich nach dem 22. Juni 1941 […] überrascht von dem gegnerischen Potenzial, auf das sie östlich der Grenze stießen.«16

Wenden wir uns zunächst den deutschen Truppen und ihren Verbündeten zu. Das deutsche Heer verfügte über 145 Divisionen (110 Infanterie- und Gebirgs-Divisionen sowie 19 Panzer-, 15 motorisierte und eine Kavallerie-Division) mit zusammen rund drei Millionen Mann; Rumänien über zwölf Infanterie-Divisionen und zehn Brigaden (davon drei Gebirgs-Brigaden); Italien über drei Infanterie-Divisionen; Finnland über elf Infanterie-Divisionen und fünf Gebirgs-Brigaden (Ski); Ungarn über zwei Infanterie-Divisionen und eine Kavallerie-Brigade; die Slowakei über zwei Infanterie-Divisionen.

Im Einzelnen vollzog sich der deutsche Aufmarsch im Osten in folgenden Etappen: Bis zum 20. Juli 1940 waren 23 Divisionen vorhanden, am 7. Oktober waren es 30 Divisionen. Am 26. Oktober erfolgte die Neugliederung des Heeres. Am 21. Dezember waren 34 Divisionen einsatzbereit; im Februar/April 1941 in der 1. bis 2. Aufmarschstaffel 103 Divisionen und bis zum 20. Mai 1941 in der 3. Aufmarschstaffel 120 Divisionen. Mitte Mai begann die Verlegung der deutschen Luftstreitkräfte von Westen nach dem Osten. Bis zum 2. Juni 1941 waren an der Ostfront 129 Divisionen aufmarschiert. Vom 3. bis 23. Juni 1941 erfolgte die Zuführung von 12 Panzer- und 12 motorisierten Divisionen. Das entsprach 75 % des deutschen Feldheeres.

Die sowjetischen Truppen umfassten 185 Divisionen (davon 133 Schützen-, 10 Panzer-, 24 Kavallerie-Divisionen sowie 36 Panzer- und motorisierte Brigaden) mit zusammen über fünf Millionen Mann. Waffen und Material waren reichlich vorhanden, jedoch vielfach veraltet. Die Rote Armee befand sich am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges noch in einer Phase der Reorganisation. Sie besaß etwa 24 000 Panzer (davon nur ein Viertel des modernen Typs), zahlreiche gute Artillerie und vor allem viele Soldaten, allein über 12 Millionen ausgebildete Reservisten. »Bis zum 1. Juli 1941 wurden 5,3 Millionen Mann in die Streitkräfte einberufen«, erfahren wir aus sowjetischer Quelle. »Zu den Konzentrierungsräumen wurden, vor allem im Eisenbahntransport, 291 Schützendivisionen, 94 Schützenbrigaden und mehr als 2 Millionen Mann befördert. Gleichzeitig wurde eine große Menge materieller Mittel, hauptsächlich Munition, Treibstoff und Militärtechnik, transportiert.«17

Drei Verteidigungslinien, die von unterschiedlichem militärischen Wert waren, sollten einen deutschen Angriff in Russland aufhalten – die erste entlang der Demarkationslinie, die zweite entlang der alten russischpolnischen Grenze an der sogenannten »Stalin-Linie« und die dritte hinter dem Dnjepr und der Düna.

Doch die Sowjetunion stand nicht allzu lange allein. Bereits am 23. Juni 1941, also nur einen Tag nach dem deutschen Überraschungsangriff auf die UdSSR, hatte die amerikanische Regierung den Sowjets jede mögliche Hilfe zugesagt. So wurde die Sowjetunion nicht zuletzt auf Grund des amerikanischen Leih- und Pachtgesetzes mit gewaltigen Mengen an kriegswichtigem Material beliefert. Unter anderem gewährten die offiziell noch neutralen USA der hart bedrängten UdSSR einen 100-Millionen-Dollar-Kredit sowie 21 866 Flugzeuge, 12 218 Panzer, 5035 Panzerabwehrkanonen, 8200 Flakgeschütze, 135 000 Maschinengewehre und 343 000 Tonnen Sprengladungen; ferner 2 680 000 Tonnen Stahl, 3 000 000 Tonnen Erdölprodukte, 3 786 000 Autoreifen, 461 780 Motorfahrzeuge, 1981 Eisenbahnlokomotiven, 11 155 Eisenbahngüterwagen und 90 Frachtschiffe sowie Nahrungsmittel, Woll- und Baumwolltuche, Schuhe und Leder.18

Nicht umsonst bekannte Winston Churchill nach Kriegsende: »Amerika und England verhinderten es allein, dass Hitler nicht Stalin hinter den Ural zurücktrieb.«19

Wie sah nun der Angriffs- und Aufmarschplan der Deutschen und die Verteidigung der Sowjets aus, vor allem im Südabschnitt der Ostfront? Darüber hinaus werfen wir auch einen Blick auf das Kräfteverhältnis im Mittel- und Nordabschnitt der Ostfront, um die Operationen der Heeresgruppe Süd in Verbindung mit der mittleren Heeresgruppe besser nachvollziehen zu können. Beginnen wir zunächst im Südabschnitt der Ostfront bei den Deutschen und ihren Verbündeten:

Die Heeresgruppe Süd stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt – und zwar mit der 11. Armee des Generalobersten Ritter von Schobert, der 17. Armee des Generals der Infanterie von Stülpnagel, der 6. Armee des Generalfeldmarschalls von Reichenau und der Panzergruppe 1 des Generalobersten von Kleist sowie mit der 2. und 4. rumänischen Armee mit 32 Infanterie-, 5 Panzer- und 4 motorisierten deutschen und 16 rumänischen Divisionen. Die Heeresgruppe Süd, die durch die Luftflotte 4 des Generalobersten Löhr unterstützt wurde, hatte den Auftrag, den Schutz der rechten Heeresflanke mit der 11. Armee und rumänischen Truppen sicherzustellen und den Angriff aus dem Raum Lublin in Richtung Kiew mit der 17. und 6. Armee vorzutragen. Dabei sollten Panzerkeile der Panzergruppe 1 vorauseilen, um den Gegner abzuschneiden, einzukesseln und entlang des Dnjepr aufzurollen.

Die dem Südabschnitt der Ostfront zugewiesenen Armeen hatten ihre Aufmarschräume von Norden nach Süden wie folgt bezogen: Die 6. Armee zwischen Lublin und Przemysl, die 17. Armee zwischen Przemysl und Tomaszow, die Panzergruppe 1 hinter den inneren Flügeln der beiden vorgenannten Armeen, die 11. Armee beiderseits von Jassy in Rumänien. Sie lag zwischen der 3. und 4. rumänischen Armee eingeschoben, während ungarische Brigaden im Karpatenraum sicherten.

Die Heeresgruppe Mitte stand unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Fedor von Bock – und zwar mit der erst später unterstellten 2. Armee des Generalobersten Freiherr von Weichs, der 4. Armee des Generalfeldmarschalls von Kluge, der 9. Armee des Generalobersten Strauß sowie der Panzergruppe 2 des Generalobersten Guderian und der Panzergruppe 3 des Generalobersten Hoth mit 31 Infanterie-, 1 Kavallerie-, 9 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen. Die Heeresgruppe Mitte, die durch die Luftflotte 2 des Generalfeldmarschalls Kesselring unterstützt wurde, hatte den Auftrag, aus dem Raum Warschau vorzustoßen und den Feind in Weißrussland zu zersprengen, um anschließend gemeinsam mit der Heeresgruppe Nord gegen Leningrad zu operieren.

Die Heeresgruppe Nord stand unter dem Oberbefehl des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter von Leeb – und zwar mit der 16. Armee des Generalobersten Busch und der 18. Armee des Generalobersten von Küchler sowie mit der Panzergruppe 4 des Generalobersten Hoepner mit 20 Infanterie-, 3 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen. Die finnischen Verbände, die an diesen Kämpfen teilnahmen, unterstanden nicht dem deutschen Kommando. Die deutsche Heeresreserve bestand aus 22 Infanterie-, 2 Panzer-, 2 motorisierten und einer Polizei-Division. Die Heeresgruppe Nord, die durch die Luftflotte 1 des Generalobersten Keller unterstützt wurde, hatte den Auftrag, von Ostpreußen aus ins Baltikum vorzustoßen, um dann im Zusammenwirken mit schnellen Truppen der Heeresgruppe Mitte Leningrad und Kronstadt zu nehmen.

Wechseln wir an dieser Stelle kurz die Fronten, um uns über den Aufmarsch der Sowjets zu informieren. Wir beginnen auch hier wieder im Südabschnitt der Ostfront.

Die Heeresfront »Südwest« stand unter dem Oberbefehl von Marschall Semjon Michailowitsch Budjonny mit einer Gruppe von 11 Schützen-, 1 Kavallerie-, 2 Panzer- und 7 motorisierten Divisionen zwischen Pruth und Dnjestr; mit einer zweiten Gruppe von 27 Schützen-, 17 Kavallerie-, 3 Panzer- und 4 motorisierten Divisionen dahinter gruppiert bis zum Slutsch sowie mit einer dritten Gruppe von 12 Schützen-, 3 Kavallerie-, 1 Panzer- und 3 motorisierten Divisionen zwischen Slutsch und Bug. Der Auftrag für die sowjetische Heeresfront »Südwest« lautete: Zunächst Abwehr. Alle weiteren Maßnahmen waren dann gemäß den sich ergebenden operativen Lagen zu treffen.

Der deutschen Heeresgruppe Mitte lag die sowjetische Heeresfront »West« unter Marschall Semjon Konstantinowitsch Timoschenko mit 36 Schützen-, 8 Kavallerie-, 2 Panzer- und 9 motorisierten Divisionen gegenüber. Zwei Drittel dieser Verbände lagen im Raum Bialystok, ein Drittel bei Minsk. Der Auftrag für diese Heeresfront lautete: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.

Die Heeresfront »Nordwest«, auch »Baltikum« genannt, stand unter dem Oberbefehl von Marschall Kliment Jefremowitsch Woroschilow. Sie lag mit 7 Schützen-Divisionen ostwärts und südlich von Ostpreußen sowie mit 22 Schützen-, 2 Kavallerie-, 2 Panzer- und 6 motorisierten Divisionen bzw. Brigaden tief gestaffelt im Raum Wilna – Kowno – Pleskau. Ihr Auftrag lautete ebenfalls: Zunächst Abwehr, dann Ausweichen.

Die Rote Armee sollte sich anfangs defensiv verhalten. Das Prinzip der sowjetischen Verteidigung bestand nämlich darin, Raum aufzugeben, um erstens Zeit zu gewinnen und zweitens die deutschen Truppen immer tiefer in die gewaltige russische Landmasse hineinzuziehen. Der weite Raum sollte – wie einst die Franzosen im napoleonischen Russlandfeldzug – die Deutschen aufsaugen, zermürben und schließlich verschlingen.

Darüber hinaus rechneten die Sowjets mit gravierenden Fehlern in der deutschen Strategie. »Der schwerwiegendste war die Unterschätzung der Möglichkeiten der Sowjetunion und der Fähigkeit der Roten Armee, nicht nur den Überfall der feindlichen Kriegsmaschine abzuwehren, sondern sie auch zu zerschlagen«, heißt es in einem Abriss zur Geschichte der UdSSR. »Die nazistischen Führer, die ihre Hoffnungen auf den ›Blitzkrieg‹ setzten, unterschätzten die Möglichkeiten der sowjetischen Wirtschaft und ihre Fähigkeit, in kurzer Zeit alle Arbeitsreserven und materiellen Hilfsquellen für den Kriegsbedarf zu mobilisieren.«20

Endziel des deutschen Angriffsplanes war jedoch, »Sowjetrussland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen«21, um den Krieg noch vor Einbruch des russischen Winters und vor dem Wirksamwerden der umfangreichen alliierten Pacht- und Leihgesetz-Lieferungen zu beenden.

Nach Ansicht des Sowjet-Marschalls Gretschko musste die UdSSR »einen Schlag von ungeheurer Wucht auffangen«. Denn Deutschland verfügte zu dieser Zeit über ein militärökonomisches Potenzial, das außer auf die eigene Wirtschaft auch noch auf die Ressourcen der okkupierten Länder Westeuropas zurückgreifen konnte. Die Deutschen verfügten nach Meinung des Sowjet-Marschalls zum Beispiel »vor Beginn der Aggression gegen die UdSSR über 2- bis 2,5-mal mehr Kapazitäten zur Erzeugung von Metall- und Elektroenergie und zur Kohleförderung als die Sowjetunion. Die deutsche Industrie lieferte 1941 mehr als 11 000 Flugzeuge, über 5000 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, 30 000 Geschütze und viele andere Kampftechnik und Bewaffnung.«22 Und der Sowjet-Marschall Kyrill Semjonowitsch Moskalenko resümierte: »1941 war die faschistische Wehrmacht die stärkste der kapitalistischen Welt. Sie hatte große Erfahrungen in der Führung von Gefechtshandlungen und verfügte über ein gut ausgebildetes Generals- und Offizierskorps. Sie hatte gut organisierte Stäbe und war vollständig mobilisiert.«23

Wir werden in den folgenden Kapiteln sehen, ja stellenweise hautnah miterleben, welcher Seite es am schnellsten gelungen ist, dem Gegner das Gesetz des Handelns zu diktieren, ihn zum Kampf zu stellen und – was das Ziel jeder militärischen Operation ist – ihn zu besiegen.

Gefangen im russischen Winter

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