Читать книгу Blaue Reiter vor Verdun - Roland Künzel - Страница 4
Prolog
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Da ist das schleifende Geräusch des Zimmermannsblei-
stifts, der seine kräftigen Linien auf einem ungehobelten Brett hinterlässt. Je mehr sich die Mine auf dem rauen Untergrund abnutzt, desto breiter und stumpfer werden die grau schimmernden Striche. Sie zerfasern und verblassen frühzeitig. Manchmal schlägt der Stift Haken, dreht Pirouetten und springt unvermittelt in die Luft, um seinen Weg an anderer Stelle fortzusetzen.
Das Geräusch, obwohl leise und unaufdringlich, hat August aus seiner tiefen Müdigkeit gerissen. Ein Stift, der über eine Unterlage gleitet... Das Schleifen und Schaben, das er schon so oft selbst erzeugt hat. Die Melodie, mit der auf dem Zeichenkarton eine Skizze entsteht; ein Baum, ein Mensch, ein Liebespaar.
„Nächster!“, bellt die Stimme von Unteroffizier Schrader, der eine Kladde mit grauem Feldpostpapier in der Hand hält. Der Gefreite König spitzt die stumpf gewordene Bleistiftmine mit wenigen kräftigen Bewegungen seines Messers wie einen Zaunpfahl an und geht dann befehlsgemäß vor dem nächsten Sarg in die Hocke.
„Nummer 12!“, diktiert Schrader und fügt hinzu: „Unteroffizier Friedrich Kurscheid!“ Er darf seinen Dienstgrad, grau schimmernd geschrieben, mit ins Grab nehmen. Das Geburtsdatum – er wurde immerhin 24 Jahre alt – wird auf einem der schlichten Holzkreuze stehen, die man hinter der zerstörten Dorfkirche für Kurscheid und seine siebzehn Kameraden aufgestellt hat. Mindestens drei von ihnen, so munkelt man in der Kompanie, sind durch die eigenen Leute ums Leben gekommen. Was ist passiert? Ein erbittertes Gefecht um das kleine belgische Dorf Porcheresse. Französische Infanterie hat den Ort besetzt, um den Vormarsch der Deutschen noch vor den eigenen Grenzen zu stoppen. Porcheresse ist um jeden Preis vom Feind zu säubern! lautet der Befehl an die 5. Kompanie des 9. Rheinischen Infanterieregiments. Verbissen kämpfen die Soldaten um jedes Haus und um jede Scheune. Als die Sonne untergeht, ist der Kampf noch immer nicht entschieden. In der Dämmerung verblassen die Farben. Das Ohr mutiert zum Zielfernrohr, weil das Auge nur noch Schemen sieht. Wer Freund und wer Feind ist, wird plötzlich ungewiss. Man schießt ins Dunkel... Erst im Morgengrauen klären sich die Fronten. Manchmal liegen Deutsche und Franzosen friedlich nebeneinander, im Tod vereint und nur durch die Farbe ihrer Uniformen zu unterscheiden.
August Macke richtet sich auf und lässt seine Blicke über das Ruinenfeld schweifen. Aus den verkohlten Überresten von Menschen, Tieren und Häusern dringt beißender Qualm.
„Und was machen wir mit den toten Franzosen?“
„Gar nichts, Herr Feldwebel!“
August lächelt müde. Seine braunen Haare hängen ihm schweißverklebt in die Stirn.
„Die Frage ging eigentlich an mich selbst, Schrader... Aber Sie haben Recht. Es sind zu viele, und wir müssen weiter. Sollen sich die Belgier um sie kümmern!“
Aus der westlichen Himmelsrichtung hört man Geschützdonner. Im Westen liegt Frankreich, nur noch einen, höchstens zwei Tagesmärsche entfernt.
+ + +
Hagéville, 30 Kilometer vor Verdun.
Man hat sich eingerichtet. Die Feldartillerie, 150 Batterien, ist außer Gefecht, weil sie nicht benötigt wird. Verdun schießt seit drei Tagen nicht mehr. Alles steht in einem ungewissen Warten, das doch seinen Grund haben muss... Das ist das Schlimmste am Krieg. Das Warten. Auch die Tagesroutine kann die latente Spannung nicht mindern. Trotzdem gaukelt sie ein geordnetes Leben vor: Aufstehen! Ofen anheizen! Waschen! Kaffee kochen! Essen fassen! Antreten! Die Augen lllinks! Rühren! Tagesbefehl verlesen! Am Mittag dann die Postausgabe, falls nicht wieder einmal hunderte von Postsäcken verbrannt sind. Diesmal nicht:
„Ein Paket für Unteroffizier Marc!“
Der Angesprochene, groß und hager, erhebt sich, um die Sendung in Empfang zu nehmen.
Ein Paket... Wer dieses Wort fern der Heimat laut ausspricht, dem wenden sich in diesen Tagen sofort neugierige Blicke zu. Ein Paket, das heißt Tabak, Schnaps, Ellbogenwärmer, Hartwurst oder von der Liebsten selbst gehäkelte Socken für die ersten kalten Oktobernächte des Jahres 1914. Für Franz Marc heißt es diesmal: Schokolade. Ein Raunen geht durch die Reihen der Kameraden. Es gilt nicht nur dem Inhalt des Pakets, sondern auch seinem Herkunftsland: der Schweiz. Und seinem Absender: Fräulein Gabriele Münter.
„Glückwunsch, Marc! Ein treues Eheweib in Ried... und eine spendable Freundin in der Schweiz... das hätte ich auch gern!“
„Weiß denn die Maria von der Gabriele? Wir werden schweigen wie ein Grab – gegen ein paar Stücke Schokolade, versteht sich.“
Franz Marc nimmt den Spott der Kameraden gelassen hin. Natürlich wird er sie mit Kostproben der kostbaren Schweizer Schokolade versorgen... Da ist er großzügig. Ihn beschäftigt etwas ganz anderes, seit er auch von Kandinsky Post erhalten erhalten hat. Ebenfalls aus der Schweiz.
„Ein Land, das sich nicht im Krieg befindet“, murmelt er kopfschüttelnd. „Eigenartig.“
„Eigenartig?“ wiederholt sein Freund und Vorgesetzter Stephan. „Ich finde das eher beneidenswert! Nach allem, was wir bis jetzt durchgemacht haben! Oder hast du die Vogesenkämpfe schon vergessen?“
Marc zieht die Stirn über der vorspringenden Nase in tiefe Falten. Er muss an die Kameraden denken, denen die erbitterten Gefechte an den Bergflanken zum Verhängnis geworden sind.
„Natürlich nicht“, antwortet er nach einem Moment des Erinnerns.. „Aber trotzdem beneide ich die Schweizer nicht. Wenn ich mir vorstelle, ich säße jetzt untätig in Ried oder München oder in der Schweiz herum, während hier im Feld der große Kampf ausgefochten wird – ich käme mir unnütz und leer vor. Bevor der Krieg vorbei ist, möchte ich gar nicht heim.“
„Zur Zeit haben wir hier nicht einmal einen kleinen Kampf“, bemerkt Stephan nüchtern.
„Ich wünschte, es wäre anders. Das Warten wird uns doch allen unerträglich. Aber wenn die Einschließung Verduns gelingt, sind die französischen Frontlinien nicht mehr zu halten. Dann fällt endlich die Entscheidung. Und dann ist der Krieg noch vor Weihnachten vorbei.“
Feldwebel Stephan sagt dazu nichts. Er stopft sich bedächtig seine Pfeife, zündet den Tabak an und bläst große, weiße Ringe in die Luft.
Zwei Tage später bekommt Franz Marc schon wieder Post. Eine graue Feldpostkarte. Und wieder grinsen die Kameraden. Der Gruß ist nicht von Maria und auch nicht von Gabriele. Diesmal heißt die Absenderin Elisabeth. Elisabeth Macke aus Bonn, Bornheimer Straße. Lisbeth! Vor kurzem erst hat er sie zu Augusts Eisernem Kreuz beglückwünscht: Du musst stolz darauf sein, liebe Lisbeth! Hat sie den Glückwunsch an August weitergeleitet? Hat er ihr bereits darauf geantwortet?
Franz hört nicht auf die spöttischen Kommentare der Kameraden: Aller guten Frauen sind drei... Er dreht die Karte um. Er hält inne. Dann verlässt er wortlos die Stube, fast fluchtartig.
„Was ist denn in den Marc gefahren?“ wundert sich nicht nur Feldwebel Stephan.
+ + +
Da ist das amtliche Schreiben, ganz in Rot, lang erwartet, gefürchtet, unmissverständlich.
„Jetzt bist du also auch an der Reihe“, sagt Lily und wischt sich eine Träne aus dem Auge.
Paul Klee scheint sich mehr für die Farbe des Papiers als für seinen Inhalt zu interessieren.
„Was sie wohl mit dem Rot bezwecken? Ein Warnsignal? Du wirst jetzt einberufen. Dein Blut gehört von nun an nicht mehr dir selbst, sondern dem Vaterland und dem Schlachtfeld. Du darfst es dort freudig vergießen!“
Lily Klee mustert ihren Mann kopfschüttelnd. Ihr Paul. Wie er vor ihr steht, schmächtig, der Kinnbart schütter und zerzaust wirkend, die dunklen Augen auf den unsäglichen roten Zettel gerichtet.
„Paul, rede nicht einen solchen Unsinn. Immerhin bist du schon 35. Da wird man dir einen ruhigen Posten auf der Schreibstube verschaffen.“
Paul Klee lächelt sarkastisch.
„Und neben dem Schreibtisch steht eine schöne Staffelei nebst den zugehörigen Malutensilien.“ Er ergreift Lilys Hand und drückt sie ganz fest. „Ach Lily, wenn es denn so wäre... Doch ich fürchte, wenn sie jetzt schon meinen Jahrgang einziehen, dann brauchen sie in Frankreich wirklich jeden Mann. Die Verluste sind einfach zu groß! Erinnerst du dich, wie sich Franz Marc bei seinem letzten Fronturlaub gewundert hat, mich noch in Zivil zu sehen? Aber diese Zeiten sind nun vorbei. Das nächste Mal wird er sich nicht mehr wundern!“
Lily wendet sich ab. In diesem Moment hat sie die gleichen Bilder vor Augen wie ihr Mann: Gebeugte einbeinige Gestalten, die unbeholfen auf Krücken über das Münchner Straßenpflaster humpeln. Männer mit turbanartigen Kopfverbänden und schwarzen Augenklappen. Mit jedem Zug, der von der Front zurück kommt, scheinen sie sich zu vermehren. Sie bevölkern Parks und auch Cafés, sofern das Geld reicht. Sie sind nicht mehr zu übersehen. Manche verstecken sich schamhaft bei ihren fassungslosen Familien.
Das rote Blatt Papier, das alles verändert. Sie lassen es auf der Kommode neben dem Garderobenständer liegen.
An diesem Abend findet Paul Klee lange nicht ins Bett. Zu viele Bilder gehen ihm durch den Kopf, eigene und fremde, furchteinflößende. Scheinbar planlos räumt er die Schubladen mit seinen Utensilien aus und stapelt sie zu hohen Türmen aufeinander. Sieht so Ordnung machen aus? Und wenn ja – warum eigentlich? Sieht so Abschied nehmen aus? Oder geht es nur um Ablenkung?
Als Klee einen der Türme mit dem Ellbogen zum Einsturz bringt, wacht Lily auf.
„Komm ins Bett, Paul“, murmelt sie schlaftrunken.
Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, als hätte er soeben Schwerstarbeit geleistet.
„Ich komme“, sagt er. Nur noch schnell den Schweiß von Stirn und Händen waschen und leise, leise zurück ins Schlafzimmer gehen. Lily ist schon wieder eingeschlafen.
Paul legt sich neben sie und verkriecht sich bis zum Kopf unter seiner Bettdecke. Schutz suchen. Ruhe finden.
Er schreckt auf. Die Türklingel läutet, aber nicht kurz und rücksichtsvoll, sondern lang und durchdringend. Paul Klee schaut auf die Uhr. Es ist kurz vor Mitternacht.