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2. Carmen

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Ein Sommerabend im Tannenbusch, dem großen Exerzierplatz im Norden der Stadt, auf dem sich keine einzige Tanne befindet. Dafür wird er von hochgewachsenen Pappeln eingerahmt, die noch auf Napoleon zurückgehen. Die Neuzeit hat dem Gelände eine weitere Begrenzung gebracht: den Bahndamm. Immer wieder poltern auf seinen Gleisen funkenspeiende Lokomotiven vorüber und ziehen dabei lange, weiße Dampfwolken hinter sich her.

August liegt im Gras unter den Bäumen, schaut den Zügen nach und sieht zu, wie sich hinter ihnen die Wolken in der Glut des Abendhimmels langsam auflösen. Erst hatte der weiße Nebel, der aus dem Schornstein gequollen ist, den Horizont verhüllt und seine leuchtenden Farben ausgelöscht. Doch je dünner die Dampfschwaden werden, desto stärker gewinnt das Licht wieder die Oberhand: Es kündigt sich an als ein zartes Blau, zu dem sich allmählich violette Töne gesellen, die schließlich dem flammenden Rot des Firmaments Platz machen.

August kaut an einem Grashalm. Er schmeckt nach Sommer. Es riecht nach Sommer. Sommerlicht. Sommerwärme. Die Arme im Nacken verschränken. Hochschauen, dorthin, wo die Welt zuende ist. Die Farben eines Sommerhimmels, der nicht dunkel werden will, rieseln auf ihn herab wie Sternschnuppen. Ist er glücklich?

Er lächelt, weil ihm das Mädchen eingefallen ist, das ihm täglich auf dem Schulweg begegnet. Ihre schwarzen Haare hat sie im Nacken locker zusammengesteckt. Sie kann nicht viel jünger sein als er; vielleicht ist sie fünfzehn. Sie scheint die Töchterschule zu besuchen. Jedenfalls geht sie morgens in ihre Richtung und kommt mittags von dort zurück.

Das Mädchen irritiert ihn. Es weicht seinem Blick nicht aus, wenn es an ihm vorbeigeht. Im Gegenteil: freundlich, mit einer Spur von Neugier, schaut es ihm ins Gesicht und hält seinem Blick stand. Das ist ungewöhnlich. Und wenn es manchmal sogar lächelt bei der Begegnung, dann deswegen, weil es ihrerseits in zwei aufmerksame braune Augen schaut, die unter der Krempe eines schwarzen Schlapphuts hervorleuchten. Einen Packen Bücher unter dem Arm, den Kopf leicht zur Seite geneigt - so, wie er auch seine Bilder betrachtet - geht er an dem Mädchen vorbei. Bald weiß jeder vom andern, in welchem Haus er wohnt, obwohl noch kein einziges Wort zwischen ihnen gefallen ist.

Lisbeth verschwindet im Haus der Fabrikantenfamilie Gerhardt, während August noch ein paar Schritte weiter geht, vorbei am alten Friedhof, bevor er sein Domizil in der Meckenheimer Straße erreicht. Zwar ist das Haus geräumig, aber die meisten Zimmer sind vermietet. Augusts Vater ist in Bonn nicht mehr Glück beschieden als in Köln. Seit die Baufirma, an der er beteiligt war, bankrott ist, hält seine Frau die Familie durch Pensionsgäste über Wasser: eine bunte Mischung aus Studenten, Dozenten, Künstlern und Gymnasiasten, die das Mackesche Haus bevölkert; jung an Jahren, klamm an Geld, strotzend vor Kraft, Ideen und Zeit; Tischgespräche und Diskussionen bis in die Nacht. Trotz aller äußeren Knappheit, spürt August, ein reiches Leben. Ist er glücklich?

Er seufzt, reibt sich die Augen und sieht dem entschwindenden Tag hinterher. Lisbeth und leuchtender Himmel. Die Farben des Glücks, die sich wie ein Regenbogen in der Dunkelheit verlieren; in einem Abgrund voller Melancholie.

August steht auf und schüttelt den Staub von seinen Kleidern. Langsam schlendert er heimwärts. Der Weg führt immer am Bahndamm entlang. Auf der anderen Seite dehnen sich Kornfelder, die langsam in die Vorstadt übergehen. Von weitem grüßt der Turm der Marienkirche.

Ein Zug rast ihm entgegen, hell erleuchtet und bedrohlich zugleich, wie ein riesiges Ungeheuer.


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Unterprima. Primzahlen. Perikles. Eichendorff. MörikeMoltke. Sedan-Tag. Heil Dir im Siegerkranz. Die Rohstoffe Belgisch Kongos und Kameruns. August gähnt. Es gibt nur wenige Unterrichtsfächer, die ihn nicht langweilen. Dafür mag er Trigonometrie und Gleichungen mit mindestens einer Unbekannten. Oder Schultheater. Er malt die Kulissen, sorgt dafür, dass es klassisch zugeht und lässt sich deshalb von den Hausaufgaben freistellen. Kein Mittelhochdeutsch, keine Konjugationen, Kaiser und Könige. Immerhin Antike, wenn er mit seinen Kameraden nachmittags in den Rheinauen griechische Kampfspiele probt: Speerwerfen, Bogenschießen, Baden. Nackt. Natur. Und während sich die Jungen im Gras austoben, sitzt August an einen Baumstamm gelehnt, mit seinem Zeichenblock auf den angezogenen Knien und einem Bleistift in der Hand. Nur wenige Striche, und schon laufen kraftvolle, nackte Jünglinge durch die saftigen Auen an Rhein und Sieg, schlagen olympische Schlachten; unschuldig, voller Hoffnung, voller Zukunft in diesem Sommer des Jahres 1903.


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Lieber Hans,

ich habe ein Glück, das ist unglaublich. Ich kann Dir das alles nicht beschreiben, muss also lakonisch reden. Ich habe ein Weib gesehen, schwarzhaarig, wie eine rassige Zigeunerin. Oder wie die Carmen aus der Oper. Sie geht auf die Töchterschule. Ihrem Bruder (Oberprima) habe ich gesagt, er hätte ein fabelhaft interessantes Gesicht. Und, Du wirst es kaum glauben: er ließ sich von mir zuhause zeichnen. So habe ich mich in ihre Familie geschlichen, übrigens eine der ersten in Bonn. Und jetzt halt' Dich fest: ich soll besagtes Weib in den Ferien malen...!

August legt den Pinsel zur Seite, mit dem er geschrieben hat, weil sein Füllhalter unauffindbar ist. Dann lehnt er sich in seinem Stuhl zurück und lässt die letzten Tage und Wochen Revue passieren.


"Heute um drei kommt ein Unterprimaner zu Besuch“, sagt Walter Gerhard beiläufig beim Mittagessen. "Ich habe ihn über meinen Freund Vincenz kennengelernt. Er will mich malen. Ich sähe so interessant aus."

"Wie bitte?" Lisbeth schaut ihren Bruder entgeistert an. Fast wäre ihr der Suppenlöffel aus der Hand gerutscht. Sie weiß sofort, wer gemeint ist. Sie verschluckt sich.

"Fehlt Dir was, Schwesterlein?"

"Nein, schon gut."

Und während seiner Schwester das Herz bis zum Halse klopft, erzählt Walter weitere Belanglosigkeiten von seinem Schultag.


Bis zur dritten Nachmittagsstunde kann Lisbeth keinen klaren Gedanken fassen, läuft in ihrem Zimmer umher, setzt sich, will etwas lesen, steht wieder auf, bis es endlich klingelt. Schritte poltern durchs Treppenhaus, an ihrer Tür vorbei, nach oben, dorthin, wo Walters Zimmer ist. Sie horcht. Sie hört Stimmen. Sie hört Lachen und erinnert sich nicht, je soviel unbefangenes Gelächter gehört zu haben wie an diesem Tag.

Die Stunden vergehen. Lisbeth kommt nicht zur Ruhe. Sie singt. Hört sie denn niemand? Hört er sie nicht? Im nächsten Moment schon kommt sie sich albern vor und bricht mitten im Lied ab.

Endlich, es wird schon Abend, hört sie wieder Schritte und Stimmen im Treppenhaus. Schnell schlüpft sie aus der Tür in den Flur und prüft, ob die Bilder an der Wand noch gerade hängen... der Läufer auf dem Fußboden keine Wellen wirft... und schon kommen die beiden Primaner die Treppe hinunter. August ohne Schlapphut (der hängt an der Garderobe).... sie erkennt ihn kaum wieder... aber die Augen.... sein Blick.... ihr Blick. Sie merkt, wie sie errötet und hofft, dass es in der trüben Flurbeleuchtung unbemerkt bleibt.

August nickt ihr zu und sieht sie dabei offen und ungeniert an. Sie nickt ihm zu und ist froh, als er mit ihrem Bruder im Wohnzimmer verschwunden ist. Sie ist fünfzehn. Sie atmet tief durch.

"Möchten Sie mich Ihrer Schwester nicht vorstellen?" hört Lisbeth den Besucher fragen.

"Aber selbstverständlich", antwortet Walter nichtsahnend und macht August mit Lisbeth offiziell bekannt. Ein kurzer Händedruck, eine leichte Verbeugung, und das vorgeschriebene "Sie".

Seit diesem Tag grüßen sie sich auf ihrem Schulweg, wobei August jedes Mal formvollendet seinen Hut zieht.


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Eine der unergiebigsten Sitzungen der modernen Portraitmalerei, bezogen auf das Verhältnis zwischen Zeitaufwand und künstlerischem Resultat, hat am Anfang des Jahres 1904 im Hause des Glas- und Laborwarenfabrikanten Carl Gerhardt in Bonn stattgefunden. Eine magere, wenn auch Talent verheißende Kohleskizze eines jungen Mädchens ist das sichtbare Ergebnis gewesen. Das Unsichtbare geht tiefer...


Sie haben pausenlos miteinander geredet: der Maler und sein Modell.

Das, was sich seit einem Jahr hinter leuchtenden Augen, Lächeln, Kopfnicken und anderen kleinen Gesten angestaut hat, versucht sich nun in Worte zu fassen und bricht wie ein Wasserfall über Lisbeth und August herein. Ihre anfängliche Verlegenheit umschiffen sie mit unverfänglichen Plaudereien über die Kunst im Allgemeinen und die Kunst im Besonderen. So landen sie bei dem Maler Böcklin: Die Toteninsel... Die Pest... Kentaurenkampf... Heiliger Hain...

"Woher kennen Sie den 'Kentaurenkampf`'?"

"Woher kennen Sie den 'Heiligen Hain'?"

Sie lächeln sich an. August legt den Kohlestift weg.

"Dann waren wir beide im Basler Kunstmuseum, ohne voneinander zu wissen?"

"Ohne voneinander zu wissen", wiederholt Lisbeth. Und fügt stolz hinzu:

"Ich war übrigens vor Ihnen da. Wir haben nämlich Freunde in der Schweiz, die wir hin und wieder besuchen."

"Und welches Bild von Böcklin hat Sie, wenn ich fragen darf, am meisten beeindruckt?"

Lisbeth zögert. Zuerst einmal ist sie geschmeichelt, von ihrem Besucher so höflich um ihre Meinung gefragt zu werden. Immerhin ist er ein Jahr älter und wird vielleicht eines Tages ein berühmter Maler sein...

"Sie dürfen", antwortet sie, um Zeit zu gewinnen. Ein gelehrter Disput über Böcklin ist das Letzte, was sie sich in diesem Augenblick wünscht. Sie findet den Ausweg:

"Eigentlich haben mich alle seine Bilder beeindruckt. Aber auch ein klein wenig traurig gestimmt."

Ein melancholischer Schatten huscht über Augusts offenes, rundes Gesicht.

"Ja, das ging mir wie Ihnen. Aber faszinierend finde ich immer noch die klaren Formen und kräftigen Farben, die er verwendet hat. Als wollte er so die Geister der Natur auf die Leinwand bannen... Und wie haben Ihnen in Basel die Holbeine... äh.... Holbein-Gemälde gefal...?"

Sie lachen. Im Gespräch, einander gegenüber sitzend, im Hin und Her plätschern sie von Holbein zu Thoma, von Thoma zu Holbein, den sie überholt finden, und weiter nach Süden zu Michelangelo und wieder zurück zu Böcklin. In Wirklichkeit geht die Reise von ihr zu ihm und von ihm zu ihr. Manchmal macht August einige schwarze Kohlestriche auf seinen Malkarton und versucht dann ganz ernst und konzentriert auszusehen. Wie soll er auch ein Mädchen porträtieren, das ihn aus großen, braunen, lachenden Augen anschaut?

Aber der Tag ist lang. Böcklin hat den Bann gebrochen. Dahinter drängt die Natur, aus ihnen heraus und in sie hinein, drängt die Sehnsucht, noch unbestimmt; drängen ihre klopfenden Herzen. Zwei Herzen öffnen sich einander und lassen ihre Ungeduld in aller Unschuld zusammen fließen. Sie sind ein Paar. Es kümmert sie nicht, dass sie auch ein Gesprächsthema werden, weil sie von nun an ein Stück ihres Schulweges gemeinsam gehen.


+ + +

Das Paradies beginnt dort, wo die Himmel sich öffnen.

Sie öffnen sich über den sanften Linien des Kreuzberges, den mohngesprenkelten Feldern am Tannenbusch und den flachen, weiten Ufern, die hinter Grau-Rheindorf den großen Strom auf seinem Weg zum Meer begleiten.

Dort, wo der Blick schweifen kann, sind August und Lisbeth zuhause. Man sieht sie im Hofgarten, wenn Lisbeth die erste und zweite Schulstunde schwänzt, und im verschwiegenen Meßdorf oder anderswo, wenn die dritte und vierte Stunde geopfert wird. Trotzdem lernt sie dazu:

"Meine kleine Carmen", sagt August. Er bleibt mitten auf einem Feldweg stehen, "ich sehe was, was Sie nicht sehen."

"Und das wäre?"

"Carabis violaceus."

"Wie bitte?"

"Carabis violaceus."

Sie legt die Stirn in Falten. Sie grübelt. Sie kennt ihren Freund und seine Einfälle. Carabis... Latein? Griechische Sagenwelt? Ein Gott, den August gerade eben erfunden hat und von dem sie nichts weiß? Er lässt sich nichts anmerken. Er starrt auf den staubigen Boden; dorthin, wo sich ein kleines, dunkles Tier bewegt. Es schleppt eine Raupe mit sich.

"Carabis violaceus. Der violette Laufkäfer", sagt August schließlich und lacht seine Carmen an. Sie ist tausendmal schöner als die schwarzhaarige Carmen in der Oper...

Er deutet nach oben:

"Hören Sie den Jubel in der Luft? Der Gesang der Feldlerche... nicht zu verwechseln."

"Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Erzählen Sie mir noch mehr!"

August lässt sich nicht lange bitten. Während sie durch die Felder streifen, entdeckt er eine Blattschneiderbiene, die sich an einer Heckenrose zu schaffen macht, eine winzige Tapezierspinne und einen grünschillernden Moschusbock. Er nimmt den Käfer auf die Hand, sagt "Aromia moschata", und beide blicken sie fasziniert auf die überlangen Fühler des geheimnisvollen Tieres, die wie ein Geweih von seinem Kopf abstehen.

"Früher hat man Moschusböcke benutzt, um Pfeifentabak zu parfümieren."

Lisbeth verzieht das Gesicht. Ihre Blicke wandern zwischen dem reglos dasitzenden, unirdisch bizarr aussehenden Käfer und Augusts Gesicht hin und her. Wie er sich in Begeisterung geredet hat über das kleine grüne Fabelwesen in seiner Hand... Wie seine Augen dabei glänzen und der Atem schneller geht, als ginge es um die wichtigste Sache der Welt... Mit welcher Zärtlichkeit, Freude und Melancholie er sich mit diesem Stückchen Natur beschäftigt...

Und als sie weitergehen und der Wind in den Feldrainen des Tannenbuschs singt und raschelt, erzählt er von geheimnisvollen Kobolden und sie von anmutigen Elfen, die in den Tiefen der Natur wohnen und sie beflügeln und beleben - Wesen aus Licht, Leichtigkeit... und Freude.

Sie fassen sich an den Händen und tanzen und träumen Sommernachtsträume.

"Ach, wenn man das alles einmal malen könnte", seufzt August und dreht sich im Kreis. Dabei hat er bereits damit angefangen. Ein Bild zeigt den Bahndamm am Tannenbusch: Ein Zug fährt vorbei; an seiner Spitze ein schwarzes, stählernes Ungetüm unter weißem Rauch. Darüber wölbt sich ein unvergleichlicher Abendhimmel; voller Wärme, voller Farbe, voller Sehnsucht, voller Zukunft.

Er ist jetzt siebzehn Jahre alt.


+ + +


Das Zittern, Brodeln und Leuchten der Natur wird im Gymnasium zu: Ordnung, Familie, Gattung, Spezies, Bauplan. Das Sonnenlicht löst sich auf in Spektrallinien. Aus Kobolden werden Vokabeln. Das, was August braucht, fehlt. Er spürt es von Tag zu Tag deutlicher.

Immer lustloser sitzt er seine Stunden ab, schaut aus dem Fenster oder kritzelt etwas auf seinen allgegenwärtigen Skizzenblock. Das einzige, was ihn an der Schule noch reizt, sind die Kameraden, mit denen er sich nachmittags zur Hausaufgabenbörse trifft; Lothar Erdmann etwa oder Lisbeths Bruder, dem er viel verdankt und der schon in Abiturvorbereitungen steckt.

Staubige Bücher, staubige Professoren, stickige Luft. Tafeln, die beschrieben und gesäubert, Wandkarten, die aus- und eingerollt werden. August leidet. Seine Unruhe wächst, wenn er an die Zeit denkt, die er verliert. Wenn die Frühlingssonne ins Klassenzimmer scheint, stellt er sich vor, die Bauern bei der Aussaat zu malen und im Herbst bei der Ernte (auch wenn gerade der Wiener Kongress besprochen wird). Sogar im Winter zieht es ihn aus grauer Städte Mauern hinaus in die Natur, weg von Kathedern und Koeffizienten - dorthin, wo das Licht, wo das Leben wartet.


An einem Märztag trifft er sich mit Lisbeth und geht mit ihr durch Felder, die über Nacht vom Schnee zugedeckt worden sind, bis nach Meßdorf. Klaglos schleppt er seine Staffelei, den großen Malkasten samt Zubehör sowie einen Klappstuhl mit sich. Voll freudiger Erwartung schreitet er aus, so dass Lisbeth Mühe hat, mitzukommen.

"Bitteschön, gnädiges Fräulein", sagt er galant, als sie die Stadt hinter sich gelassen haben. Er stellt den Stuhl in den Schnee und bietet Lisbeth mit einladender Handbewegung den einzigen Sitzplatz an. So kann sie ihn in Ruhe beobachten, wie er im dicken Wintermantel an der Staffelei steht und in seinen behandschuhten Fingern einen zerbrechlichen Pinsel hält, der ganz feine Linien und ganz zarte Pastelltöne auf die Leinwand zaubert.

Die Sonne kommt durch und hüllt die Landschaft in einen silbrigen Lichtschein, der schon den Frühling ahnen lässt. Ein Bauer arbeitet mit Pferd und Pflug auf dem Feld, das vor ihnen liegt. Das scharfe, glänzende Metall reißt dunkle Furchen in die weiße Schneedecke.

"Wie ein Zebra", sagt Lisbeth, während August unverdrossen mit klammen Fingern malt. Es scheint eine seltsame Verständigung zu geben zwischen dem Mann auf dem Feld und dem Mann an der Staffelei. Die Linien, die der eine zieht, zieht auch der andere. Die schweren Schritte des Pferdes verwandeln sich in die Bewegung dünner, flüchtiger Bleistiftstriche, die später dem farbgetränkten Pinsel Halt und Orientierung verleihen werden.

Lisbeth hält es auf ihrem Stuhl nicht lange aus. Als das Bild in seinen Grundzügen fertig ist - "den Rest mache ich zuhause!" - stehen zwei junge Menschen, Freund und Freundin, ganz eng nebeneinander und haben vor Eifer und Kälte rote Wangen bekommen. Der Bauer ist weg. Das Feld ist leer bis auf die Furchen, die der Pflug hinterlassen hat. Die Sonne ist wieder im Dunst verschwunden und die Landschaft in eintöniges Grau getaucht. Aber von der Leinwand leuchtet ihnen das silbrige Licht, das gar nicht mehr da ist, entgegen wie aus einem Spiegel.


Später sitzen sie in einem kleinen Wirtshaus und genießen die Rotglut des Kanonenofens, der neben ihrem Tisch steht. Sie haben ihre dicken Mäntel ausgezogen, die Handschuhe auch, reiben ihre rotgefrorenen Finger, essen Eierkuchen mit Schinken und trinken dazu Kaffee und Glühwein. Immer, wenn August den Arm um Lisbeths Schulter legen will, kommt der Dackel des Wirts angelaufen, fletscht drohend die Zähne und bellt laut.

"Ein Anstandswauwau", sagt August und nimmt den Arm gehorsam wieder herunter. "Aber ich werde ihn in Versuchung führen."

Der Arm findet wieder die richtige Schulter und der Hund kläfft drohend. Aber nun wirft August ihm nach und nach alle Zuckerstückchen zu, die eigentlich für die Kaffeegäste der nächsten Tage bestimmt sind. Das Kläffen wird zum Knurren, das Zähnefletschen zum Zuckerlecken...

August lächelt zufrieden und rückt noch näher an Lisbeth heran..

"Ostern ist Schluss", sagt er.

Lisbeth weiß sofort, was er damit meint:

"Sie haben es also geschafft? Ihr Vater hat wirklich eingewilligt?"

August holt tief Luft.

"Ja. Ich habe selbst nicht mehr daran geglaubt. Ein Freund meines Vaters hat den Ausschlag gegeben. Er war kürzlich zu Besuch und hat meine Arbeiten gesehen. Und sie gleich einem Professor gezeigt. Der war so angetan, dass er meinem Vater gesagt hat: 'Schicken Sie den Jungen auf die Kunstakademie! Und zwar bald! Dort ist er richtig aufgehoben!'

Da konnte er nicht länger 'nein' sagen. Aber am liebsten wäre es ihm immer noch, wenn ich auf dem Gymnasium bliebe, Abitur machen und was Anständiges studieren würde. Aber doch nicht Malerei..."

August hat Lisbeths Hand genommen. Sie schaut ihn an. Sie weiß, worum es geht. Er genehmigt sich ein großes Stück Eierkuchen.

"Wo?"

"Düsseldorf", sagt August mit vollem Mund. In diesem Moment vermeidet er, Lisbeth anzusehen. Er guckt lieber auf die Eierkuchen, auf denen kleine Schinkenstückchen wie Eisschollen liegen. Sie wissen beide, dass Düsseldorf Abschied bedeutet. Er kann es sich nicht leisten, ständig nach Bonn zu fahren. Er zieht sie ganz nah an sich heran und spürt den Widerstand, den er dabei überwinden muss. Lisbeth sagt nichts. Der Hund knurrt wieder. Neben der Eingangstür zur Gaststube lehnt ein Bild, dessen silbrige Farben langsam eintrocknen.


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Es ist Frühling. Es ist Sommer.

Am 1. Oktober geht es nach Düsseldorf. Ein halbes Jahr, zwischen Ostern und Herbst, in dem August die Freiheit des Flanierens und Skizzierens in vollen Zügen genießt. Ein halbes Jahr Zeit zum Abschiednehmen.

Er besucht Lisbeth fast täglich, mit der gleichen Begründung wie beim ersten Mal: Malen. Und diesmal nicht mit Kohle, sondern, ganz erwachsen, in Öl. Das dauert länger, viele Nachmittage, und jeder Mensch, auch Mutter Gerhardt, muss dafür Verständnis haben. Oft ist es draußen schon dunkel, wenn die Sitzung zuende ist. Unten, vor der Haustür, geht sie noch weiter. Man hört Raunen, Kichern, helles Lachen, dunkles Lachen - und dann wieder zwei Stimmen, die ganz leise und vertraut zueinander sprechen und die Zukunft dabei ängstlich ausklammern. Wenn er geht, schaut sie ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hat.

Eines Abends verstummen ihre Stimmen plötzlich. August hat Lisbeths Kopf ganz zärtlich in seine großen Hände genommen und küsst sie auf den Mund. Ein Zug rattert durch das Stahlgewölbe der Viktoriabrücke. Er gewinnt an Geschwindigkeit. Deutlich hört man das Zischen und Fauchen der Lokomotive. Gleich wird er den Bahndamm am Tannenbusch erreichen und später Köln und noch später vielleicht Düsseldorf...

"Ich hätte Sie auch schon so gerne einmal geküsst", flüstert Lisbeth, als sie aus der Umarmung aufwacht. Sie ist froh über die Dunkelheit, weil sie merkt, wie ihr die Röte ins Gesicht geschossen ist.

Nachdem sie sich geküsst haben, sagen sie 'Du' zueinander. Sie achten die Reihenfolge. Sie wissen, was sich gehört. August hat das Gefühl, auf einer Wolke nach Hause zu schweben. Lisbeth steht noch lange an ihrem Fenster und schaut hinaus in die Sommernacht.


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Ich wandle unter Bäumen, ich wandle in der Stadt

Und durch das stille Träumen wurde das Auge matt.

Der einzig süße Schrecken, der meine holde Muse

Kann aus den Träumen wecken, ist Deine rote Bluse.

A.M.

Am Fuß der Godesburg hat sich eine Schulklasse ins Gras gelagert; schwatzend, kichernd, malend. Den Drachenfels haben sie schon gezeichnet und seine Legende gehört. Nun ist die Godesburg dran; und, wer weiß, welche romantischen Gemäuer noch auf die mäßig interessierten Elftklässlerinnen warten... Eine von ihnen ist Lisbeth. Sie trägt eine knallrote Bluse. Sie weiß nicht, dass sie beobachtet wird.

Hoch oben auf dem Turm steht ein stattlicher Ritter mit braunen Haaren und verträumten Augen und hält Ausschau nach dem Burgfräulein. Der rote Punkt im grünen Gras verrät sie...

Als sie sich später treffen, überreicht er ihr das Gedicht.

"Weil ich das Rot so sehr mag an Dir, meine kleine -"

"Carmen?"

Manchmal schwänzt sie sogar den Zeichenunterricht, weil sie diese letzten Wochen mit August bis zur Neige genießen will. Die Kunstlehrerin hat kein Verständnis dafür. Sie möchte Zeichnungen sehen. Irgendwann wundert sie sich darüber, dass ausgerechnet die Schülerin, die am häufigsten fehlt, nicht nur die meisten, sondern auch die besten Arbeiten abliefert. In dem Fräulein Gerhardt scheinen Talente zu schlummern...


Die letzten Wochen werden eingeleitet durch Kartoffelfeuer, die nun überall auf den abgeernteten Feldern brennen. Lisbeth und August gehen manchmal stundenlang nebeneinander her, ohne dass er ein einziges Wort sagt. Lisbeth spürt, wie er leidet: am Absterben der Natur, am Abschied von ihr, am Abschied von seinem Vater, der schwerkrank im Bett liegt. Ein winziger abgestorbener Halm schon genügt, ihn zur Verzweiflung zu bringen - als ahne er etwas von der Tiefe, die dahinter beginnt. Aber wenn sie nach einer solchen Wanderung wieder in einem Wirtshaus einkehren und Freunde treffen, ist August wie umgewandelt: seine Bassstimme dröhnt durch das Lokal, sein Humor entzündet Lachsalven, die Freunde klopfen ihm auf die Schultern und er ihnen... Lisbeth schaut ihn dann von der Seite an, schweigend, nur ein ganz kurzer Blick, fragend, wissend.

Abends, auf dem Heimweg in der frühen Dämmerung, brechen sie ihr Schweigen.

"Ich werde dir oft schreiben aus Düsseldorf, Lisbeth."

"Du sollst mir nicht schreiben."

"Warum?"

"Verstehst du das nicht? Ich möchte dich so haben, wie du jetzt bist... und dich auch so in der Erinnerung behalten. Ein August Macke passt nicht auf vergilbtes Briefpapier. Und auch in kein Kuvert."

Sie lachen. Sie laufen am Bahndamm unter hohen, windzerzausten Pappeln entlang. August hat den Arm um ihre Schulter gelegt, ganz fest, und zieht sie an sich heran. Diesmal spürt er keinen Widerstand.

"Wahrscheinlich hast du recht. Nachher artet die Schreiberei in Floskeln aus und wir werden uns immer fremder dabei. Nachher siezen wir uns gar wieder? Aber eine ganz offizielle Postkarte ... um dem Fräulein Gerhardt alle vier Wochen meinen Besuch in Bonn anzukündigen ... ist das erlaubt? Als Lebenszeichen sozusagen?"

"Genehmigt."

"Dann könnten wir uns am Sonntagvormittag sehen..."

Lisbeth nickt stumm und versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Alle vier Wochen für ein paar Stunden? Würde sie das einander noch mehr entfremden als förmliche Briefe? Sie behält ihre Gedanken für sich.

Ein Händedruck, ein Kuss, eine lange Umarmung. Sie verabschieden sich dort, wo sie sich immer verabschiedet haben. Der Zug unter der Viktoriabrücke... August eilt weiter, zum nächsten Abschied.

Ein Sohn sitzt am Sterbebett seines Vaters, den Zeichenblock auf den Knien. Das Porträt eines leidenden Menschen, vom Tode gezeichnet, ist sein letztes Bild, bevor er Bonn verlässt.

Blaue Reiter vor Verdun

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