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3. Alte Krieger

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Kopf eines griechischen Jünglings: Gips. Spinnweben. Zeichnen!

Pferd eines etruskischen Kriegers: Gips. Spinnweben. Zeichnen!

Ein Totenschädel. Staub. Zeichnen. Torso einer Venus. Gips! Zeichnen! Venus... August denkt voller Sehnsucht an Lisbeth, während um ihn herum würdige Kommilitonen in Vatermördern ihre Bleistifte und Kohlestücke über geduldiges Papier kratzen. Was sie in einer Woche schaffen, schafft er an einem Tag. Er spürt ihr Misstrauen, wenn sie an seinem Zeichentisch vorbeigehen und aus den Augenwinkeln, möglichst unauffällig, nach seinen Arbeiten schielen.

August ist fassungslos. Soll d a s sein großer künstlerischer Aufbruch sein, für den er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat? Oder ist er etwa vom Regen in die Traufe geraten? Am Bonner Realgymnasium waren die meisten Professoren zwar genauso verknöchert wie hier, die Kameraden dafür aber um so lebendiger... Und nun drei Jahre lang Spinnweben von Gipsglatzen wischen, bis für ihn die Tür zur Malklasse, zur Farbe, aufgeht? Was tun?

Rauchen! Trinken! Feiern! Wenigstens hierfür findet August Gleichgesinnte. Sie heißen Katt und Kropp und Bull und später auch Cito. Sie sind trinkfest und fest davon überzeugt, dass das Leben nicht nur aus Zeichnen besteht. Frauen, Fräuleins und feuchtfröhliche Abende in abgedunkelten Ateliersälen. Statt dem Rausch der Farben erleben sie den Rausch des Weines. Auf dem lautstarken Heimweg von einem solchen Fest erklettert August in der Alleestraße das friedlich vor sich hin schlummernde Moltke-Denkmal. Er gibt nicht auf, bis er auf gleicher Höhe mit dem Generalfeldmarschall steht. Ein neues Denkmal ist entstanden. Schiller und Goethe? Macke und Moltke. Der große Stratege. Der Mann, der den Frankreichfeldzug gewann. Mit drei Armeen in die Flanke des Feindes. Sieg bei Sedan. Er spricht. Wer spricht?

Die ersten Fenster öffnen sich. Hinter raschelnden Gardinen erscheinen schlaftrunkene Gesichter. Sie werden hellwach, als sie das bewegte Denkmal sehen. Moltke lebt... Und wie er redet. Mit volltönender, abend- und straßenfüllender Bassstimme verkündet er die Kapitulation aller Krieger und Köpfe, die aus Gips bestehen.

Kopfschütteln an den Fenstern: hätte Moltke so etwas wirklich gesagt? Und dazu noch gelallt? Ist er jemals mitten im Satz steckengeblieben? Hätte er so je siegen können? Die Zweifel an den Fensterbrettern der Belle Etage wachsen. Und je mehr sich die Augen des Publikums an die Dunkelheit gewöhnen, desto besser erkennen sie den Mann neben Moltke. Macke. Seine Zuhörerschaft zu Füßen des Denkmals wächst von Minute zu Minute.

"Wenn man dem Gips wenigstens Leben einhauchen könnte... oder Farbe - " hier unterbricht sich der Redner wieder selbst und lallt und lauscht in sich hinein. Dann erhebt er die Stimme wieder und behauptet, dass die ganze Alleestraße von Kobolden und Fabelwesen bevölkert sei. Sein Bass zittert und dröhnt und verhallt über der mitternächtlichen Menschenmenge.

Der letzte Zuschauer, der die Szenerie betritt, schaut nicht nur zu, sondern bereitet dem Spektakel ein jähes Ende.

"Vorsicht, August! Ein Wachtmeister!"

Mühsam klettert August von seinem Sockel herunter, strauchelt auf dem letzten Meter und wäre fast in den Armen der Staatsgewalt gelandet. Die Erde hat ihn wieder.

Der Polizist bemüht sich aufrichtig, ein sehr strenges und dienstliches Gesicht zu machen. Er zückt einen Block, der, wie August trotz seiner Weinseligkeit bemerkt, kein Skizzenblock ist. Ein würdiger Herr im Morgenmantel, der mit einer Laterne von der Belle Etage auf die Straße geeilt ist, darf mit sichtlicher Genugtuung für die Beleuchtung sorgen. Das Verfahren beginnt.

Name?

Macke.

Vorname?

August.

Beruf?

Student.

Vergehen: Grober Unfug. Nächtliche Ruhestörung. Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Das Urteil: vier Reichsmark.

Die Freunde legen zusammen, weil August nicht genug in der Tasche hat.

"Dabei habe ich letztes Jahr in Bonn zwei Bilder zu je acht Mark verkauft! Wo ist das Geld nur geblieben...?"

"Das wissen wir auch nicht. Und nun schnell ins Bett, bevor es noch teurer wird!"

Man trollt sich, jeder in seine Richtung. Jetzt, als ihn niemand mehr sieht, entspannt sich die Miene des Wachtmeisters zu einem breiten Grinsen unter dem dicken Schnurrbart. Besser in Düsseldorf Dienst tun, wo es wenigstens lustige Studenten und Abwechslung gibt, als etwa in Neuß oder gar Kaiserswerth mit seinen Diakonissenhäusern... Eine Diakonisse auf dem Moltke-Denkmal – nein, das kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen.


Es wird still in der Alleestraße.

Die Studenten verschwinden als schwankende Gestalten. Die Bürger gehen ins Bett. Moltke bleibt allein zurück und kann auf seinem Sockel wieder ungestört von Krieg und Frieden träumen.


+ + +


Rotkäppchen.

Der Vorhang im Düsseldorfer Schauspielhaus hebt sich.

Ein kleines Mädchen mit Korb. Kuchen und Wein. Wolf und Großmutter. Nichts Neues.

Aber das Bühnenbild! So etwas gab es noch nie: Bauchige Pilze, so hoch, dass man ihren Hut kaum sieht. Dicke Baumstämme ohne Ende. Moospolster, aus denen der alles erdrückende Wald ins Uferlose wuchert. Ein Wald, der nur vier Farben erlaubt: Rot. Grau. Grün. Gelb. Sonst nichts. Blätter. Graue, bärtige Flechten. Blassgelbe Kringel aus Sonnenlicht. Rotschimmerndes Holz. Als wäre man mittendrin in dieser geheimnisvollen, bedrohlichen Welt.

Verwundertes Kopfschütteln. Kein romantischer, maßstabsgenauer Märchenwald mit allen Details vom Buchfink auf dem Ast bis zum Eichenblatt. Rot, gelb, grau, grün. Riesig. Ungewöhnlich. Neu. Tuscheln. Wer ist der Bühnenbildner? Ein Student, sagen Sie? Erst neunzehn Jahre alt? Sein Name? Ein gewisser August Macke...


Meine liebe Lisbeth,

... Du glaubst gar nicht, welche Freude ich daran habe, etwas ganz Neues auf die Bühne zu bringen. Das ganze Theater ist stillos wie es nie war. Die Pappdeckeldekorationen und die gemalten Kulissen, alles müsste verschwinden. Ich würde Stimmungen durch Vorhänge und Farben allein machen, ohne Nachahmung der Natur. Kunst ist nicht Natur. Ach, ich möchte Dir so vieles davon erzählen...

... Viele Grüße

Dein August

Nach dem Brief an Lisbeth geht es weiter mit Macbeth. Und Orestie. August verbringt im Theater mehr Zeit als in der Akademie. Die Luft vibriert. Man muss es nur spüren. Das Neue, das wächst und durchbrechen will, überall, ob auf der Bühne bei Louise Dumont und Gustav Lindemann oder im Drama mit Wilhelm Schmidtbonn, für den sich sogar Max Reinhardt interessiert. Dazu die durchbrechenden Reize temperamentvoller Schauspielerinnen und Tänzerinnen. Die Nächte sind kurz geworden in Düsseldorf. August bekommt Angebote jeglicher Art. Auch dieses:

Du solltest zu uns kommen, August.

Du kannst sofort anfangen.

Sagen wir... zehntausend im Jahr?

Er wiegt den Kopf hin und her.

Zwölf!

"Es klingt verlockend... aber ich kann mich noch nicht entscheiden. Mal sehen, was Lisbeth dazu meint."

Achtzehntausend!

„Wie bitte?“

Eigene Ateliers... Eigenverantwortlich arbeiten... Entwürfe machen... Dekorationen... Bühnenbilder... August Macke, künstlerischer Leiter des Düsseldorfer Schauspielhauses und anderer Bühnen! Eine Wohnung in der Belle Etage! Gleich vis à vis vom Moltke-Denkmal? Und kaum noch Gelegenheit, ein bezauberndes Mädchen an der Viktoriabrücke abzuholen?


Meine liebe Lisbeth,

am übernächsten Sonntag bin ich wieder in Bonn. Ich würde Dich gern am Vormittag abholen und mit Dir nach Messdorf gehen. Bis bald,

Dein August

Der Brief wird pünktlich überbracht von Vinzenz, der oft zwischen Düsseldorf und Bonn hin- und herpendelt und immerhin ein guter Freund von Lisbeths Bruder Walter ist. Sein Kurierdienst erspart den Eltern besorgtes Stirnrunzeln ob des Briefverkehrs zwischen zwei Liebenden, die das Schicksal getrennt hat ...


Mein lieber, lieber August,

Deine Nachricht liegt vor mir auf dem Tisch. Leider sind wir tagsüber eingeladen. Könntest Du nicht -

- und dann bricht der Text auf der Karte ab. Augenblicke später sind nur noch Fetzen von ihr übrig. Mit zwei, drei energischen Handgriffen hat Lisbeth das Korsett zerrissen, das sie ihrer Liebe angelegt hat. Ein Korsett aus Pappe, ganz eng und klein, damit nur wenige belanglose Worte darauf Platz haben. Wir wollen uns nicht schreiben. Punktum.

Und nun sitzt ein junges Mädchen so tief über seinen Schreibtisch gebeugt, dass ihm die dunklen Locken in die Stirn fallen. Das Licht in ihrem Zimmer will nicht ausgehen, obwohl der Nachtzug nach Köln schon lange die Viktoriabrücke passiert hat. Aus Lisbeths Feder fließt alles, was sie in den vergangenen Wochen und Monaten gefühlt und in sich zurück gehalten hat. Der Damm ist gebrochen. Als sie das Licht ausknipst, liegen sechzehn eng beschriebene Seiten vor ihr... Sie hat alles gesagt. Sie reißt beide Fensterflügel auf und atmet tief durch.

Am nächsten Tag bringt sie ein dickes Kuvert zur Post.


+ + +


Samstagabend, Beethovenhalle.

Es regnet in Strömen.

Umso trockener ist es drinnen, bei einem Vortrag der Dramatischen Vereinigung zu Bonn. Ein Muss für höhere Töchter. Lisbeth ist dabei, auch wenn sie andere Dinge im Kopf hat. Als sie endlich den Saal verlassen kann und ins Freie tritt, sieht sie August. Sie traut ihren Augen nicht. Er steht im Regen und wartet. Ungläubige Begrüßung, kurze Umarmung, weil man nicht allein ist... Er sieht blass aus. Und schmal im Gesicht. Und ernst.

"Bekommst du nicht genug zu essen in Düsseldorf? Soll ich dir etwas schicken?"

"Ach was", sagt er und grinst. "Ich sehe nur nass aus. Und du auch, wenn du nicht unter meinen Schirm kommst."

Er darf sie nach Hause begleiten. Er erzählt pausenlos. Von Gipsköpfen und Staubschädeln. Von den Abendkursen an der Kunstgewerbeschule, die er nebenher besucht und wo er alles darf, was er will: Modellieren! Lithographieren! Holzschneiden! Radieren! Lebendige Tiere zeichnen! Pflanzen! Akte! Ornamente!

"Ich kann mit Ton dichten, Lisbeth... und mit Farbe auch...!“

„Und dann willst du Bühnenbildner werden? Handwerker?“

„Künstlerischer Leiter“, protestiert August.

Lisbeth bleibt skeptisch. Sie schüttelt den Kopf.

"Es mag verlockend klingen, August, aber - du bist Maler. Kein Bühnenbildner und Dekorateur. Nicht für alles Geld der Welt."

Sie merkt, wie es in ihm arbeitet, obwohl er das Thema gewechselt hat.

Während sie Seite an Seite durch verregnete menschenleere Straßen wandern, erzählt August weiter von seinem Leben in Düsseldorf: Von dem Atelier, das er sich auf eigene Faust gemietet hat. Von der Farbe, die er sich eigens aus München hat kommen lassen. Von dem Mädchen mit grauem Hut, das ihm von der Leinwand auf seiner Staffelei zulächelt, und das verblüffende Ähnlichkeit mit dem Mädchen hat, welches neben ihm durch das abendliche Bonn läuft... Im Hintergrund die Felder von Meßdorf; gemeinsame Spaziergänge, ihre gemeinsame Zukunft...


Im strömenden Regen bleiben sie stehen. Ein Bild von Lisbeth, aus Erinnerungen geformt, und daneben ein Brief von ihr. Sechzehn Seiten an August. Sie haben sich eingeholt. Es gibt keinen Abschied. Er wird nicht in Düsseldorf bleiben. Sie werden klitschnass, weil August vor lauter Aufregung den Regenschirm schief hält. Sie merken es nicht. Sie merken nur, dass sie zusammengehören.

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