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5. Frühlings Erwachen

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Venedig! Verona! Bologna! Florenz!

Ein schiefer Turm, der nicht umfallen will. Zypressen und Zitronen; ein Hauch von Frühling, Goethe und Italienischer Reise. Ein Tagebuch, das aus lauter Skizzen besteht: Gondeln, Kuppeln, Lagunen und Menschen am Strand.


Meine liebe Lisbeth,

wir haben hier bis jetzt Tage erlebt, so wunderbar, wie sie Böcklin selbst nie gemalt hat. Es ist nur schade, dass wir so bald von diesem blauen Lande scheiden müssen...

Über diesen Abschied ist Lisbeth nicht traurig. Sie legt die Karte beiseite und denkt an den Abschied, der sie traurig gemacht hat, wenige Wochen zuvor. Ein Abschied im Englischen Garten.

Er hat eine Vorgeschichte.


In einer Schwabinger Pension wartet Lisbeths Bruder Walter auf August Macke. Und warum? Walter hat das Abitur bestanden! Und nun erfüllen ihm die Eltern seinen sehnlichsten Wunsch: Eine Italienreise… Aber nicht allein! Da bietet sich der Freund der Schwester als Begleiter an.

Und Lisbeth?

Wie es der Zufall will, weilt sie auch in der bayrischen Hauptstadt. Als hätte sie etwas geahnt. Sie hat sich gern zum Zweck des Porträtiert-Werden-Sollens nach München schicken lassen und wohnt bei Tante und Onkel Brüne, einem Malerehepaar. Die Wohnung der Gastgeber beflügelt Lisbeths romantische Empfindungen, ist sie doch vollgestellt mit alten Möbeln, Kleidungsstücken, Ritterrüstungen und Bildern. Nun fehlt nur noch der leibhaftige Ritter, der nach seinem Burgfräulein schaut… In diese Atmosphäre platzt die Nachricht von der Ankunft Augusts.


1905. München im März.

Vorfrühling. Föhn. Verführerisch. Laue Lüfte, die den Atem nehmen und die Liebenden himmelhochjauchzend zu Tode betrübt machen. Im Süden leuchtet unter dem blauen Himmel das kalte Weiß der Alpenkette, zum Greifen nahe.

Als Ritter August kommt, sind noch acht Tage Zeit, bevor es nach Italien losgeht. Acht Tage für Lisbeth und acht Tage für ihn, der pünktlich klingelt, um sein Burgfräulein abzuholen. Lisbeth kann es kaum erwarten, mit ihm allein zu sein, frei zu sein, unten, auf der Straße, in den Parks, in – Italien?

„Ach, ich käme so gerne mit!“

August lacht und fängt den Ball auf: „Deinen Bruder lassen wir einfach stehen… Nein, nein, das geht nicht… Stell dir das mal vor… Aber nächstes Mal, da fahren wir zusammen!“

„Versprochen?“

„Versprochen!“

Sie liegen sich in den Armen. August ist voll von Italien-Sehnsucht und Lisbeth-Sehnsucht. Und dazu der Föhn. Er fällt von den Bergen hinunter, er überfällt, kriecht in die Liebenden hinein und macht sie schwerelos. Sie erkennen sich nicht wieder, mitten in München. Die Stadt quirlt um sie herum wie ein großer Strudel. Die Bauersfrauen vom Viktualienmarkt und die Bohémiens mit ihren extravaganten Damen. Die Droschkenkutscher, Zeitungsjungen und stämmigen Kellnerinnen im Dirndl. Niemand fragt, ob sie verlobt sind oder verheiratet oder arm oder reich. Sie sind einfach August und Lisbeth. Sie wandern durch die Kunsthallen, Hand in Hand, Arm in Arm, versinken in den Bildern Böcklins und Moritz von Schwinds, saugen das Licht auf und die Farbe und das Leben.

Trunken wie Schmetterlinge verlassen sie die Stadt auf unbekannten Pfaden, bis sie nach Stunden den Starnberger See erreichen. Im gleichen Maße, wie sie dabei das Gefühl für die Zeit verlieren, wächst ein Gefühl zwischen ihnen. Am Ufer bleiben sie stehen und schauen fasziniert auf die flirrende Wasserfläche mit den dreieckigen Tupfern der Segelboote. Irgendwann meldet sich der Hunger und der Durst. Sie finden ein schlichtes Gasthaus und nehmen Platz auf seinen rohen Holzbänken. Fröhliche Menschen, Kinder, Küsse, Gesang… Wie alle Gäste bestellen sie Brot und schäumendes Bier. Es kommt in großen Steinkrügen und schmeckt köstlich. August, den unvermeidlichen Skizzenblock auf den Knien, zeichnet die Bauernburschen am Nachbartisch. Zu ihrer Überraschung erkennen sie sich wieder: "Das bist ja du! Das bin ja ich!"

August schenkt ihnen das Blatt zum Abschied. Großes Hallo und Dankeschön und Auf Wiedersehn. Dann zieht er mit Lisbeth weiter, ohne zu wissen wohin. Ein lichter Kiefernwald nimmt sie auf; nein, keine Rehe, keine Pferde. Noch nicht. Der Waldboden ist von weichem Gras bedeckt. Sie lassen sich fallen, sie träumen und tasten... Sie zittern. Sie zögern. Sie sind unsicher.

Die Bahn bringt sie nach München zurück.


Der letzte Abend kommt.

Die Nacht wird August bereits im Zugabteil verbringen. Auch Lisbeths Rückkehr nach Bonn steht kurz bevor, mit einem hoffentlich vorzeigbaren Porträt im Gepäck. Das nicht Vorzeigbare ist ihr allerdings wichtiger… Und August wird nach der Italienreise wieder in Düsseldorf sein und fleißig Bühnenbilder entwerfen. Wann werden sie sich wiedersehen? In vier Wochen? Zwei Monaten?

In solche Gedanken verstrickt betreten sie den Englischen Garten. Mit der Pracht seiner Narzissen, Krokusse und Blausterne erscheint er ihnen wie der Garten Eden; geschaffen nur für sie. Ziellos schlendern sie durch den weitläufigen Park. „Ach, hätte ich doch meine Staffelei dabei!“, seufzt August angesichts der sorglos promenierenden Menschen im Abendlicht… Hier ein Motiv… und dort eins… Wenigstens den Skizzenblock führt er mit sich; wie immer und überall. Bewundernd verfolgt Lisbeth, wie der dünne, zerbrechliche Bleistift in Augusts kräftiger Hand auf dem Papier hin- und her gleitet, innehält – bis sich die weiße Fläche mit Spaziergängern, Paaren oder spielenden Kindern gefüllt hat, die nur aus wenigen Linien bestehen und doch leben.

Sie gehen weiter. Der Gedanke an den Abschied begleitet sie unerbittlich. Er lässt sich nicht abschütteln wie die Tannennadeln einer Waldwiese oder die Krümel einer Brotzeit. Als sie den Kleinhesseloher See erreichen, ist es schon fast dunkel. Die letzten Spuren der Abenddämmerung entfachen auf dem Wasser ein Farbenspiel in rot und gold und lila. Verzaubert bleiben August und Lisbeth stehen. Die Weidenbüsche am Ufer treiben schon aus und legen einen schützenden Mantel um das junge, ratlose Paar.

Adam, Eva und ihr ganz privates Paradies. Der Apfel. Noch zögern sie. Der Erdboden ist warm. Aufgeheizt von Sonne und Föhn wirkt er wie eine verführerische Bettstatt, die allen neugierigen Blicken entzogen ist. Niemand sieht die beiden ersten Menschen. Sie sehen nur sich selbst; schattenhaft. Langsam verschwinden die Schatten in der herabsinkenden Dunkelheit.

Lisbeth spürt Augusts Hand, die suchend und fordernd unter Rock und Bluse wandert; die verharrt und an Stellen streichelt und liebkost, die sie erröten lassen... Dazu die Küsse… überall… Begann einst so die Versuchung im Garten Eden? Wie ein betörendes Parfum umgibt sie der Duft unzähliger Frühlingsblumen. Einatmen, küssen, die Augen schließen, treiben lassen… Aber… ABER.


Es knackt im Gebüsch, raschelt.

Kerzengerade sitzen sie da. Ein Schatten huscht vorbei, Flattern, Flügelschlagen und ein lautes Klatschen auf der Wasseroberfläche. Erleichtert fallen sie sich in die Arme.

Weitermachen?

Nein, August.

Doch, Lisbeth.

Wir können doch nicht einfach...

Wir können. Wer auf der Welt sollte uns hindern?

Ach, August... Eigentlich möchte ich es auch... Aber denk'

doch mal nach...

Meine kleine Carmen... Hier kommt es bestimmt nicht aufs Nachdenken an!

Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll mit uns: Ein armes Künstlerpärchen... ein schäbiges Dachzimmer in Schwabing...

Ja! Gute Idee! Wie der arme Poet von Spitzweg, aber diesmal zu zweit. Du und ich, Lisbeth.

Was würden meine Eltern sagen? Wirst Du mich heiraten können? Werden sie einwilligen?

Ich werde jeden Morgen die Dachstiege hinunterklettern und meine Bilder verkaufen. Irgendwo. Und immer, wenn ich zurückkomme, habe ich einen Strauß roter Rosen dabei. Für meine Lisbeth und niemand anderen in der Welt...

... ein Laib Brot und etwas Butter wäre auch nicht schlecht...

Ob das Geld dafür noch reicht? Ach, Lisbeth... Unser Leben könnte so schön sein und ist doch so hoffnungslos...


Lisbeth spürt die Melancholie im Herzen ihres Freundes und ahnt trotz der Dunkelheit den erschreckenden Ausdruck tiefster Traurigkeit in seinen Augen.

Ihr wollt Mann und Frau sein? Heiraten? Ihr seid doch viel zu jung... Und der Herr Gemahl? Maler ist er? So nennen sich viele arme Leute... Eine Familie ernähren? Eine Wohnung in der Belle Etage bezahlen? Ein Hausmädchen? Schlagt Euch das aus dem Kopf. Ihr seid doch noch halbe Kinder. In ein paar Jahren, vielleicht..... Vielleicht auch nicht.


Sie sind aufgestanden. August legt seinen Arm um ihre Schulter und Lisbeth ihren Arm um seine Hüfte. So stehen sie am Ufer des Sees, der sich in der Dunkelheit versteckt hat. Manchmal verrät er sich durch ein leises Glucksen und die spärlichen Lichtspuren der schlafenden Großstadt, die von seiner

Oberfläche widergespiegelt werden.

Aus der Ferne hört man Lachen, Pferdegetrappel und das Motorengeräusch eines Automobils. Eine Abendgesellschaft geht beschwingt auseinander. In welcher Villa hat sie stattgefunden? Welche Weine wurden kredenzt? Wie viele Diener und Dienstmädchen haben sich um die Gäste gekümmert? Geld spielt keine Rolle… Nicht für euch… Ihr braucht euch nicht unsere Sorgen zu machen… Ihr habt den richtigen Stand und die richtige Zukunft…

Und wir?

Das dunkle Wasser lockt und die Tiefe, die sich darin auftut. Lisbeth und August kommen ihr näher, auf Zehenspitzen, noch zögernd, Hand in Hand, bis sie die Feuchtigkeit an ihren Füßen spüren.

Hinter ihrem Rücken bleibt eine Welt zurück, die keinen Platz hat für ein junges, lebenshungriges Paar. Keine Zukunft. Keine Romantik. Nur Konventionen. Ihr dürft nicht. Ihr sollt nicht. Ihr könnt nicht. Das schickt sich nicht. Die Welt vor ihnen: Unergründlich, erschreckend, verlockend. Nur noch wenige Schritte... Sich einen Ruck geben, alles hinter sich lassen und wenigstens im Tod die ersehnte Vereinigung finden...

"Isch bin möd", sagt August in bestem Rheinisch.

"Und ich habe nasse Füße", gesteht Lisbeth.

So retten sie sich das Leben.


Der Wind hat gedreht. Er kommt von Nordwesten und pustet die Schwüle der vergangenen Tage weg. Sie atmen tief durch. Sie frieren.


Die Tante staunt nicht schlecht, als ihre Nichte spät abends nach Hause kommt: Zerzaustes, offenes Haar, verweinte Augen, verschmutzte Stiefel, zerknitterter Rock und eine rote Bluse voller Grashalme... Der Föhn, denkt sie, der Föhn... Der Frühling... Die Luft... Die Liebe... Sie bringt Lisbeth ein Brot und ein Bier und schickt sie ins Bett. Sie seufzt und denkt einige Jahrzehnte zurück. Ja, die jungen Leut'...

Als Lisbeth am nächsten Morgen erwacht, schaut ihr vom Fußende August entgegen. Sie reibt sich die Augen. Schwarzweiß. Ein einziges Photo von ihm besitzt die Tante und hat es am Bett ihrer Nichte befestigt; ganz leise, um sie nicht aus ihren Träumen zu wecken und ganz vorsichtig, um das Bild des Liebsten nicht zu beschädigen.

Der leert abends mit ihrem Bruder im Zug eine Flasche Wein und ist guter Dinge. Vor dem Einschlummern stellt er sich schneebedeckte Bergriesen vor, die immer näher und immer schroffer an die Bahngleise heranrücken. Und er denkt an den Abschied im Englischen Garten. Das Vorspiel. Irgendwann werden sie sich nicht mehr von flatternden Enten und vergilbten Konventionen erschrecken lassen.

Aber erst einmal heißt es einschlafen in der Gewissheit, am nächsten Morgen aufzuwachen im Land Michelangelos und Leonardo da Vincis; im Land des Oleanders und im Land des Lichts.

Italien liegt vor ihm. Und das Leben mit Lisbeth. Sie werden sich nicht loslassen. Nie.


+ + +


"Ich möchte aber unter keinen Umständen, dass das eine Liebelei wird mit dem Macke!"

Besorgte Worte eines schwerkranken Vaters zu seiner Frau, als schon alles zu spät ist.

"Bist du denn eigentlich verlobt mit dem Herrn Macke, oder wie ist das? Du kannst doch nicht immer mit ihm herumlaufen, ohne dass ein klares Verhältnis geschaffen wird!"

Eifersüchtige Worte einer altjüngferlichen Tante zu Lisbeth. Sie fallen auf unfruchtbaren Boden.

Nur die Mutter steht hinter ihnen, spürt vielleicht mehr als August selbst das Ungewöhnliche an ihm.

Abends, wenn der Vater im Nebenzimmer unruhig schläft, sitzen sie im Schein der Stehlampe oft noch lange zusammen. Drei Frauen und ein Mann. Tochter, Großmutter, Mutter, August. Er legt ein Blatt Papier auf den Nähtisch und zeigt die Muster, die er entworfen hat. Farbige Linien, farbige Flächen, reine Farben. Die Frauen sind begeistert, am meisten die Großmama. Und während das Stickgarn Elle um Elle einfarbige Stoffbahnen in farbenfrohe Kunstwerke verwandelt, drehen sich die Gespräche um Gott und die Welt, oder wenn's nach August geht, um Nietzsche und Schopenhauer.

"Darf ich den Damen etwas vorlesen?" fragt er manchmal. Er darf. Er liest:

Friedrich Nietzsche. Der Wille zur Macht als Kunst...

Unsre Religion, Moral und Philosophie sind Décadence-Formen des Menschen. Die Gegen-Bewegung: die Kunst.

Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk--

... Die Vollkommenheit: das ist die außerordentliche Erweiterung des Machtgefühls, der Reichtum, das notwendige Überschäumen über alle Ränder.

Dies unterscheidet den Künstler vom Laien: letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit, ersterer im Geben...

In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge 'dieser Welt', - sie liebten ihre Sinne.

August liest langsam und mit tiefer, deutlicher Stimme. Wenn Lisbeth von ihrer Stickerei hochschaut, sieht sie ihn gegenüber im Sessel sitzen, groß und stattlich, das Buch in der Hand, versunken in die Welt als Wille und Vorstellung und den Willen zur Macht. Er ist mit großem Ernst dabei. Manchmal unterbricht er sich und zieht an seiner Tabakspfeife. Dann liest er weiter. Die Zeit vergeht wie im Flug; und manchmal braust schon der Nachtzug von Koblenz nach Köln vorbei, wenn Lisbeth und August sich auf der Straße mit einer langen Umarmung voneinander verabschieden.


+ + +


Wie alles anfing: Viktoriabrücke und Tannenbusch. Grau-Rheindorf und Kreuzberg; Meßdorf und Marienkirche. Und doch ist alles anders in diesem Jahr 1907, alles neu. Lisbeth wird neunzehn. Es ist Sommer. Sie gehen die gleichen Wege. Sie sind ungeduldig. Die Luft flimmert. Lisbeths Vater liegt im Sterben. Die Farben flirren auf der Leinwand: Der Himmel über der Marienkirche. Ein Weg am Kreuzberg. Ringstraße mit Husaren. Straße mit Spaziergängern im Licht. Nachhall der Großstadt; ein bisschen Paris, ein großer Aufbruch.

Wer spricht noch von Böcklin, von Leibl und Thoma? Tot. Stattdessen: Corinth... Slevogt... Liebermann. Namen, noch weiter weg als Paris und entgegengesetzt: Berlin. Sie sind nicht tot. Sie malen. Von ihnen lernen. Bei ihnen lernen, immer dem Geheimnis der Farbe auf der Spur.

Im Herbst reifen Entscheidungen.

Anfang Oktober reist August nach Berlin, um dazuzulernen, im Studienatelier eines Impressionisten namens Lovis Corinth.


+ + +


Vincenz!

Der Mann, der August Zutritt zum Hause Gerhardt verschafft hat.

Der Mann, der Bote für Liebesbotschaften von Düsseldorf nach Bonn gewesen ist.

Nun tritt er zum dritten Mal in Erscheinung: als Mieter einer gutbürgerlichen Schöneberger Wohnetage plus Salon, in der ein Zimmer zu günstigen Konditionen frei geworden ist.

August richtet es ein: mit Staffeleien, Farbkästen, Keilrahmen - und einer fürstlichen Bettstatt, die Vinzenz ihm besorgt hat.

Die Kaffeekanne, die für die Herren im Salon bereitsteht, heißt 'Lisbeth'. Sie pfeift, wenn sie heiß ist. Für heißen Kaffee und Sauberkeit sorgt liebevoll die Portiersfrau. Ich habe draußen noch nie so angenehm gewohnt, schreibt August nach Bonn. Aber wenn der Gasherd streikt, muss er schnell in den Hausflur laufen, um einen unersättlichen Münzautomaten mit Zehnpfennigstücken zu füttern. Dann wird der Herd wieder warm.


Zu Lovis Corinth in der Schillerstraße ist es nicht weit: am liebsten per Omnibus auf dem Oberdeck, um zu sehen, sehen, sehen. Porträt, Stillleben, Modell, heißt es dann beim großen Meister. Der lässt seine Studenten arbeiten und kommt dann und wann zur Korrektur. Er kennt keine Gnade:

"Wenn Sie schlapp werden und murksen, fangen Sie lieber was anderes an."

Und wenn der strenge Ostpreuße merkt, dass der Angesprochene nach solchem Urteil den Kopf hängen lässt, muntert er ihn auf seine Weise auf:

"Immer frisch bleiben, das ist die Hauptsache."

August hat Mühe, frisch zu bleiben. Paris steckt ihm in den Knochen. Noch immer steckt er voller unbewältigter Bilder und Farben, die in ihm arbeiten. Erholung findet er im Kaiser-Friedrich-Museum, dessen Fassade wie ein mächtiger Schiffsbug aus den Fluten der Spree empor ragt. In den großen, hohen Sälen lässt August sich von der Vergangenheit einholen; den Zeugnissen ferner Jahrhunderte, die er bei seinem Pariser Bildersturm über Bord geworfen hatte: Botticelli... Veneziano... Signorelli - und auch wieder Rembrandt, Dürer, Cranach und van Eyck. Was ist Form ohne Farbe und Farbe ohne Form? Er übt wieder. Die Mühen des Murksens, fast wie in Düsseldorf, aber nun Mittel zum Zweck. Abendakt bei Corinth. Die Stimmung steigt: Bei Corinth komme ich gut vorwärts. Er ist trotz seiner Ruppigkeit doch ein Kerl, der einem, wenn man selbst mit will, viel beibringen kann. Er merkt es allem an, ob man frisch ist oder nicht... Eine Lust hab ich jetzt zum Arbeiten! Es klappt nur so... Zum Beispiel Kopieren im Kaiser-Friedrich-Museum: das Porträt einer blonden Dame von Botticelli, welches in wuchtigem Rahmen als Weihnachtsgeschenk an eine dunkelhaarige Dame in Bonn geht...


Wenn die Türen der Ateliers und Museen sich schließen, werden die Mühen belohnt durch die Lust am Zeichnen und Skizzieren. Nach Cranach kommt Unter den Linden. Nach Dürer Friedrichstraße und statt Veneziano Kurfürstendamm. Bewegungen festhalten, Spaziergänger, Straßenbahnen, Droschken, Pferdeschnauzen. Abgetakelte Kurtisanen in billigen Varietés. Arbeiter auf dem Gerüst. Verknäuelte Bahntrassen mit feuerspeienden Zügen. Gaskessel, Schornsteine, Omnibusse. Pardonrufe, gegen Leute rennen. Gott, Lisbeth, was ist die Welt, was will ich von ihr, was will sie von mir? Wozu das bisschen Leben? Ist es denn so schön?

Das Leben zeichnen - leichtfüßig, schwebend, mit Strichen, die wie hingeworfen wirken und doch ins Schwarze treffen, ins Wesentliche. Die Striche vibrieren, weil die Stadt in ihnen weiterlebt. Ein Skizzenbuch reicht nicht, zwei auch nicht, es werden fünf.


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Kreuzberg, Wassertorstraße. Mechanische Werkstätten Bernhard Koehler. Stempel. Gravuren. Metallwaren. Industriebedarf.

August geht sich bedanken.

Mit der U-Bahn, die hier auf Stelzen fährt, ist er hergekommen und hat auf dem Weg das muntere Treiben am Landwehrkanal und am Wassertorplatz betrachtet. Zum ersten Mal steht er seinem Gönner persönlich gegenüber: einem würdigen, hochgewachsenen Herrn mit tadellosem Äußeren. Das volle Haar schon ergraut, der Kinn- und Spitzbart gepflegt und gestutzt wie eine Buchsbaumhecke im Schlosspark Charlottenburg. Zwei wache Augen, die den jugendlichen Gast wohlwollend mustern. Die Begrüßung ist herzlich. Die Stimmung ist düster, weil Herr und Frau Koehler im Streit miteinander leben. Die Wände der Wohnung sind ebenfalls düster: vollgehängt mit Ölschinken der Jahrhundertwende. Schlachtpanoramen, Berglandschaften, Königsportraits. August bringt dafür nur mäßiges Interesse auf. Umso größer ist das Interesse Bernhard Koehlers an seinem jungen kunstbeflissenen Besucher.

Welche Stilrichtung er denn bevorzuge? Die Orientierung sei ja gar nicht mehr so leicht heutzutage... Naturalisten... Impressionisten... Secession. Ob er ihm denn etwas empfehlen könne? Ob er Lust habe, ihn hin und wieder in Galerien zu begleiten - standesgemäß selbstverständlich, im Automobil?

August blickt skeptisch. Nicht das Kunstinteresse seines Gastgebers ist das Problem, sondern der Platz... Er lässt seine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen, über angelaufene silberne Dosen, bemalte Porzellanvasen, Miniaturen, Gobelins, geschnitzte Figuren, Gipsköpfe mit Staub...

"Wo wollen Sie denn hier noch weitere Bilder unterbringen?"

Frau Koehler seufzt und nickt, um anzudeuten, dass sie sich seit Jahren die gleiche Frage stellt.

"Ach, das ist kein Problem", lacht ihr Gemahl. "Was nicht mehr gefällt, kommt in den Keller und wird verkauft."

Das überzeugt August.

Ihr erster gemeinsamer Einkaufsbummel endet mit einer kompletten Serie colorierter Holzschnitte nach Renaissancemotiven. Der zweite mit einer Miniaturensammlung, in zwei Stunden für zweitausend Mark ersteigert. Onkel Bernhard ist begeistert. Seine Frau nicht. Er lässt sich von August die geheimnisvolle Kunst erklären, die einen Corinth, Slevogt und Liebermann umtreibt.

Der dritte Einkauf: zwanzig japanische Skizzenbücher für August, dazu mehrere Bilderrahmen, Farbkästen und Malutensilien. Auch für August, versteht sich. Im Auto geht es durch den Ameisenhaufen Berlin. Oft parken sie vor Restaurants, die August verständlicherweise nur von außen kennt oder gar nicht. Dinieren im Kaiserkeller... Zu alldem kommt noch ein kleines monatliches Handgeld, auf dass der hoffnungsvolle Künstler keinen Mangel leide. Der weiß gar nicht, wie ihm geschieht und fühlt sich mitten in Preußen wie Gott in Frankreich.

August revanchiert sich auf seine Weise; mit kleinen Bildern, die den Gönner erfreuen: Angler am Rhein, die ihn wehmütig an das verträumte Bonn und verschwiegene Spaziergänge mit Lisbeth erinnern, oder Szenen aus den Cabarets und Varietés, in denen sie abends zuvor gewesen sind. Bernhard Köhler staunt, wie sein junger Freund mit wenigen flüchtigen Bleistiftstrichen die Bewegungen der Tänzerinnen und Gaukler wiedererweckt, die sie gemeinsam gesehen und bewundert haben.


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Lisbeth kommt!

Ihre Mutter ist auf Verwandtenbesuch und hat sie mitgenommen. In Onkel Bernhards Auto ist noch Platz frei. Er nimmt das junge Paar mit. Sie fahren nach Potsdam und nach Sanssouci. Sie wandern im Grunewald und folgen den Spuren, die August, das Skizzenbuch in der Hand, gelegt hat. Sie gehen zu zweit ins Deutsche Theater und sehen ein Stück, das wie für sie geschaffen ist: Frühlings Erwachen. Ein skandalumwitterter Autor namens Wedekind hat es geschrieben und ein gewisser Max Reinhardt bringt es als Regisseur auf die Bühne. Wendla und Martha, Moritz und Melchior heißen die Hauptpersonen. Sie sind nicht viel jünger als Lisbeth und August. Sie lieben sich. Sie rätseln. Sie leiden. Sie liegen auf einer Waldwiese nebeneinander und wissen nicht, was sie tun. Sie sterben. Manchmal ähneln sie dem Paar, das im Englischen Garten an seinen Irrungen und Wirrungen zu ertrinken drohte und nun in der Loge aufmerksam und atemlos verfolgt, wie fremde Schauspieler ihr ureigenstes Leben auf die Bühne bringen. Aber nicht das Sterben. August und Lisbeth sind weiter. Sie lassen sich nicht mehr von Schuldgefühlen und Selbstmordgedanken erschrecken. Sie brechen aus, um zueinander zu kommen. An einem schönen Frühlingstag werden sie Mann und Frau.

Frühlings Erwachen.


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Bonn, Juli, Sommerhitze, Kaffeetrinken im Hause Gerhardt.

"Kommt Ihr mit nach Paris?" fragt Onkel Bernhard und schaut August dabei vorwurfsvoll an.

"Du hast mich neugierig gemacht auf die Impressionisten“, setzt er hinzu. „Jetzt will ich mir welche kaufen!"

Wenn Bernhard Koehler einkaufen will, duldet er keinen Widerspruch. Lisbeth und August lassen sich nicht zweimal bitten. Auch Mutter Gerhardt stimmt zu, weil sie weiß, dass die beiden ungestümen jungen Leute einen ehrwürdigen Begleiter haben.

Der Schnellzug aus Köln bringt sie schnell ans Ziel. Sie steigen im Hotel Malesherbes ab. August wird ins Dachgeschoss verbannt, Lisbeth muss neben Onkels Zimmer wohnen. Doch das tut dem Frühlingserwachen keinen Abbruch.

Die Stadt ächzt unter der Julihitze. Wer Geld hat, ist in Deauville, Trouville oder an der Côte d'Azur. In den Museen mit ihren wuchtigen Mauern und dem gedämpften Licht ist es angenehm kühl. August ist ein sachkundiger Führer, und bald kennen und lieben Lisbeth und Bernhard die gleichen Bilder, die ihn selbst im Jahr zuvor gefesselt haben. Jetzt fesseln sie ihn nicht mehr. Sie gefallen ihm nur noch. Aber Onkel Bernhard ist auf den Geschmack gekommen...

Kaufen? Was? Wo?

Die Galerien heißen Bernheim jeune und Vollard. Dort hängt, liegt und steht aus Platzmangel in der Ecke, was Bernhard Köhlers Sammlerherz begehrt.

"Haben Sie das gesehen? Und das? Was meinen Sie? Gefällt es Ihnen?"

Sie kommen immer wieder, als Trio aus würdigem Herrn mit Bart, junger Dame mit Hut und ihrem jungen, sachkundigen Begleiter. Sie werden Stammkunden, die man mit Namen kennt und persönlich begrüßt. Es vergeht kaum ein Besuch, ohne dass Lisbeth und August wenigstens ein sorgsam verpacktes Bild zum wartenden Taxi tragen. Beim ersten Mal: Porträt einer Tänzerin. Manet. Beim zweiten Mal zur Abwechslung Monet. Beim dritten Mal, als Mittel gegen die Sommerhitze, eine Winterlandschaft von Pissaro. Beim vierten Mal zweimal Seurat. Zum Abschluss ein Frauenakt von Courbet. Und zur Abwechslung fahren sie hin und wieder in die Rue Lafitte, wo sich die Galerie Vollard befindet.

Galerie?

Wer eintritt, kommt in eine staubige, unaufgeräumte Rumpelkammer. Es herrscht eine noch größere Enge als bei Bernheim jeune. Überall stellen sich den Füßen Bilder entgegen, die an Wände und ausrangierte Staffeleien gelehnt in den Tag dämmern und auf die Märchenprinzen warten, die sie aus ihrer Unwirtlichkeit befreien. Da stehen sie und stauben vor sich hin, die Gauguins und Cézannes und van Goghs. Im Nebenzimmer, in dem Monsieur Vollard hin und wieder seinen wohlverdienten Mittagsschlaf hält, muss ein hübsches Gemälde von Degas sogar mit dem Platz unter dem Bett vorlieb nehmen. Vollard zieht es hervor und zeigt es Monsieur Köhler: Eine Frau steht vor dem Spiegel und wäscht sich den Rücken. Zartrosa und grau.

Drei Männer betrachten das Bild und vor allem das Spiegelbild mit Kennermiene.

"Göttlich", sagt Vollard.

"Göttlich", stimmt Bernhard zu.

"Göttlich", sagt August aus voller Überzeugung. Lisbeth stößt ihn in die Rippen.

Für diesmal belässt Bernhard es bei einer Lithographie von Cézanne, die er dem jungen Paar verehrt. Aber sie kommen wieder.

Bald kennen sie alle Räume und Nebenräume der verwunschenen Galerie. Überall stehen Bilder im Wege. Habt Erbarmen! scheinen sie den Besuchern zu sagen. Onkel Bernhard spürt sein gutes Herz. Er erlöst Cézanne, Degas und andere aus ihrem Schattendasein.

Die Frau unter dem Bett bringt die würdigen Herren einander näher. Sie spüren Seelenverwandtschaft. Sie lieben vor allem die Frauen, die ihnen Tag und Nacht goldgerahmt entgegen lächeln, ohne dabei ein einziges Wort zu verlieren.

Doch Vollard ist noch konsequenter als sein Freund aus Berlin: Er ist Junggeselle geblieben. Trotzdem hat er eine große Familie. Seine Kinder heißen Edgar Degas, Paul Cézanne, Claude Monet und Vincent van Gogh.

Blaue Reiter vor Verdun

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