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1. Kampf um Köln
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Ein Pfeil zischt durch die Luft, sucht sein Ziel und bohrt seine Spitze in das Gesicht eines elfjährigen Jungen. Wie eine Antenne ragt das metallene Geschoss aus seinem rechten Auge. Schreiend und blutend rennt der Junge davon. Sein Freund ist ihm auf den Fersen.
"August! Warte!"
August, wie von Sinnen, rennt weiter und hinterlässt eine blutige Spur. Der Pfeil in seinem Auge schwankt hin und her, als wäre er eine Kompassnadel, die den Weg weisen will. Aber das Schlachtfeld ist unwegsam: Halbfertige Baugruben; Schutthügel, die von Brennnesseln überwuchert sind, eingestürzte Grundmauern, Steinhaufen, Weidenbüsche.
"August! Bleib stehen!"
Er blutet. Er schreit. Er rennt.
Hans, der Freund, verfolgt ihn weiter. Er macht wertvolle Meter gut. Er gibt nicht auf. Sein Keuchen geht im Schreien unter. Noch ein Schritt, ein Satz, und er hat August eingeholt.
Ein Ruck. Hans greift zu. Der Pfeil fliegt in hohem Bogen davon. August ist stehen geblieben. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Die kurzen, braunen Haare sind schweißnass. Aus einem kleinen Loch neben dem rechten Auge sickert frisches, hellrotes Blut. Hans zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und reicht es August. Der presst es auf die Wunde. Wie lange sie so, umgeben vom Schlachtenlärm, verharrt haben, wissen sie später nicht. Waren es nur Sekunden? Irgendwann nimmt August das blutige Taschentuch seines Freundes aus dem Gesicht. Er grinst.
"Glück gehabt. Oder bin ich jetzt einäugig?"
Hans atmet tief durch.
"Das hätte ins Auge gehen können! Im wahrsten Sinne des Wortes! Wasch' Dich erst mal zuhause!"
"Kommt nicht in Frage. Revanche!"
Sie kehren um.
Und während sie sich wieder der Frontlinie nähern, von der sie gekommen sind, wirft Hans seinem großen, kräftigen Kameraden einen Blick zu, der zwischen Verwunderung und Bewunderung schwankt.
Der Kampf geht weiter. Für Wehleidigkeit ist kein Platz. Wem gehört Köln? Altstadt gegen Neustadt; Eingesessen gegen Zugezogen, Katholiken gegen Protestanten. Heute gewinnt die Neustadt. Hans, August und ihren Freunden gelingt es, die Gegner zu umzingeln und zwei ihrer Anführer mit einem Lasso einzufangen. Sie wissen, was ihnen blüht. Die Marterpfähle sind bereit. Sie bestehen aus Holzbalken, welche die Jungen eigenhändig in den sandigen Boden gerammt haben. Nach dem Fesseln heißt es Hosen runter, und dann wird mit Brennnesselruten ausgepeitscht. Indianer kennen keinen Schmerz. Oder doch?
Wenn mit dem Abend der Hunger kommt, ziehen Freund und Feind nach Hause und überlassen das Schlachtfeld den herrenlosen Hunden. Der Lärm ebbt ab.
Was wird der nächste Tag bringen? Wie wird der Heeresbericht lauten? In der Neustadt nichts Neues?
Nach dem Abendessen liegt ein elfjähriger Junge in seinem Bett und befühlt ein dickes Pflaster am rechten Auge. Durch das offene Fenster im Parterre hört er das Klappern und Rattern der Pferdefuhrwerke auf der Brüsseler Straße. Die Hufe wiegen ihn in den Schlaf. Er merkt nicht, wie seine Mutter ganz leise hereinkommt und besorgt nach ihrem einzigen Sohn schaut, der zusammengerollt unter seiner Bettdecke liegt. Nur der braune Haarschopf quillt hervor. Die Decke hebt und senkt sich unter seinen ruhigen, regelmäßigen Atemzügen.
Er träumt von Schwebebahnen, Dampfschiffen, Torpedos und großen Kanonen; von Schlachten, die geschlagen wurden und Schlachten, die noch zu schlagen sind.
+ + +
Hans. Habsburgerring. Ein Unfall.
Ein Junge springt von einem fahrenden Straßenbahnwagen, stolpert, stürzt und wird vom Gegenzug überrollt. Er hat keinen Fahrschein. Als er im Krankenhaus aufwacht, hat er keine Beine mehr. Der Kampf um Köln ist vorbei, an diesem Frühlingstag des Jahres 1899. Statt tückischer Pfeile und Lassoschlingen huschen schwarzgekleidete Schwestern durch die Flure und Krankensäle des Bürgerhospitals. Gegrüßet seiest Du, Maria, Du bist voller Gnaden... Wochenlang schwebt Hans zwischen Leben und Tod.
Die Familie kommt zu Besuch; Mutter, Vater, Onkel, Tanten. Sie sind verlegen. Was sollen sie sagen?
August kommt, zum ersten Mal. Er ist nicht verlegen. Er weint, als er seinen Freund sieht. Dann siegt die Neugier.
"Zeig' mal", sagt er, und Hans muss die Bettdecke so weit herunterziehen, dass man die beiden bandagierten Beinstümpfe sehen kann.
"Jetzt stell' dir mal vor", sinniert August, "du wärst noch tiefer unter die Räder gekommen. Vielleicht an dieser Stelle. Oder an dieser..."
Er ist aufgestanden und demonstriert an seinen Oberschenkeln, was er meint. Die Handkante ersetzt das verderbenbringende stählerne Rad des Straßenbahnwagens. Sie rutscht nach oben; wandert bis zu der Stelle, wo sich zwischen den Schenkeln etwas befindet, über das sie schon oft Witze gemacht haben....
"Stell' dir vor, die Räder wären h i e r über dich -", und der Rest geht in prustendem Gelächter unter.
Besorgt schaut die barmherzige Schwester Eusebia durch den Türspalt. Gegrüßet seiest Du, Maria... Sie sieht zwei zwölfjährige Jungen, die sich gegenüber sitzen und den Bauch halten vor Lachen. Danach ist Hans so erschöpft, dass er wieder in seine Kissen zurücksinkt. Aus halb geschlossenen Lidern mustert er den Freund, der im Zimmer auf und ab geht. Bewunderung? Verwunderung? Eben noch einen Pfeil im Gesicht, und schon denkt er ans Weitermachen.... Die blitzenden, braunen Augen, die Witz und Freude verströmen, aber auch rätselhafte Melancholie... So etwas kann ein Zwölfjähriger noch nicht beschreiben. Aber er spürt es.
"Morgen komme ich wieder", sagt August zum Abschied. "Und dann bringe ich dir etwas mit."
Er hält Wort.
"Rate mal, was ich dabei habe!"
August hat das Krankenzimmer betreten und hält die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
"Keine Ahnung."
Hans setzt sich im Bett auf und vergisst für einen Moment die Schmerzen in seinen frisch verbundenen Beinstümpfen.
"Etwas, womit du immer gern gespielt hast. Ich habe es gestern für dich geschnitzt."
"Mach's nicht so spannend, August."
"Attacke!!!"
Mit drohend gezücktem Schwert springt August vor das Bett des Amputierten, als wolle er ihn zum Duell herausfordern. Attacke!
Hans schaut zur Seite.
"Ein Schwert", sagt er leise.
"Was ist? Freust du dich denn gar nicht?"
"Ach schon", antwortet Hans, ohne August anzusehen. Er schämt sich seiner Tränen, während er sich seiner Kämpfe erinnert: draußen, zwischen Brennnesseln, Ziegelsteinen und Marterpfählen. Pfeile, Lassos, Schwerter, Geschrei; Angriff und Rückzug, wenn die Übermacht der Feinde zu groß war. Sprünge wie ein Känguru; Hangeln, Klettern mit Armen und Beinen... mit Armen und Beinen...
An diesem Tag verlässt August das Krankenhaus gesenkten Kopfes. Am Gürtel seiner Hose baumelt lustlos ein hölzernes Schwert, das später auf seinem Kleiderschrank verstauben wird.
+ + +
Wieder steht Schwester Eusebia als schwarzer Schatten in der Tür, und wieder traut sie ihren Augen nicht. Diesmal hat kein unpassendes Lachen ihren Verdacht erregt, sondern die Tatsache, dass aus dem Krankenzimmer, in dem die beiden Buben sind, kein einziger Laut dringt.
Was ist los?
Wieder sitzen sich Hans und August gegenüber; der eine mühsam aufgerichtet in seinem Bett, der andere auf dem Schemel, der daneben steht. Nein, diesmal halten sie sich nicht die Bäuche vor Lachen. Die Atmosphäre am Krankenlager hat sich verändert. Zwischen Schemel und Bett steht ein kleiner Tisch, und auf dem Tisch liegt ein Bogen Papier, der von bunten Kamelen, Dattelpalmen, Minaretten und Beduinen bevölkert ist.
Ein Pinsel gleitet lautlos durch die Szenerie, verharrt kurz, beschreibt einen Kreis und verschwindet schließlich im Teeglas des Patienten, das statt Kamillentee nun trübes, schmutziges Wasser enthält. Schwester Eusebias Mund öffnet sich erstaunt, aber sie sagt kein einziges Wort.
Knallgelb und gnadenlos prallt die Wüstensonne vom wolkenlosen Himmel - "... wie bitte? Das ist dir zu heiß? Zu trocken?" - bis sich das Firmament durch wenige Pinselstriche verfinstert, grau wird, schwarz wird, und ein Wolkenbruch auf die armen Kamele und ihre Beduinen hinunterprasselt. Die letzten Tropfen pustet August über das Papier, bis sie getrocknet sind.
"Jetzt geht's erst richtig los! Amerika!"
Die Wüste wird zur Seite gelegt, das nächste Blatt hervorgezogen und das schmutzige Wasser im Teeglas erneuert. Amerika...: Indianer mit abenteuerlich rot und weiß geschminkten Gesichtern. Mustangs mit wehenden Mähnen. Tomahawks! Lassos! Marterpfähle... er kann nicht aufhören. Aber Hans sagt kein Wort. Er schaut. Mit den Blicken ist er ganz nah bei den Bildern, die sein Freund für ihn malt. Mit den Gedanken ist er ganz weit weg: Auf großen, starken Beinen durchquert er die Wüste Sahara, durchwatet den Atlantik und erreicht mit Siebenmeilenstiefeln das Land der Prärien und unendlichen Träume.
Schwester Eusebia schließt leise die Tür und zieht aus ihrer schwarzen Nonnenkluft ein kleines weißes Taschentuch. Ganz unauffällig wischt sie sich damit über die Augen. Sie entfernt sich auf Zehenspitzen.