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4. Leuchtzeichen
ОглавлениеJanuar 1905. Ein Wintermärchen.
Durch die Straßen von St. Petersburg bewegt sich ein Demonstrationszug. Sein Ziel ist der Zar. Noch ist es nur eine Petition, die ihm überreicht werden soll, und keine Patronen. Die Polizei schießt trotzdem. Sie schießt in ein Pulverfass, aus dem Blut spritzt. Der Fehler hat Folgen:
Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin! Arbeiterräte in Moskau und Petersburg! Unruhen im Baltikum! Generalstreik... Barrikaden.... Straßenschlachten.
1905. 1906. Wetterleuchten. Die Uhr tickt. 1907. Mit ungewöhnlichem Interesse verfolgt August die Meldungen, verschlingt sie und merkt, dass sie in ihm weiterzittern - als wäre er ein Seismograph, dessen empfindliches Innenleben bereits die schwachen Erdstöße registriert, die der alles vernichtenden Katastrophe vorausgehen.
Er schreibt eine Erdbebenwarnung nach Bern, wo Lisbeth bei Madame Moilliet ein halbes Jahr lang Französisch und gutes Benehmen und tadellose Haushaltsführung lernt. Der Brief ruft Erschrecken hervor.
Du mein liebes Weib!
Erschrick nicht über diese Anrede... Ich bin in letzten Tagen in einer Aufregung, die Du Dir kaum vorstellen kannst.... Neulich habe ich geträumt, Du wärest gestorben. Da bin ich nach Russland gefahren, nach Warschau, und dort in aller Verzweiflung habe ich die blutige Fahne der Empörung ergriffen und hoch auf der Barrikade, allen voran, bin ich von einer Kugel durchbohrt gefallen. Der schönste Tod für die Freiheit eines Volkes. Nein, noch nicht. Noch bin ich für Dich allein da...
Sei geküsst, wie ich Dich küssen möchte,
von
Deinem August.
Dem kalten Winter folgt ein ungemütliches Frühjahr. Der Kutscher bringt den Damen warme Wolldecken, nachdem er ihnen galant ins Coupé geholfen hat. Die Herren wärmen sich mit einem Schluck aus dem silberverzierten Flachmann. Bremse lösen, Zügel anziehen, und auf geht's. Ein lustiger Peitschenknall. Langsam setzt sich die Kutsche in Bewegung. Die Hufe der Pferde finden ihren Rhythmus, der schwerfälliger und unregelmäßiger wird, wenn der Weg ansteigt.
Auf der Höhe heißt es verschnaufen. Die Pferde bekommen einen Eimer Wasser und einen Arm voll Hafer, die Passagiere im Gasthaus Schwarzwälder Kirsch in flüssiger und fester Form. Für alle gibt es den Blick auf blaue Berge, hohe Tannen und imposante Gehöfte mit tief heruntergezogenen Dächern. Geduldig erklärt der Kutscher seinen Fahrgästen die Sehenswürdigkeiten von Kandern und Umgebung; garniert mit allerlei gehörten und erfundenen Anekdoten.
Und bitte wieder einsteigen, die Herrschaften! Und weiter geht's, ob zum Alpenblick nach Marzell, zur Wolfsschlucht oder zum nächsten Wirtshaus. Ich wär' ja so gern noch geblieben, aber der Wagen, der rollt...
Die Herrschaften, vor allem die Damen, sind entzückt über ihren jungen, wohlaussehenden, gut gelaunten Chauffeur, der seine Pferde auch an den steilsten und gefährlichsten Wegstellen sicher im Griff hat. Im Flug vergeht die Zeit; viel zu schnell ist man wieder am Hotel 'Krone' in Kandern angelangt. Und wieder bietet der Kutscher den Damen beim Aussteigen zuvorkommend den Arm. Man scherzt noch miteinander, verabschiedet sich und sinniert beim Weggehen gemeinsam mit dem Herrn Gemahl darüber, warum solch ein ortskundiger Pferde- und Fremdenführer nicht badisch, sondern rheinisch spricht.
August hat keine Zeit, sich an den Spekulationen zu beteiligen, deren Gegenstand er ist. Es heißt Pferde abspannen, striegeln und in den Stall führen. Die Kutsche kommt in die Remise. Wolldecken zusammenlegen! Straßenstaub abwaschen!
In der Tür zum Hof erwartet ihn schon seine Schwester, die durch ihre Heirat nach Kandern von der Pensionswirtinnentochter zur Wirtsfrau aufgestiegen ist. Sie freut sich über die pünktliche Rückkehr des Bruders, der ihr mit seinem Düsseldorfer Freund Cito viel Arbeit abnimmt und dafür freie Kost und Logis bekommt.
"Da wäre noch ein Haufen Holz zu hacken... aber ruh' Dich erst einmal aus..."
Er kommt nicht dazu, weil im gleichen Moment Claus Cito auf der Bildfläche erscheint.
"Cito! Steht das Gerüst? Wie weit bist Du gediehen?"
"Es kann los gehen. Ich habe schon mit dem Hintergrund angefangen."
„Zeig` her! Lass` sehen!“
Sie betreten den Tanzsaal des Hotels, der sogar eine Bühne besitzt. Links und rechts von ihr stehen Gerüste mit schmalen, schwankenden Brettern, auf denen kurz darauf zwei übermütige Maler herumturnen. Innerhalb weniger Tage verwandeln sie die kahlen Wände in ein Farbenmeer.
Doch als die Gerüste gefallen sind und die Honoratioren des Kurorts erstmals wieder den vertrauten Saal betreten, macht sich Entsetzen breit: Zwei grässliche Kobolde aus dem Fabelreich rahmen die Bühne ein; kein liebliches Schwarzwaldmädel mit Kopfputz und auch kein dunkelgrüner Tannenhain mit äsendem Reh... Da hat sich der Wirt zwei windige Burschen als Maler ausgesucht, grummelt man hinter vorgehaltener Hand.
Die beiden Urheber erholen sich von ihrer Arbeit in der Schwarzwaldbahn, die sie in gemächlichem Tempo nach Basel bringt - zu Böcklin, Holbein, Leibl und wie ihre Freunde im Museum noch heißen mögen. Unvermutet kommen noch neue Freunde hinzu.
+ + +
Der Autor heißt Julius Meier-Graefe und sein Buch „Impressionisten“.
August verschlingt den Text wie einst die Erdbebenmeldungen aus dem fernen Russland. Die zugehörigen Bilder findet er im Basler Kupferstichkabinett - wenn auch nur als Photographien. Er ist elektrisiert. Die fehlenden Farben malt er sich selbst aus. Und das Licht! Das Licht! Sogar schwarzweiß flirrt es über den Ufern von Argenteuil und über sommerlichen Wiesen. Bilder, die leben, obwohl ihre Schöpfer schon alt oder tot sind. Sie nannten sich Impressionisten. Hat er davon je in Düsseldorf gehört? Vielleicht einmal am Rande? Stattdessen Gipsköpfe. Glatzköpfe.
"Wie müssen dann erst die Originale aussehen...?" sagt August, noch ganz benommen, zu Cito. Der zuckt ratlos die Schultern und kann ihm auch nicht weiter helfen.
Originale!
Die Frage lässt August nicht los. Sie bohrt in ihm, wird zur Sehnsucht und macht ihn euphorisch. Dazu die Zeilen, die Meier-Graefe über die Künstler des Lichts geschrieben hat... Die Originale; sie locken und leuchten und zerren in Farbtönen, die August nur erahnt. Er weiß, dass es nur einen Weg gibt, die quälende Ungewissheit zu beenden. Er schreibt an Lisbeth:
Weißt Du, was ich vorhabe? Nächste Woche reise ich vielleicht ganz frech nach Paris. Es braucht aber niemand zu wissen, sonst heißt es immer, er reist mehr, als er arbeitet.
Am 11. Juni besteigt er abends in Basel den Zug. Er hat dreißig Mark in der Tasche und richtet sich auf einen kurzen Aufenthalt ein - wären da nicht Andeutungen von Lisbeth gewesen... Am nächsten Morgen um halb sieben ist August am Ziel seiner Wünsche.
"Monsieur Macké?"
"Oui."
"Ich habe 300 Francs für Sie."
"Das kann nicht wahr sein."
"Pardon?"
"Äh... ce n'est pas vrai."
"Pourquoi?"
"Ja... das ist so... ich kann es noch immer nicht glauben!"
Das Gesicht des Geldbriefträgers verfinstert sich, wird streng und staatlich. Er wittert Betrug. Spionage?
"Dann sind Sie vielleicht gar nicht Monsieur Macké?"
"Doch, doch; der bin ich. Das Geld hat mich nur aus der Fassung gebracht."
Das Gesicht wird noch strenger und dienstlicher. Die ganze Autorität des französischen Staates steht August gegenüber.
"Passeport, s'il vous plait. Légitimation..."
"Moment, bitte."
August durchsucht die wenigen Habseligkeiten, die er in dem einfachen Hotelzimmer deponiert hat. Für die wenigen Tage braucht er nicht viel; nur Skizzenbücher und die notwendigsten Kleidungsstücke.
"Passeport, bitteschön."
Misstrauisch blättert der Geldbriefträger in dem Dokument und ist immer noch nicht überzeugt, den echten Monsieur Macké, dem man guten Gewissens 300 Francs anvertrauen kann, vor sich zu haben. Erst der ordnungsgemäß ausgefüllte Anmeldeschein der Pension lässt seine Zweifel schwinden. Und vollends überzeugt von Augusts Identität ist er erst, als er sich mit einem ansehnlichen Trinkgeld verabschieden kann. Die Staatsmacht und die Götter des Schicksals sind besänftigt, grollen nicht mehr; nein, sie strahlen und lächeln - Paris lächelt! - und verlassen mit "merci" und "gentil homme" und "au revoir" den immer noch verdutzten Monsieur Macké, der ungläubig auf das Bündel Banknoten in seiner Hand starrt.
Der Name des Absenders auf der Überweisungsquittung lässt seinen Verdacht zur Gewissheit werden: Bernhard Köhler, Berlin, Lisbeths Onkel, derzeit in Bonn weilend. Sie hat also nicht dicht gehalten, und dieser völlig unbekannte Onkel schickt ihm einfach so dreihundert Franc. Was sie ihm wohl über ihn erzählt hat? Gib ihm 50 Küsse! trägt er Lisbeth auf. Und weil August weiß, dass dieser Dank Bernhard Köhler nie erreichen wird, setzt er sich an den wackeligen Tisch seines Pensionszimmers und schreibt:
Paris, den 18. Juni 1907
Wie soll ich Sie anreden, Sie guter Spender dieser für mich so reichen Tage hier in Paris. Sie kennen mich nicht und die Lisbeth wird Ihnen allerlei vorgeschwärmt haben von ihrem geliebten Malersjüngling, der nach Paris geht. Ich weiß nicht, wer ich bin, dass man mir soviel Glück und Schönheit gönnt. Aber freuen kann ich mich, freuen, dass es solche Menschen gibt... Ich bin froh, dass Sie sich soviel um Lisbeth kümmern. Sie steckt so voll von einer Sehnsucht nach Schönheit... Aber ich will hier keine großen Töne reden. Ich wollte Ihnen nur danken. Ich will wieder hinausgehen in die Abendsonne auf den Champs-Elysées... Ich will dabei denken, dass vielleicht auch Sie so sehen wie ich, aber in der Sonne, die in Bonn hinter den Geleisen der Bahn untergeht, und meine gute Liesel zeigt Ihnen die Kinder, die in den Wiesen spielen.
Viele dankbare Grüße von Ihrem glücklichen
Aug. Macke
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Paris, Paris.
Wie eine Hummel im Frühling taumelt er durch die Stadt. Anfangs meidet er Metro und Omnibus, weil er kein Geld hat und nicht schwarz fahren will. Denkt er an Hans?
Seine Zurückhaltung ändert sich mit Onkel Bernhards Gunstbeweis. Kein Platz der großen Metropole ist nunmehr sicher vor August. Stundenlang sitzt er auf dem Oberdeck der Autobusse und lässt sich durch die brodelnde Stadt kutschieren. Er streift und schlendert und wandert. Er fährt. Er verharrt. Er saugt das Leben der Varietés und Boulevards in sich hinein und fühlt sich dabei wie ein trockener Schwamm. Wie ein Clochard sitzt er an den Seinebrücken und skizziert. Abends im Quartier sitzt er vor dem Spiegel und zeichnet seine leuchtenden Augen. Er schläft. Er steht wieder auf - weiter! Er treibt durch die steilen Gassen des Montmartre und ruht aus auf den Stufen von Sacré Coeur. Zu seinen Füßen versinkt Paris im Abendrot. August muss an die Sommerabende im Tannenbusch denken und an Lisbeth. Seine Sehnsucht wird überdeckt von graziösen Tänzerinnen im Chât-Noir und Moulin Rouge, von schwingenden Röcken und anmutigen Bewegungen. Und erst die Bilder... Was er im Inneren gesucht und als Vorstellung aus Basel mitgebracht hat, wird nun berauschende Wirklichkeit. Impressionisten... Leuchtzeichen... Renoir... Sisley...
Manchmal, in diesem Schwebezustand zwischen Erschöpfung und Glück, findet er Zeit für Zeilen an Lisbeth. Er legt das aufgeschlagene Skizzenbuch zur Seite und holt ein Blatt Briefpapier hervor.
Meine liebe Lisbeth!
...Ich träume den ganzen Tag, renne des Nachmittags ins Luxembourg und träume, träume mich in Farben hinein, wie sie jetzt die Rosen haben, so heiß, so glühend.... Ich bin wie neugeboren, trotzdem ich die Beine kaum noch spüre... Ich war schon im Louvre... einen Manet habe ich gesehen zwischen all den Tizians, Rubens' und van Dycks, oh, der war himmlisch. In den toten Werken alter Zeiten finde ich nicht mehr das Leben, unser Leben... Wenn ich im Louvre war und alles angesehen habe und zuletzt Rembrandt in seiner düsteren Größe, und komme ins Luxembourg zu Manet, Degas, Pissaro, Monet, dann habe ich das Gefühl, als käme ich aus einem Krater heraus in das Sonnenlicht... Ich kann Dir kaum schreiben, wie mir ist - jetzt. Ich denke oft an unsere Spaziergänge nach Messdorf, an die Blumen bei Euch, die alle so tief glühen, an Deine schwarzen Haare, an Deine Augen, ach, wenn ich die doch sehen könnte..."
Als August nach Kandern zurück fährt, sind aus acht Tagen Paris fast vier Wochen geworden.
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Rot zu grün? Gelb zu blau. Schwarz auf weiß. Grün türkis violett dunkelblau schwarz orangerot. Ocker gelbgrün gelb. Weiß gelbweiß gelborange graubraun. Farbtafeln. Farbkreise. Ein Baum im Kornfeld; violett vor leuchtendgelbem Hintergrund und leuchtendblauem Himmel.
Während August eifrig Farben kombiniert, lauscht er in sich hinein und hört ganz leise eine geheimnisvolle Melodie, die er Lisbeth im Brief verrät:
Was die Musik so rätselhaft schön macht, wirkt auch in der Malerei... In den Farben gibt es geradeso Kontrapunkt, Violon-, Bassschlüssel, Moll, Dur wie in der Musik...
Wenn August die Pferde der Hotelkutsche striegelt oder in klaren Schwarzwaldbächen Forellen fängt, sieht er anders, als er vorher gesehen hat. Paris wirkt nach. Überall, in Kornfeldern und Tanzsälen, auf Waldwegen und Wasserläufen, hört er die Pastorale der Impressionisten, den Gesang der Farben und des Lichts, das sich aus starren Formen befreit hat und sein eigenes Leben entfaltet. August fühlt Verwandtschaft...
Als freier Künstler kehrt er von Kandern nach Bonn zurück.