Читать книгу Mobilität und Kommunikation in der Moderne - Roland Wenzlhuemer - Страница 19
4. Kulturgeschichtliche Perspektiven
ОглавлениеDas Automobil bewegt nicht nur im räumlichen, sondern auch im emotionalen Sinn. Es ist Fortbewegungsmittel ebenso wie kulturelles Symbol, dessen Bedeutung zentral vom jeweiligen Interpretationskontext abhängt. Verspricht es den einen Status und Freiheit, so steht es für andere für Bequemlichkeit und Umweltzerstörung. Nicht weniger gegensätzlich ist der zeitgenössische Diskurs über das Mobiltelefon, das für manche eine vernetzungstechnische Verheißung, für andere eine schlichte Zumutung darstellt. Die Geschichte von Mobilität und Kommunikation ist geprägt von solchen Bedeutungszuweisungen und -veränderungen. Ihnen spürt die Kulturgeschichte nach.
Was Kulturgeschichte ist und wonach sie fragt, hängt zuallererst vom zugrunde liegenden Begriffsverständnis ab. In der Umgangssprache schwang im Begriff der Kultur lange Zeit fast automatisch die so genannte Hochkultur mit. Mit der Verwendung des Wortes verwies man zumeist auf künstlerische Erzeugnisse oder Aktivitäten, denen eine Gesellschaft hohe Qualität und damit große Bedeutung attestierte und die damit den Status eines Kulturgutes innehatten. Dieses enge Begriffsverständnis ist auch in der Umgangssprache mittlerweile weitgehend einem breiteren Gebrauch gewichen. Wie der britische Historiker Peter Burke festhält, sprechen wir heute in ganz alltäglichen Zusammenhängen von Kultur, etwa von „Jugendkultur“, einer „Kultur der Angst“ oder einer „Unternehmenskultur“, um nur einige seiner Beispiele zu nennen.[24] Der wissenschaftliche Gebrauch des Kulturbegriffs hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ebenfalls grundlegend erweitert. Allerdings geht hier im Zuge der so genannten „kulturellen Wende“ (cultural turn ) die Begriffserweiterung nicht in die Breite und versucht, mehr Gegenstände zu fassen. Vielmehr geht es hier um eine neue Beobachtungsweise, die sich prinzipiell auf jeden Gegenstand anwenden lässt.[25]
Die etymologischen Wurzeln des Wortes Kultur liegen im lateinischen colere bzw. im abgeleiteten Substantiv cultura. Ursprünglich bezeichnete das Verb colere das Bestellen und Bewirtschaften von Land. Diese Wortbedeutung lebt bis heute in der Rede von der Agrikultur fort. Der Begriff wurde aber bald erweitert und auch für pflegende Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft verwendet. Der Historiker Achim Landwehr nennt als Beispiele die Pflege der Wissenschaften und der Künste oder die Verehrung von Gottheiten. So entwickelte sich laut Landwehr ein engerer Kulturbegriff, der bestimmte Lebensbereiche wie etwa die Kunst, die Wissenschaft oder auch die Religion von anderen Bereichen wie der Politik, der Wirtschaft oder dem Recht abtrennte und als Kultur definierte.[26] Mit einem solchen natürlich immer wieder leicht veränderten und erweiterten Kulturbegriff hat sich auch die Geschichtswissenschaft schon früh auseinandergesetzt. Burke sieht die Anfänge einer solchen Kulturgeschichtsschreibung um 1800 und spricht zunächst von einer klassischen Phase der Kulturgeschichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert gereicht habe und von Historikern wie Jacob Burckhardt (1818–1897) oder Johan Huizinga (1872–1945) geprägt gewesen sei. Das Ziel etwa der Arbeiten von Burckhardt oder Huizinga sei es gewesen, umfassende „Porträts einer Zeit“ zu erschaffen. Eine solche Kulturgeschichte habe verschiedenste künstlerische Ausdrucksformen in Verbindung gebracht und so den spezifischen Geist einer Epoche spürbar machen wollen. Burke sieht eine zweite Phase kulturgeschichtlichen Arbeitens in einer „Sozialgeschichte der Kunst“, die für ihn um 1930 beginnt. Hier sei es vor allem um das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft gegangen, also beispielsweise um die Frage, ob sich gesellschaftliche Entwicklungen in kulturellen Erzeugnissen spiegeln. In einer dritten Phase habe nach Burke eine Wendung hin zur populären Kultur stattgefunden. Die Kulturgeschichte habe nun vermehrt der Bedeutung der so genannten Volkskultur in historischen Entwicklungen nachgespürt. Burke nennt die britischen Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), der unter einem Pseudonym im Jahr 1959 eine Studie zur Jazzmusik und ihrer soziopolitischen Bedeutung vorlegte,[27] und Edward P. Thompson (1924–1993) mit seinem berühmten Buch zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse[28] als wichtige Vertreter.[29] Während der Kulturbegriff in diesen drei groben Phasen immer wieder unterschiedlich interpretiert und erweitert wurde, blieb er aber immer auf bestimmte Lebensbereiche gerichtet.
Eine vierte Phase stellt für Peter Burke die so genannte Neue Kulturgeschichte dar, die hinsichtlich ihrer bevorzugten Gegenstände mitunter auf die genannten Vorarbeiten aufsetzt, deren Kern aber eigentlich in einer neuen Sichtweise auf ihren Forschungsgegenstand besteht. Diese Form der Kulturgeschichte, die viele heutige Forschungsansätze informiert, hat ihre wesentlichen Impulse aus der so genannten „linguistischen“ (linguistic turn ) und der darauffolgenden „kulturellen Wende“ (cultural turn ), die im Prinzip eine Erweiterung ersterer darstellt, erhalten. Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben sich Wissenschaftler in den verschiedensten Fachgebieten mit der Frage beschäftigt, wie Sprache unser Bild von der Welt bestimmt und letztlich den Menschen definiert. Solche vom Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951), dem Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) und vielen anderen formulierten Gedanken verfestigten sich schließlich zur größeren These, dass eine Realität außerhalb der Sprache schlicht nicht vorstellbar und damit auch nicht zu erforschen ist. Im Zuge des cultural turn wurde diese These von der Sprache auf jede Art von Bedeutungszuschreibung ausgeweitet. Eine von solchen kulturellen Zuschreibungen losgelöste Realität, falls es sie überhaupt gäbe, wäre aus dieser Sicht weder für den Menschen im alltäglichen Leben noch für die Wissenschaft erschließbar. Sinnstiftung und damit auch Lebensrealitäten entstünden durch Bedeutungszuschreibung. Damit wandelte sich auch die Reichweite des Kulturbegriffs. So wie sich Ethnologie und Anthropologie zu Leitwissenschaften entwickelten, so wurde eine Definition des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1926–2006) für das neue Verständnis von Kultur prägend. Nach einem berühmt gewordenen Satz von Geertz sei Kultur ein Bedeutungsgewebe, das der Mensch selbst gesponnen habe.[30]
Aus diesen Einsichten, die heute in den Geisteswissenschaften zumindest in ihren Kernannahmen weitgehend konsensfähig sind, ergeben sich für die Kulturgeschichte weitreichende Konsequenzen. Achim Landwehr sieht nach der Erweiterung des landwirtschaftlichen Referenzrahmens auf andere Lebensbereiche eine „abermalige Übertragungsleistung“ und eine Weitung des Kulturbegriffs, der nun nicht mehr einen bestimmten Lebensbereich, sondern „das Ganze menschlichen Lebens“ umfasst. In Landwehrs Worten eröffnet Kultur „damit keine Sektoral-, sondern eine Totalperspektive, es ist kein Teil-, sondern ein Integrationsbegriff.“[31] Will die Geschichte menschliches Handeln in der Welt erklären und verstehen, so muss sie aus kulturgeschichtlicher Warte das vom Menschen selbst gesponnene Bedeutungsgewebe betrachten oder – in einer gemäßigteren Variante – zumindest mitbetrachten. Kultur ist aus dieser Sicht eben kein von Politik und Gesellschaft trennbarer Teilbereich menschlichen Tuns, sondern die Grundlage jeder Weltbeschreibung. Demnach ist die Kulturgeschichte auch keine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, sondern hat den Anspruch, die Historiografie insgesamt auf eine andere Grundlage zu stellen.[32]
Ute Daniel verzichtet in ihrem eloquenten „Kompendium Kulturgeschichte“ konsequent auf eine Definition von Kultur und Kulturgeschichte. Sie schreibt: „Kultur(geschichte) definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs, trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur(geschichte) ist und was nicht. Ich kann mir jedoch keinen Gegenstand vorstellen, der nicht kulturgeschichtlich analysierbar wäre.“[33] Das schließt auch den Gegenstand der Mobilität (unter expliziter Einbeziehung der Kommunikation) ein, mit dem sich die Kulturgeschichte lange und intensiv beschäftigt hat. Dieses Interesse an der Bewegung von Menschen, Waren und Informationen ist auch deshalb nicht überraschend, da die Kulturgeschichte zumindest auf zwei unterschiedlichen Ebenen enge Bezüge zum Thema unterhält. Da ist einmal ihr oben skizziertes Interesse an der Bedeutung, die Menschen verschiedenen Elementen der Wirklichkeit, zu der auch die Mobilität und ihre Mittel gehören, geben. Aus dieser Sicht geht es in einer kulturhistorischen Betrachtung von Verkehr und Kommunikation zum Beispiel um die Wahrnehmung und Darstellung des Unterwegs-Seins oder von Transporttechnologien in einer Gesellschaft. Wie wurden mobile Menschen gesehen? Welche Attribute schrieb man ihnen zu? Wie wurden Technologien wie die Eisenbahn oder das Dampfschiff zu Symbolen von Fortschritt oder Völkerverständigung? Diese etwas vereinfachten Fragestellungen verweisen auf oft verfolgte kulturhistorische Erkenntnisinteressen im Bereich der Mobilität.
Darüber hinaus gibt es noch eine andere Ebene, auf der Mobilität aus kulturhistorischer Sicht hochrelevant ist. Gemeint ist die Frage, wie die Bewegung von Menschen, Waren und Informationen sich selbst auf Prozesse der Bedeutungszuschreibung und Sinnstiftung, die grundlegend auf Austausch und Kommunikation basieren, auswirkt. Wie also verändert die Tatsache, dass Menschen reisen, Waren ausgetauscht und Informationen übermittelt werden, die Bedeutungen, die bestimmte Erscheinungen in bestimmten Kulturen haben? Auch auf dieser Ebene kann man zumindest zwei unterschiedliche Fragenkomplexe erkennen. Einer dreht sich um Bedeutungsveränderungen, die im Wesentlichen aus Kulturkontakt resultieren, der wiederum durch Mobilität entsteht. Eine solche transkulturelle Perspektive will demnach wissen, wie sich unterschiedliche Bedeutungsgewebe im Kontakt miteinander verändern und neue Bedeutungen hervorbringen. Hier ist in vielerlei Hinsicht eine große Nähe zu globalgeschichtlichen Erkenntnisinteressen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden, gegeben. Ein zweiter Fragenkomplex interessiert sich aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive dafür, wie die Bewegung bzw. die Kommunikation über bestimmte Mittel sich auf die Erzeugung von Bedeutung auswirkt, also wie bestimmte Eigenschaften eines Mediums sich kulturell niederschlagen. Ein Beispiel kann die Kommunikation per Telegraf sein, die aufgrund technosozialer Bedingungen kurze, prägnante Inhalte privilegierte und sich so natürlich auf die Wahrnehmungen der Korrespondenten auswirkte.
Die Kulturgeschichte blickt also mit vielen ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen auf Mobilität und Kommunikation. Ein exzellentes Beispiel für den frischen Blick der Kulturgeschichte auf das Transportwesen findet sich in Wolfgang Schivelbuschs Studie zur „Geschichte der Eisenbahnreise“, die erstmal 1977 veröffentlich wurde. Es ist kein Zufall, dass Schivelbusch im Titel seines schnell berühmt gewordenen Buches nicht von der Eisenbahn, sondern von der Reise mit selbiger spricht. Er spürt in seiner Untersuchung der neuen Reiseerfahrung nach, den durch diese Art der Fortbewegung veränderten Wahrnehmungen von Raum und Zeit. Schivelbusch zeigt in eindrucksvollen Formulierungen, wie sich der Blick des Reisenden aus der Bahn heraus auf die Landschaft wandelte. Er nennt dies mit dem der Kulturgeschichte eigenen Hang zum Prägen neuer Begriffe „panoramatisches Reisen“. Er untersucht aber auch wie die Eisenbahn zum Symbol und Inbegriff schnellen, bequemen und sicheren Reisens wurde – und wie diese Bedeutungszuschreibung durch Unfälle und Katastrophen kontrastiert wurde. Die mittlerweile mehr als vierzig Jahre alte Studie ist hervorragend gealtert und zieht mit ihren grundlegenden Fragen und ihrer fesselnden Prosa bis heute Leser in ihren Bann.[34]
Die Eisenbahn als Transportmittel spielt auch in Hartmut Rosas „Beschleunigung“ eine indirekte Rolle – als Symbol, als Verkörperung der „großen Beschleunigung“[35] in der Moderne. Der Soziologe Rosa hat mit seiner 2005 erschienenen Habilitationsschrift eine auch geschichtswissenschaftlich hochrelevante Arbeit vorgelegt, die – wie der Untertitel besagt – den Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne nachspürt. Die neuen technischen Bedingungen von Transport und Kommunikation sowie die sich verändernden Mobilitätspraktiken bilden in ihrem Zusammenspiel die Grundlage für das von Rosa untersuchte Phänomen der sozialen Beschleunigung. Weder die Kulturgeschichte noch die Mobilität stehen begrifflich im Vordergrund und doch durchziehen sie wie ein roter Faden das eigentlich soziologische Gewebe dieser lesenswerten Studie.[36]
Bernhard Rieger und Dagmar Bellmann beschäftigen sich in ihren jeweiligen Arbeiten wiederum mit dem Dampfschiff als zentralem Symbol der Moderne und den verschiedenen Funktionen und Erwartungen, die mit ihm verbunden waren. Rieger thematisiert in „Technology and Culture of Modernity in Britain and Germany 1890–1945“ mehrere symbolträchtige Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, darunter eben auch die „schwimmenden Paläste“. Er fragt dabei vor allem danach, wie immer größere und prächtiger ausgestattete Dampfer zu „modernen Wundern“, zu Symbolen des Fortschritts, aber auch nationalen Stolzes wurden.[37] Bellmann nimmt den Topos der schwimmenden Paläste im Titel ihres Buches auf, fügt aber noch den Gegenbegriff des Höllengefährts hinzu. Sie konstatiert am Beispiel der Atlantiküberquerungen in ihrem Beobachtungszeitraum einen Wandel in der Wahrnehmung der Dampfschifffahrt von etwas Unbequemen und Gefährlichem zu etwas Luxuriösem, Sicherem.[38]
Schon anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, welche wertvollen neuen Sichtweisen und Blickwinkel die jüngere Kulturgeschichte einer traditionell eher technik- und wirtschaftshistorisch inspirierten Beschäftigung mit Mobilität eröffnet haben. Die Globalgeschichte wiederum baut auf vielen kulturgeschichtlichen Erkenntnissen, zum Beispiel im Bereich der transkulturellen Geschichte[39], auf und stellt entsprechend abgewandelte Fragen an den Gegenstand.